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Jürg Padrutt, 1936

Von Chur nach Decatur, Illinois

«MIT TOURISTENVISUM EINGEREIST, GELANG ES MIR, EINE FARM ZU KAUFEN.»

Er ist ein «Heimwehbub» gewesen. Nur bei der Nana, der Grossmutter in Maienfeld, hat er es für ein paar Tage fern vom heimischen Bauernhof in Chur ausgehalten. Nun schaut Jürg Padrutt auf mehr als ein halbes Leben in Amerika zurück. Der Ackerbauer hat sich Mitte der Sechzigerjahre mit einer eigenen Farm seinen Lebenstraum erfüllt. Die Auswanderung war ein Abenteuer, aber mit Risikobereitschaft, harter Arbeit und Glück – und dank einer grossen Liebe – wurde für die Padrutts auf der «Saluferfarm» in Decatur, Illinois, Ungeahntes möglich. Das Heimweh gehört längst der Vergangenheit an, aber von sich zu erzählen, ist für den ruhigen und introvertierten Bündner ein Krampf und schwieriger als Traktorfahren. Zum Glück unterstützt ihn Margrit, seine Frau.

«Swiss Banker became American Farmer.» Die grosse Schlagzeile, die 1966 die Titelseite der lokalen Zeitung von Decatur zierte, wirbelte Staub auf. Ich weiss, einer unserer Nachbarn, mit dem wir später gut Freund wurden, spöttelte damals: «Nimmt uns Wunder, wie lange der Swiss Boy das hier macht!» Aber die Farmer in der Gegend merkten bald, dass ich lernwillig war und Einsatz zeigte, dass ich es ernst meinte. Ich bin viel mehr Bauer als Banker. Aber das Handelsdiplom im Sack, samt Praktikum auf der Graubündner Kantonalbank, war damals kein schlechtes Sprungbrett.

Gritli und ich – wir haben es geschafft hier drüben in Amerika. Mit viel Arbeit – hard work. Weil wir zusammengehalten und uns unterstützt haben. Sonst wäre es auf unserer Farm nicht gegangen. Ich foppe Gritli gern, «du warst der beste Knecht, den ich mir vorstellen kann!» Sie ist ein echter Partner, ganz klar. Dabei hatten es sich weder Gritli noch ich vorstellen können, jemals die Bündner Bergwelt, das Daheim in Chur zu verlassen und hier, Tausende von Kilometern entfernt zu leben. Hier, wo alles flach ist, wo es weit und breit keinen Hügel gibt!

Ich wurde am 7. Januar 1936 in Chur als Ältester der Bauernfamilie Padrutt geboren. Mein Bruder Oswald ist zweieinhalb Jahre und meine Schwester Meili neun Jahre jünger als ich. Schon mein Grossvater und später mein Vater betrieben auf dem «Saluferhof» Viehwirtschaft und Ackerbau – sie bauten Weizen, Gerste, Zuckerrüben und Kartoffeln an und pflegten daneben rund zweihundert Kirsch-, Äpfel- und Birnbäume. Mein Vater war ein Viehnarr, ein Viehexperte auch. In unserem Stall standen immer fünfzehn bis zwanzig Kühe und Rinder.

Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber wir Jungen mussten auf dem Hof zünftig anpacken, während der Schulzeit und auch in den Ferien. Das machte mir nichts aus. So konnte ich daheim bleiben und musste nicht in die verhasste Ferienkolonie auf die Lenzerheide, wo ich «öppis grusigs» an Heimweh litt. Höchstens auf dem Bauernhof meiner Grossmutter in Maienfeld fühlte ich mich noch wohl. Und am liebsten war ich sowieso draussen auf unseren Feldern. Glücklicherweise drängte mich mein Vater nie, den Bauernbetrieb zu übernehmen. Er kannte meine Abneigung gegen das Vieh. Es ist für mich einfacher, Maissorten statt Kühe voneinander zu unterscheiden. Wenn ich mit dem Vater die Rinder auf die Churer Alpen bei Arosa treiben musste, hatte ich immer das Gefühl, Tiere zu verlieren – auf dem Rastplatz in Tschiertschen etwa, wo viele der Viehtreiber jeweils einen Halt machten. Wenn ich konnte, drückte ich mich vor den zehnstündigen Fussmärschen.


Auf dem Saluferhof in Chur.

Es erstaunt nicht, dass mich die Eltern nach der obligatorischen Schulzeit an die Handelsschule in Chur schickten – Berufspläne hatte ich keine. Und was ich mit dem Handelsdiplom anfangen sollte, wusste ich später auch nicht. Ein Bankenpraktikum war die einfachste Lösung. Meist war ich in den folgenden Jahren abwechslungsweise bei der Graubündner Kantonalbank oder im Militärdienst: Kavallerie-Rekrutenschule und Unteroffiziersschule in Aarau, dann die Offiziersschule in Thun, zwischendurch Abverdienen und WKS. Etliche Diensttage habe ich mit meinen Pferden, den Eidgenossen «Donax», «Curassier» und «Windsor» geleistet!

Mehr und mehr zog es mich aber in die Landwirtschaft. Um mehr Sicherheit im Alltag auf dem Bauernhof zu bekommen, belegte ich zwei Winterkurse an der landwirtschaftlichen Schule in Wülflingen. Eine kluge Entscheidung für meine Zukunft, wie sich bald herausstellen sollte.

Von einem Tag auf den anderen sah meine bisher unbeschwerte Welt völlig anders aus. 1961 starb mein Vater an einem Herzleiden. Er fühlte sich kerngesund und war plötzlich tot. Am Mittagstisch erlitt er einen Herzanfall und starb an dessen Folgen wenige Stunden später im Spital. Für mich gab es von Stund an nichts anderes, als zusammen mit meiner Mutter den Hof weiterzuführen. Mein Bruder Oswald war im Studium zum Tierarzt und meine kleine Schwester Meili besuchte das Gymnasium in Chur.


Mit Vater Georg.

Dass Meilis Highschool-Jahr in Amerika auch mein Leben von Grund auf verändern würde, ahnte 1964 niemand. Ein Austauschjahr in den USA war damals für ein Mädchen aus Chur doch eher ungewöhnlich. Aus Illinois schrieb sie ausführliche Briefe heim und meinte, sie könne sich gut vorstellen, dass es mir auf der Farm ihrer neuen Familie gefallen würde. Sie wusste, dass mich die Viehwirtschaft nicht glücklich machte. Mama und ich besuchten Meili 1965 auf dem Hof der Familie Friends in Warrensburg, Illinois. Meine Begeisterung war riesig, die weiten Felder und die weitgehende Mechanisierung zogen mich völlig in den Bann. Wie eng und kleinräumig kam mir alles vor, als ich drei Wochen später zuhause vor einem Haufen abgesägter Obstbaumäste stand und «Bündeli» machte! Amerika, das war eine faszinierende Welt!

Ob ich nicht für eine Saison rüber kommen wolle, als Schnupperlehrling auf ihre Mais- und Sojabohnenfarm, liessen mich die Friends wissen. Was für ein Angebot! Das liess ich mir nicht zweimal sagen. Mutter hatte inzwischen einen guten Knecht und eine Magd, und ich sagte zu. In kurzer Zeit lernte ich die lokalen Anbaumethoden kennen, passte mich dem Lebensstil der Farmer an und fühlte mich wohl und heimisch.

Ende des Jahres bekam ich unerwartet die Chance, eine Farm, zehn Meilen von den Friends entfernt, zu erwerben. Eine Erbengemeinschaft wollte den 133 Hektar grossen Landwirtschaftsbetrieb verkaufen; er war in schlechtem Zustand, die Felder mit Unkraut überwuchert. Ich sah schnell, wenn ich den Boden richtig bearbeiten würde, liesse sich etwas erreichen. Die Böden sind hier sehr gut und fruchtbar, und ich wusste noch von der Kantonsschulzeit her, dass Illinois im Maisgürtel Amerikas liegt. Als Ausländer, damals nur mit Touristenvisum eingereist, gelang es mir tatsächlich, die Farm im Herbst 1965 zu kaufen. Unglaublich!

Ich spürte, hier in Amerika würde ich mein Leben nach meinem Gusto aufbauen können. Und es war mir klar, ein derart grosses Stück Land hätte ich mir in der Schweiz nie und nimmer leisten können. Die Friends machten ihrem Namen alle Ehre, sie waren wirkliche Freunde. Bei ihnen lernte ich von der Pike auf, worauf ich beim Saatgutkauf zu achten hatte, welche Maissorten früh-, welche mittel- und welche spätwüchsig sind, und wie die Felder zu pflegen waren. Für mich war alles ein grosser Schritt damals. Das merkte ich aber erst später. Meine jugendliche Abenteuerlust und meine Unbekümmertheit waren riesig. Und ich dachte mir, wenn es mir nicht gefällt, so verkaufe ich die Farm eben wieder. Im Herbst, bevor ich heim in die Schweiz flog, ackerte ich mein neues Gelände zum ersten Mal um. Ich hatte kein Vieh zu versorgen, die Felder lagen brach und so konnte ich bis im Frühling für drei Monate in die Schweiz reisen.

Trotz Spass an der Arbeit, trotz meiner grossen Begeisterung für Amerika fühlte ich mich irgendwie einsam. Ein «Gschpane», eine Frau und Partnerin fehlte mir. Und da war ja in der Schweiz noch diese junge Frau, die einen Kilometer von mir entfernt in Chur auf einem Bauernhof aufgewachsen war: Gritli (Margrit) Casal. Sechs Jahre jünger als ich, kannte ich sie seit Kindsbeinen. Unsere Freundschaft begann ursprünglich mit meiner Einladung zu einem Ball des Kantonsschul-Turnvereins und wir gingen anschliessend fünf Jahre lang miteinander aus. Als ich nach Amerika reiste, flog Gritli als Aupair nach England. Unsere Wege trennten sich, wir blieben in Briefkontakt.

Als ich ihr aber eines Tages aus den Staaten schrieb, ich hätte eine Farm gekauft und plante, in Amerika zu bleiben, war das für Gritli ein Schlag. Unsere Freundschaft ging auseinander – Amerika war für Gritli kein Thema. Ein Jahr herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Ich erinnere mich gut, dass mir Gritli auswich, als ich an Weihnachten 1965 nach Chur heimkehrte. Sie machte extra einen Umweg, um mir nicht begegnen zu müssen. Gegen Ende der Ferien fuhr ich eines Tages mit dem Traktor in Richtung Masans und sah meine alte Freundin zufälligerweise an der Bushaltestelle warten. Ich sehe sie noch vor mir: Wie angewurzelt, völlig perplex stand sie da. Mit mir hatte sie absolut nicht gerechnet. Ich stellte den Motor ab, stieg zu ihr runter und lud sie unbeschwert für den nächsten Abend ein. Wir müssten zusammen reden, sagte ich ihr. Und so begann sie, unsere grosse Love Story. Ich wusste: Gritli oder keine! Wir hatten wunderbare Tage zusammen, bis ich allein und schweren Herzens im März 1966 nach Amerika zurückreiste.

Im Flugzeug über dem Atlantik schrieb ich Gritli, ich wolle nie mehr ohne sie zurück in die neue Heimat reisen. Tränen kullerten mir dabei über die Wangen. Ich weiss noch, der Herr neben mir schaute mich völlig entsetzt an. Gritli war hin und her gerissen: Sie liebte mich, konnte es sich aber nicht vorstellen, die Berge, das Daheim und ihre Eltern in Chur zu verlassen. Sie musste sich entscheiden – denn ich würde definitiv in Amerika bleiben wollen. In jenem Sommer telefonierten wir nur ein einziges Mal und konnten vor Aufregung beide kaum sprechen. Rückblickend muss ich sagen: Es war verrückt von mir, aufs Geratewohl einen Hof zu kaufen. Ich weiss, auch wenn es nicht so gelaufen wäre, wie ich es mir wünschte: Zurückkehren in die Schweiz – das hätte viel gebraucht. Das hätte mein Stolz wohl kaum zugegeben.

Der Sommer wollte und wollte nicht enden – plötzlich waren die Tage unheimlich lang. Bei Gritli wuchs der Entschluss langsam, bis sie schrieb: «Ja, ich bin bereit, dir zu folgen!» Wir begannen, trotz grosser räumlicher Distanz, Hochzeitspläne zu schmieden … obwohl Gritli keine Ahnung hatte, wohin der Weg sie führte. Die Friends luden sie ein, sich vor Ort ein Bild von ihrer neuen Heimat zu machen. Aber meine Geliebte sparte das Geld lieber für die Aussteuer und das Hochzeitskleid. Ich schrieb ihr lange Liebesbriefe und fragte sie, in welchem Farbton sie denn die Zimmer im Haus gestrichen haben möchte. Bald kaufte ich kübelweise Farbe in Offwhite und strich die Wände.

Wenn Gritli Nein gesagt hätte? Es wäre für mich sehr schwer gewesen, aber ich hätte es akzeptieren müssen. Ich wusste, Gritli gab viel auf. Sie war stark mit ihren Eltern verbunden und hatte einen guten Job in Chur. Es ist für uns beide heute noch sehr emotional und nicht leicht darüber zu sprechen, wenn wir an diese schwierige Zeit zurückdenken. Wir hatten beide so Sehnsucht nacheinander.

Dann ging alles sehr schnell: Bei Gritlis Eltern bat ich an Weihnachten 1966 um die Hand ihrer Tochter, an Silvester verlobten wir uns und am 4. März 1967 heirateten wir in Chur. Die Zeit drängte. Ich musste zurück für die Mais-Aussaat. Auf unserer Hochzeitsreise schifften wir uns in Genua auf der «Michelangelo» ein. Mit an Bord die zwei grossen Kisten mit Gritlis Aussteuer – feinste Leinenwäsche und ein Service mit Goldrand. Aber die Schiffsbesatzung streikte, und erst Tage später fuhren wir westwärts. Über dem Atlantik gerieten wir in einen andauernden fürchterlichen Sturm. Die Überfahrt war grauenhaft. Wir waren beide seekrank, bis wir die Freiheitsstatue im Hafen von New York und endlich Land erblickten. Die Qual war bald vergessen, und nach einem kurzen Abstecher nach Manhattan, flogen wir via Chicago nach Decatur. Durch den Streik kamen wir reichlich spät dort an, und ich war im Rückstand mit der Feldarbeit.

Am ersten Tag fuhr ich mit Gritli kurz in die nahegelegene Stadt, zeigte ihr, wo was war – und dann sass ich tagelang nur noch auf dem Traktor. Sie wurde ins kalte Wasser geworfen und musste sich überall alleine zurechtfinden. Aber sie machte es prima. Ich war so stolz auf meine junge Frau. Für mich war «high season». Innert weniger Tage mussten die Felder angesät werden. Gritli liess sich einspannen. Wir waren nun 24 Stunden am Tag zusammen, arbeiteten Hand in Hand, und es ging wunderbar. Oft waren wir schon frühmorgens auf dem Feld und arbeiteten, bis es eindunkelte. Das ist alles andere als selbstverständlich, und ich bin Gritli noch heute sehr dankbar für ihre grosse Hilfe. Bei der ersten gemeinsamen Ernte, im Winter 1967, waren wir an Weihnachten noch dran. Der Herbst war nass, der Boden teilweise unbefahrbar. Am Weihnachtstag droschen wir, und unter den Maiskörnern auf dem Lastwagen glitzerten feine Eiskristalle. Die Trocknungsspesen waren entsprechend saftig!


Jürg und Gritli auf den Traktoren, 1967.

Wir Farmer sind total vom Wetter abhängig. Man versucht das Beste, mit Bodenproben, tüftelt aus, welches das beste Saatgut, die ideale Unkraut- und Schädlingsbekämpfung ist – aber auf das Wetter haben wir keinen Einfluss. Das war für mich am Anfang eine grosse und unbekannte Belastung. Wohl hatten wir ein Darlehen von der Graubündner Kantonalbank und gaben den Hof daheim als Sicherheit. Aber sicher waren wir uns nicht, ob wir es schaffen würden. Ich sagte mir immer wieder: einfach nicht die Nerven verlieren! Auf Regen kann man nur hoffen. So wie dieses Jahr, wo seit Monaten Dürre herrscht, oder wie 1988, als es den ganzen Sommer lang kaum einen Tropfen Regen gab, und wir nur noch hoffen und beten konnten! Wasser ist das Wichtigste für die Maiskulturen – und wenn es nicht regnet, nützt alles nichts – «no rain, no grain!»

Seit jenem ersten Frühling haben wir zusammen über fünfunddreissig Jahre lang gemeinsam die Farm bewirtschaftet. Sie hat «traktörlet» und ist Lastwagen gefahren, ich habe gesät und geerntet – stunden- und tagelang. Zu Beginn hatten wir 133 Hektar, später bis 304 Hektar Ackerland, und immer nur zu zweit bewirtschaftet – gut mechanisiert, aber ohne Angestellte. Die ersten dreizehn Jahre bauten wir auf unseren Feldern ausschliesslich Mais an. Bis wir uns wegen besserer Arbeitsverteilung und der Fruchtfolge entschlossen, Sojabohnen dazu zu nehmen. In einem grossen Umkreis bauen hier alle Mais und Soja an. Mais verkauft sich sehr gut; der Grossteil geht an die Tierfütterung, ein Teil wird Treibstoff – Ethanol –, und der Rest geht in den Export oder wird Fructosesirup. In unserer Nähe steht eine der grössten Fabriken zur Herstellung von Ethanol –, die Archer Daniel Midland Company (ADM). Mit Erträgen von ungefähr 1400 Tonnen haben wir angefangen, heute produzieren wir rund 5580 Tonnen Futtermais und circa 1060 Tonnen Sojabohnen im Jahr.

Schweizer Landsleute wohnen keine in unmittelbarer Nähe, und einen Schweizer Club gibt es in der Gegend auch nicht. Unsere Schweizer Freunde leben in Peoria, rund anderthalb Stunden von hier. Verlassen fühlen wir uns hier draussen auf der Farm nicht. Wir haben ja Nachbarn, die sind auch Bauern. Wir Farmer haben untereinander ein sehr kollegiales Verhältnis. Man unterstützt und hilft sich. So war es auch, als ich Anfang der Achtzigerjahre einen Unfall hatte: ein Stück vom Mittelfinger geriet in den Maisdrescher. Wir brauchten sofort Hilfe. Gritli fuhr mich zur Ambulanzstelle, und die Nachbarn brachten besorgt die Maschinen unter Dach, weil Regen im Anzug war. Auch wenn jemand stirbt, stehen alle Farmer zusammen und helfen den Hinterbliebenen. Nachbarschaftshilfe wird hier grossgeschrieben. Wir sind wirklich aufeinander angewiesen.

Unsere Familie vergrösserte sich, und wir waren überglücklich. Am 22. Juli 1969 kam unser Sohn Marc auf die Welt. Wenn wir draussen zu tun hatten, spielte der Bub im Laufgitter oder bei uns auf dem Feld. Im Oktober 1972 wurde uns Tochter Flavia geschenkt. Es lief recht knapp bei der Geburt. Gritli hatte während der Schwangerschaft bis am Tag vor der Niederkunft draussen voll mitgearbeitet, und als die ersten Wehen im Anzug waren, sah es am Himmel nach Regen aus. Ich musste unbedingt noch aufs Silo raufklettern und alles dicht machen, bevor wir ins Auto steigen konnten. Glücklicherweise reichte es noch ins Spital von Decatur.

Wir waren eine glückliche, kleine Familie, und weil wir weit draussen wohnen, wurden unsere beiden Kinder bald mit dem gelben Schulbus auf der Farm abgeholt. Im Winter gab es auf der Farm wenig zu tun, wir reisten in die Schweiz, ich arbeitete jeweils zwei, drei Monate im Büro bei der Graubündner Kantonalbank in Chur, und wir lebten bei unseren Eltern. Marc besuchte in Chur während eines Winters sogar den Kindergarten und spricht heute noch einen schönen Churerdialekt. Später studierte er in Bloomington-Normal International Business & Marketing und lebte einige Jahre in Chur und Bonaduz. Während seines Schweiz-Aufenthalts lernte er seine Frau Loes van Gent, eine holländische Physiotherapeutin, kennen. Marc und Loes haben drei Mädchen, Fiona, Hannah und Annika. Unsere Tochter Flavia wurde Krankenschwester und heiratete einen Polizisten, Andrew Pistorius. Die beiden haben einen Sohn, Blake, und leben nur eine knappe Stunde südlich von uns entfernt.

Gritli und ich haben uns vor einigen Jahren auf dem «höchsten» Punkt der Farm ein «Stöckli» gebaut. Wir haben das Land etwas aufgeschüttet, sodass wir vom Küchenfenster aus über die Maisfelder hinweg den Hof im Auge haben. Marc übernahm die Farm vor zehn Jahren und bewirtschaftet heute 1760 acres (712 Hektaren). Ich bin im Ruhestand, aber im Frühling und Herbst, wenn meine Hilfe gefragt ist, springe ich natürlich jederzeit gerne ein. Das ist mir sehr wichtig. Wir können den ganzen Ertrag einer Ernte auf dem Hof trocknen und lagern. Unsere Schwiegertochter fängt jetzt auch mit Traktorfahren an – kein einfaches Unterfangen mit den grossen Maschinen. Viele Arbeitsgänge sind computergesteuert. Heutzutage kann man sogar im Dunkeln ansäen – mit GPS.

Aber die Natur ist immer noch unberechenbar – heute wie vor vierzig Jahren. Ich frage mich manchmal, warum wir Erfolg hatten. Ich glaube, es war ein Stück weit mein Ehrgeiz. Ich wollte beweisen, dass ich im Stande bin, ein guter amerikanischer Farmer zu sein. Das spornte mich an.

Ich würde jederzeit wieder auswandern – aber nur mit Gritli. Wir sind beide amerikanische Staatsbürger; mit der Schweiz sind wir noch sehr verbunden, besuchen unsere alte Heimat jedes Jahr für mindestens drei Wochen und haben in Chur eine Wohnung. Mit Abonnements der «Schweizer Illustrierten» und der Wochenausgabe des «Tages-Anzeigers» sowie per Internet erfahren wir die Neuigkeiten in der alten Heimat. Aber wir fühlen uns sehr als Amerikaner.

Übers Altwerden machen wir uns schon Gedanken. Wir hoffen natürlich, dass wir nicht in ein Heim müssen. Wir möchten so lange wie möglich zusammenbleiben und unsere Familie geniessen. Seit unserer Hochzeit haben Gritli und ich nur wenige Tage getrennt verbracht. Vielleicht unternehmen wir noch ein paar Reisen: Alaska wäre ein Traum, oder Brasilien und Argentinien, um zu schauen, wie sie dort die Felder bestellen. Auch europäische Städte wären eine Reise wert. Aber eben: Während der Ansaat und der Ernte möchte ich immer wieder daheim sein – Mais und Sojabohnen sind ein Teil von mir geworden.

Nach Amerika

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