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Heinz Bachmann, 1933

Von Neuhausen am Rheinfall nach Comus, Maryland

«AMERIKA WAR DAMALS FÜR VIELE SCHWEIZER EIN TRAUM.»

Auswandern wollte er eigentlich nicht, und doch lebt Heinz Bachmann seit fast fünfzig Jahren in den USA. Von seinem Wohnzimmer in Comus blickt er auf den Sugarloaf. Schon Christoph von Graffenried, der Schweizer Amerika-Pionier und Gründer von New Berne, zog 1712 auf seinem Rückweg nordwärts durch diesen Landstrich im Montgomery County, Maryland, und beschrieb den Berg in seinen Memoiren. Heinz Bachmann und seine Frau Ilse leben hier auf ihrer Farm, vierzig Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Washington D. C. Das nächste Einkaufszentrum, und damit Zivilisation und Zahnarzt, sind zwanzig Autofahrminuten entfernt.

Auswandern war für mich eigentlich nie ein Thema. Die Weltbank war es, die mich nach Amerika führte. Wir zogen vor 46 Jahren mit der Absicht nach Washington, drei, vier Jahre zu bleiben, um praktische Erfahrung zu sammeln. Wir kamen nicht als Auswanderer, sondern mit internationalem Beamtenstatus und UNO-Pass.

Über Amerika hatte ich daheim als Kind gehört; nicht viel zwar, aber auf den Fotos sahen meine Eltern als Paar in New York sehr glücklich aus: Vater wollte nach seinem Ökonomiestudium in Oxford in die USA; im Juli 1922 reiste er mit dem Schiff nach New York, landete in Ellis Island und fuhr mit dem Zug nach Connecticut weiter. Damals war es für einen Mann einfach, auszuwandern; Mutter folgte ihm im Januar 1923 nach. Vater hatte sie während der Schulzeit an der Kantonsschule in Frauenfeld kennengelernt. Sie gehörte zu den ersten Mädchen, die in Frauenfeld die Matura gemacht hatten. Eigentlich wollte sie Medizin studieren. Aber als Kind einer Scheidungsfamilie mit strenger Stiefmutter wurde ihr das verwehrt. Stattdessen folgte sie ihrer grossen Jugendliebe nach New York, wurde aber auf Ellis Island unerwartet gestoppt. Es hiess, eine kaum zwanzigjährige, alleinstehende Frau dürfe nicht ohne männliche Begleitung einreisen. Eine Heirat war für sie der einzige Ausweg, amerikanischen Boden zu betreten. Mein Vater holte seine Braut am Hafen ab und schon am 18. Januar 1923 heirateten die beiden in New York. Obwohl anders geplant, blieben sie nicht lange in den USA. Aus der Schweiz kam nach wenigen Monaten die Depesche, Grossvater Bachmann, der Unternehmer in Frauenfeld, sei schwer krank. Grossmutter hatte Panik und wollte, dass ihr Ältester sofort heimkehre. Meine Eltern hatten wenig Lust, ihre Koffer schon wieder zu packen und das faszinierende Land Amerika zu verlassen. Sie nahmen das langsamstmögliche Schiff nach Europa, fuhren durchs ganze Mittelmeer runter bis nach Konstantinopel und kehrten schliesslich über den Balkan in die Schweiz zurück. Im Sommer 1924 waren sie retour, und Grossvater starb kurz darauf. Dass meine Eltern unter anderen Umständen definitiv in den USA geblieben wären, glaube ich allerdings nicht. Vater wollte als Nationalökonom Auslanderfahrungen sammeln – und Amerika bot ihm diese Chance.

Vater bekam bald nach seiner Rückkehr den Posten als Leiter des Sekretariats der Generaldirektion bei der AIAG, einer international tätigen Aluminiumfabrik in Neuhausen am Rheinfall, angeboten. Neuhausen wurde fixer Standort des jungen Paares für fast dreissig Jahre, und die beiden liebäugelten nie mehr mit einer Auswanderung.

Ich bin der mittlere von drei Buben in unserer Familie und wurde am 16. März 1933 geboren. Vor mir kam der Hans, 1929, und nach mir der Ruedi, 1936. Hans verstarb 2010, und Ruedi ist schon lange tot. Er war Psychiater, Oberarzt am Burghölzli in Zürich, und hat sich das Leben genommen. Warum, haben wir nie genau erfahren. Es ist schlimm und belastet mich heute noch. Er hatte doch keinen Grund, sich umzubringen, soweit ich es verstehe. Er hinterliess eine Frau und zwei kleine Töchter. Schrecklich!

Ich bin in eine gutbürgerliche Familie hineingewachsen, in ein gebildetes Milieu. Wir wohnten in Neuhausen über dem Rheinfall in einem Haus mit Garten; wir sahen hinüber zum deutschen Zollhaus und bei Föhnwetter bis in die Berner Alpen. Mutter hatte immer ein Dienstmädchen aus der deutschen Nachbarschaft, ausser im Krieg. Vater war ein weitsichtiger Unternehmer. Schon in den Dreissigerjahren hat er am Untersee einem Bauern ein Stück Land direkt am See abgekauft und darauf ein kleines Wochenendhaus gebaut; dort verlebten wir als Kinder viele glückliche Sommer. Damals ging noch kein Schweizer an den Untersee in die Ferien. Das Häuschen – zwischen Mammern und Steckborn unterhalb von Glarisegg gelegen – wurde innert kurzer Zeit zweimal von einem Pyromanen angezündet; Vater baute es wieder auf. Noch heute ist das Seehaus am Untersee unser Refugium, wenn wir heimkommen in die Schweiz.

Vater hat bei der AIAG Karriere gemacht, zuletzt als Generalsekretär des Internationalen Aluminiumkartells. Er reiste in den Jahren vor dem Krieg oft nach Paris, London und Berlin. Und er erfuhr auf seinen Europareisen, wie heikel die politische Situation war; schon früh war er davon überzeugt, dass ein Krieg unvermeidbar sei. Er erzählte uns, dass er einmal im Zug in einem Schlafwagenabteil von Berlin nach Stuttgart mit einem hohen SS-Offizier gereist sei, und der habe ihm unglaubliche Dinge erzählt. Vater war eine Zeitlang selber extrem rechts. In Schaffhausen waren viele nazifreundlich, «Fröntler», wie man sagte. Aber als es dann um den Anschluss von Österreich ging, kippten viele der Schweizer Nationalisten, Vater auch.


Heinz als begeisterter Reiter.

Im rechtsrheinischen Schaffhausen, so fand mein Vater, seien wir als Familie wegen eines drohenden Kriegs exponiert. Es wäre gut, wenn er ein Bauerngut im Innern des Landes hätte. Im Falle eines Falles könnten wir dort leben und uns selber versorgen. Er reiste in der ganzen Ostschweiz herum auf der Suche nach einem geeigneten Bauernhof. Am Rande von Richterswil am Zürichsee kaufte er sich schliesslich im Sommer 1939 einen Hof mit Umschwung. Heute steht der mitten im Dorf. Wir probieren seit Jahren, das Land zu überbauen – das ist sehr schwierig und stösst auf massiven Widerstand aus der Nachbarschaft; Richterswil ist mittlerweile ein Vorort von Zürich und das Land ist sehr begehrt.

Vater kaufte sich übrigens schon Ende der Zwanzigerjahre ein Auto, ein kleines französisches Cabriolet. Das war zwar vor meiner Zeit, aber Mutter erzählte uns Kindern, wie sie jeweils Angst hatte beim Bergauffahren. Die dem Auto nachrennenden und kläffenden Hunde seien meist schneller gewesen als Vaters offenes Cabrio!

An den Kriegsbeginn erinnere ich mich nicht mehr. Ich kam kurz vorher, im Frühling 1939, in den Kindergarten. Unser Richterswiler Bauernhof war verpachtet; glücklicherweise durften wir dort ein paar alte Birnbäume fällen, um Holzvorrat für die kalten Kriegswinter zu haben. Zu essen hatten wir auch während der Rationierung immer genug, aber gefroren haben wir viel. Im Winter nahm ich meine Kleider immer mit ins Bett und zog mich morgens unter der Decke an. Die Kälte ist für mich die stärkste Erinnerung an den Krieg, nebst unserem Garten mit den vielen Kartoffeln. Den «Wahlenplan» – den Eigenanbau von Gemüse und Kartoffeln – hat meine Mutter streng befolgt.

Im Frühling 1940 kam ich in die Schule, und damit begannen die Probleme. Die Lehrerin der ersten beiden Schuljahre war zwar noch wunderbar. Aber mit dem dritten Schuljahr kam ein Lehrer, den ich nicht mochte. Er mich auch nicht.

Glücklicherweise konnte ich in der Freizeit Sport treiben; die Ski- und Schlittelbahn führte im Winter direkt an unserem Haus vorbei und im Sommer spielte ich Tennis und ruderte im Schaffhauser Ruderclub. Geprägt hat mich als Kind auch der jüngste Bruder meines Vaters, Onkel Willi. Er war der Psychiater in St. Gallen, damals der einzige in der Stadt. Er betreute viele italienische Einwanderer, besonders deren Frauen, die mit der Schweizer Mentalität oft erhebliche Mühe hatten. Onkel Willi, der Junggeselle, testete beim Jassen, wie weit seine Neffen geistig entwickelt waren; später lehrte er uns auch Bridge spielen.

Dass ich die Kantonsschule zu absolvieren hatte, stand für meinen Vater ausser Frage. Die Drohung «wenn du in der Schule nicht gut tust, musst du eine Banklehre machen», musste ich oft hören. Eine Lehre zu absolvieren, das wäre für mich eine Strafe gewesen. Vom Schulischen her gesehen waren die «Kanti-Jahre» eine Qual. Ich war Minimalist und tat nur das Allernötigste. Die sprachlichen Fächer waren grässlich, Latein und Französisch eine Katastrophe. Mehr schlecht als recht stand ich die fünfeinhalb Jahre durch; Mathe, Geschichte und Geografie liebte ich – Englisch probierte ich nicht mal aus. Aber ich hatte das Glück, in einer kleinen Klasse mit einem starken «esprit de corps» zu sein, wo jeder jedem half. So habe ich diese Jahre trotz allem in guter Erinnerung.

Ein lautes Helikoptergeräusch unterbricht das Interview.

Das könnte der Präsidenten-Heli sein – Präsident Barack Obama und seine Familie nutzen auf Camp David, eine halbe Autostunde von hier entfernt, oft das präsidiale Wochenendhaus. Ursprünglich wollte die Administration das Präsidentenhaus auf dem Sugarloaf bauen. Gemäss Überlieferung gehörte der Berg aber seinerzeit einem Republikaner, und der weigerte sich, diesen der damals demokratischen Regierung zu verkaufen. Gut so! Es wäre ja schade um diesen Berg – den höchsten im Montgomery County. Der Gipfel des Sugarloaf liegt mit vierhundert Metern über Meer gleich hoch wie unser Wochenendhaus am Untersee. Auf den Berg jogge ich übrigens oft; im Herbst, wenn sich das Laub rot färbt, ists am schönsten. Joggen ist für mich sehr erholsam. Dabei kann ich über eine Menge Dinge nachdenken. Ich mag das, und beim Tennis ist das nicht möglich. Dass ich Langstreckenläufer wurde, hat auch mit familiärem Druck zu tun – alle bei uns zu Hause laufen, meine Frau, unsere drei Kinder. Wie hätte ich mich da drücken können? Es kam sogar so weit, dass ich drei Halbmarathons lief, und in Washington wars üblich, über Mittag durch die prächtigen Parks zu rennen.

Ja, aber wo sind wir stehengeblieben: Ach ja, bei der «Kantizeit», der nicht eben ruhmreichen. Ein Lichtblick war während jener Zeit meine Mitgliedschaft in der Kantonsschulverbindung Munot – einer abstinenten Studentenverbindung. Alkoholtrinken hat mir nie etwas bedeutet.

Und dann war da ja auch Ilse. Ich lernte sie mit sechzehn Jahren kennen, auf unserer Konfirmationsreise ins Liechtensteinische. Die Konfirmation selbst war für mich eher unwichtig; Vater war Atheist, aber meine Mutter fand, die Konfirmation gehöre einfach dazu. Basta!

Ich hab mich offenbar auf jener Reise ziemlich schlecht aufgeführt. Mein Freund Hansli Gubler und ich sassen hinter Ilse und ihrer Freundin Dorli Günter im Bus; und ich muss Ilse scherzeshalber immer wieder an den Haaren gezogen haben. Ich glaube, um mich wichtig zu machen. Jedenfalls fiel ich ihr auf, und irgendwie hats dann gefunkt an jenem Tag. Auf jeden Fall gingen wir bald zusammen an die Anlässe der Jungen Kirche, und ich lud sie an die «Besenabende» der Studentenverbindung ein. Bald war für mich klar – Mausi, meine Couleurdame, ist die Richtige: Ilse Langhans, die mit ihrer Schweizer Mutter, deren Mann und Ilses Vater an der Ostfront fiel, kurz vor Kriegsende aus Ostpreussen nach Mecklenburg geflüchtet war und ein Jahr später via das zerbombte Berlin völlig mittellos in die Schweiz einreisen konnte.


Am Bodensee.

Es hat sich einfach so ergeben mit Ilse. Anders kann ich es nicht sagen. Im Herbst 1953 beschlossen wir, uns zu trennen und organisierten eine kleine Abschiedsparty. Ein halbes Jahr später trafen wir uns zufällig auf der Strasse wieder und waren beide unendlich glücklich – und seither hat sich daran nichts geändert.

Im September 1952 hab ich die Matura geschafft – «tout just» allerdings. Studieren wollte ich nicht gleich, lieber arbeiten. Das Praktikumsjahr, in dem ich in der VOLG-Zentrale in Winterthur Kartoffeln verkaufte und die Bilanzen der verschiedenen landwirtschaftlichen Genossenschaften korrigieren musste, ist unvergesslich. Dort lernte ich, dass auch eine Differenz von nur zwei Rappen zwischen Soll und Haben nicht akzeptabel ist; eine Bilanz muss aufgehen, in jedem Fall.

Die Schweizer Armee wollte mich bei der Aushebung 1952 nicht, obwohl ich sportlich und gut trainiert war. Die Relation zwischen Brustumfang und Grösse stimmte nicht. Sie sagten, mein Brustumfang sei zu klein; ich behauptete dagegen, ich sei einfach zu lang. Dabei wäre ich so gerne Offizier geworden wie mein älterer Bruder; der hat mir imponiert. Und überdies wäre damals eine Offizierslaufbahn für Karriere und Beziehungen von Vorteil gewesen.


Beim Weitsprung.

Nach meinem VOLG-Jahr entschied Vater, ich solle mein Studium in Genf aufnehmen, um meine miserablen Französischkenntnisse aufzubessern. So begann ich, Science Economique zu studieren. Nie hätte ich gedacht, dass es mir in der Westschweiz so gut gefallen würde. Mein erster Abend am Genfersee war allerdings eher blamabel. Über Beaudelaire hätte ich wunderbar diskutieren können, aber ein Nachtessen mit Suppe, Rösti und Bratwurst auf Französisch bestellen, konnte ich kaum.

Dass ich mich im Oktober 1954 dann an der Handelshochschule St. Gallen einschrieb, lag fast auf der Hand. Mein Vater war unterdessen Professor für Angewandte Volkswirtschaftslehre an der HSG geworden und die Familie lebte bereits seit einem Jahr in der Ostschweiz. Onkel Willi half wacker mit, dass sich meine Eltern bald inmitten des gesellschaftlichen Zentrums der Stadt bewegten.

Im Frühling 1956 erhielt mein Vater ein Sabbatjahr, und die UNO erteilte ihm einen Beratungsauftrag auf den Philippinen. Unsere Familie fand, Vater könne man nicht alleine nach Asien fahren lassen, und so ging ich mit. Knappe zwei Monate vor der Abreise erfuhr ich von diesem Abenteuer. Ich sprach kein Wort Englisch und musste in aller Eile ein paar Privatstunden nehmen. Mit dem Flugticket, mit dem man damals noch x Umwege einbauen konnte, reiste ich über München,Athen, Kairo, Bangkok und Hongkong – wo ich billige Tropenkleider erstand – nach Manila. Es war wunderbar dort, Englisch lernte ich in kürzester Zeit und daneben noch Spanisch, ostasiatische Geschichte und Entwicklungsökonomie. Vater und ich mieteten eine Wohnung, und mein jüngerer Bruder Ruedi und Mutter stiessen nach einem halben Jahr zu uns. Die Entwicklungsprobleme interessierten mich sehr, und wir reisten viel herum. Auf den Philippinen fand ich sogar mein Doktorandenthema «Die Zollpolitik der Industriestaaten als Hindernis für die Entwicklung unterentwickelter Länder». Ein Jahr später, im April 1958 schloss ich meine Studien in St. Gallen mit dem Lizenziat ab, und im Oktober heirateten Ilse und ich.

Meine Frau bereitete sich inzwischen an der Juventus-Schule in Zürich neben ihrer Arbeit als Sekretärin bei Georg Fischer in Schaffhausen auf die Matura vor. Doktorieren wollte ich nicht in St. Gallen im Schlepptau meines professoralen Vaters. Es sollte aber an einer deutschsprachigen Universität sein. Die Freie Universität in Berlin wäre mir lieb gewesen; aber Mutter befürchtete, ich würde dann in den Ostsektor reisen und dort stänkern. Sie fand, ich sei zu antikommunistisch eingestellt und in Berlin in Gefahr! So entschied ich mich für Wien, und zwei Jahre lang war es ein «On & Off» mit Reisen in die österreichische Hauptstadt; Ilse und ich wohnten mittlerweile wieder in Neuhausen, und sie schrieb meine 309-seitige Dissertation mit einer einfachen Schreibmaschine und auf Matrizen. Meine wunderbare Ehefrau korrigierte meine vielen Schreibfehler, die vierzig Kopien wurden gebunden, und schliesslich doktorierte ich 1960 in Wien.

Eine Optimierungsstudie der Bäcker und Müller aus der Westschweiz mit dem Ziel, die Konkurrenzsituation mit Migros und Coop besser zu überstehen, war mein erster Job. Die Aufgabe hätte mein Vater übernehmen sollen, aber der war wieder irgendwo auf einer Auslandsmission, und so sprang ich für ihn ein.

Meine erste eigentliche Stelle bekam ich 1961 bei der IBM in Zürich. Wir hatten unterdessen zwei kleine Kinder, Heinz Georg, geboren 1959, und Urs, geboren 1961. Bei IBM war ich unter anderem für die Marktforschung für Kugelkopfschreibmaschinen verantwortlich. IBM war damals schon eine fortschrittliche Unternehmung; «THINK» stand in fetten Lettern auf einem Plakätchen auf jedem unserer Tische. Diese Botschaft hätte Anfang der Sechzigerjahre kaum eine Schweizer Firma den Angestellten als Leitspruch mit auf den Weg gegeben!

Erste Computer kamen im Winter 1961/62 in die Schweiz. Wir begannen uns zu überlegen, was man mit diesen wohl anfangen könnte. Im Rückblick ist das lustig: Primär dachte man nicht an administrative Aufgaben. Wir meinten viel mehr, Computer könnten etwa zur Steuerung der Maschinen in der Glas-, Eisenerz- und Stahlindustrie eingesetzt werden. Mein Job machte mir Spass, aber lieber noch wollte ich zurück in die internationale Entwicklungsarbeit. Das war nicht einfach dazumal, weil ich, ausser meinem Studium in den Philippinen, kaum Erfahrungen mit Entwicklungsproblemen vorweisen konnte.

Ich dachte zu jenem Zeitpunkt, wir in Europa und die Amerikaner hätten unsere Wirtschaftsprobleme voll im Griff; die Probleme der Entwicklungsländer hingegen seien ein offenes Feld. In Europa und Amerika gäbe es nichts Spannendes mehr zu tun – nun seien die Entwicklungsländer interessant. Wie falsch diese Ansicht war, hat sich allerdings bald gezeigt.

IBM wollte mich nach Paris ins europäische Headquarter versetzen; aber das kam für mich und meine Familie nicht in Frage. Mit einer Diplomatenlaufbahn liebäugelte ich auch eine kurze Zeit. Als aus dem Departement des Äusseren in Bern die Anfrage kam, ob ich nach Rabat reisen würde, sagte ich sofort zu. Die amerikanische Entwicklungsagentur suchte einen französisch sprechenden Ökonomen aus einem neutralen Land, um ihre Beziehungen zur marokkanischen Verwaltung auszubauen und zu verbessern und hatte «Bern» um Hilfe gebeten. Ilse und ich kauften uns ein Auto. Wir waren eine «old fashioned» Familie, die erst Kinder und dann ein eigenes Auto hatte!

Den Opel-Stationswagen packten wir bis unters Dach mit unserem Hab und Gut und fuhren im März 1962 von St. Gallen nach Rabat. Wir hatten vor, nach ein bis zwei Jahren in die Schweiz zurückzukehren und eventuell dort eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Fünfzig Jahre später sind wir immer noch nicht zurück. Die beiden Buben kamen später mit der Grossmutter im Flugzeug nach. Wir brauchten vier Tage und fuhren durch Spanien, nach Barcelona, dann alles der Küste entlang und mit dem Schiff hinüber nach Marokko – keinen einzigen Kilometer Autobahn. Die anderthalb Jahre in Marokko waren herrlich. Wir reisten viel mit den beiden kleinen Buben und lebten uns schnell ein. Meine Frau liebte es, auf dem Markt auf Arabisch zu handeln; handeln hatte sie im Krieg in Deutschland schon von ihrer Mutter gelernt. Wir hatten ein Haus mit Garten und für die Kinder einen Sandhaufen – ich hatte mein Büro auf der amerikanischen Botschaft und schrieb Wirtschaftsberichte. Für mich war es hochinteressant.

Anschliessend gings für zwei Jahre nach Monrovia für ein Projekt, das von der UNO finanziert und von der Harvard University organisiert war. Unser Team hatte die wirtschaftliche Entwicklung von Liberia zu planen. Die UNO meinte tatsächlich, man könnte das. Was für ein Blödsinn! Unsere Pläne wurden nie umgesetzt; die Verantwortlichen im Staat machten, was sie wollten. Sie hielten sich nie an ihr eigenes, jährliches Budget und noch viel weniger an unseren Vierjahresplan. In Monrovia kam im Juni 1965 unsere Tochter Monika auf die Welt – in einem kleinen Spital, das von spanischen Mönchen geführt wurde. Um die Mittagszeit waren die Padres zwar bei der Siesta, als bei Ilse die Wehen losgingen. Beim dritten Kind waren wir beide glücklicherweise nicht mehr so aufgeregt, und schliesslich ging für Mutter und Kind alles sehr gut; die Kleine wurde kurz nach der Geburt, frisch gewaschen und in eine Decke gehüllt, der Mutter in den Arm gelegt – so was war damals in der Schweiz noch undenkbar.

In Monrovia hatte ich erste Kontakte mit der in Washington beheimateten Weltbank, die schon damals die führende Institution im Bereich der Entwicklungsarbeit war. Ein dort tätiger Schweizer besuchte uns ab und zu in Liberia. Die Institution interessierte mich je länger je mehr. Und als eines Tages gleich zwei Stellenangebote auf meinem Tisch landeten – eines von UNIDO in Genf und eines von der Weltbank in Washington –, entschied ich mich klar für die Weltbank. Erstens reizte mich diese beruflich mehr, und zweitens waren wir noch nie in Amerika gewesen. Nach Genf konnte ich immer noch – später. Amerika war damals für viele Schweizer ein Traum, und überdies gab es in Washington eine sehr gute deutsche Schule für unsere Kinder, die vom Kindergarten bis zur Matura führte.

Von Land und Leuten hatte ich keine Vorstellung. Die Weltbank war es, die mich reizte. Unsere Familien sagten nicht viel zu unserer Entscheidung; Franz Lütolf, Division Chief bei der Weltbank in Washington, war ein Freund und ehemaliger Mitarbeiter meines Vaters.

Ich kam aber nicht einfach zur Weltbank nach Washington, sondern für eine ganz bestimmte Tätigkeit – als Entwicklungsökonom. Und ich blieb dort dreissig Jahre lang – von 1966 bis 1996. Nach 28 Jahren wurde ich pensioniert, aber nur gerade für einen Tag, und arbeitete dann noch zwei Jahre als Berater weiter.

Ich war Ökonom bei der Weltbank und wollte nichts anderes sein. Titel bedeuten mir nichts. Aufsteigen in die Verwaltungsjobs, das wäre nichts für mich gewesen. Das ist etwas für Bürokraten und hat mich nie interessiert. Das Umfeld meiner Tätigkeit bei der Weltbank war ausgesprochen international, sowohl im Hauptquartier in Washington als auch im «Feld». Das war für mich ein Plus, das ich in dieser Art wohl nirgendwo anders gefunden hätte. Viele Freunde und Kollegen aus der ganzen Welt, alles faszinierende, gebildete Leute, viele mit einer interessanten Vergangenheit: ein ehemaliger Finanzminister aus Burkina Faso, ein ehemaliger Mönch aus Thailand, mein langjähriger Chef, Abkömmling einer alteingesessenen und prominenten syrischen Familie, mit dem ich viele Jahre lang eng zusammengearbeitet habe. Aber auch die Kontakte mit den amerikanischen Kollegen und im Verlaufe der Jahre vermehrt auch Kolleginnen waren immer sehr anregend.

Die Weltbank betrachtet sich keineswegs als eine UNO-Institution, trotz einiger weniger administrativer Verbindungen. Es besteht kein Vetorecht der Grossmächte wie im Sicherheitsrat; es hat aber auch nicht jedes Land eine Stimme wie in der UNO-Generalversammlung. Formell ist die Bank eine Aktiengesellschaft, und die sogenannten Mitgliedsländer sind formell Aktionäre, die verschieden viele Aktien besitzen; die grossen Staaten mehr, die kleinen weniger.

Die Weltbank macht es niemandem recht. Zu meiner Zeit war es jedenfalls so. Die Rechte argwöhnte, wir seien eigentlich verkappte Sozialisten, wenn nicht noch Schlimmeres; die Linke behauptete, wir seien Erzkapitalisten ohne jedes Gefühl für die Armen. Die Bank war schon immer für Globalisierung, unter anderem, um damit auch den Entwicklungsländern eine Chance zu geben, auf dem Weltmarkt tätig zu werden, und zwar nicht nur in ihrer angestammten Rolle als Rohstofflieferanten (Thema meiner Dissertation). Wenn ich daran denke, welche Mengen an Obst und Gemüse wir heute im Winter aus Südamerika beziehen, hat sich die Globalisierung für die Entwicklungsländer durchaus gelohnt – nicht zu vergessen Unterwäsche, Hemden und Socken aus Indonesien und Vietnam. Natürlich hat die Globalisierung auch ihre Nachteile und darf nicht übertrieben werden. Aber am Schluss bringt sie zweifellos auch den Entwicklungsländern wesentlich mehr Vor- als Nachteile.

Was die Weltbank im Allgemeinen für Erfolge erzielt hat, ist schwer zu sagen. Ständen die unterentwickelten Länder heute wesentlich schlechter da, wenn es sie nicht gäbe? Wahrscheinlich etwas schlechter, aber nicht viel. Zu den bedeutenden wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten seit dem Zweiten Weltkrieg – Japan, Südkorea, Taiwan und seit kurzem China – hat die Bank wenig beigetragen. Die Entwicklungsdynamik muss primär aus dem Lande selbst kommen, und die einheimischen Eliten spielen dabei, oder sollten jedenfalls, eine vitale Rolle. Ohne eine solche lokale Dynamik kann auch die beste Entwicklungshilfe wenig ausrichten – nicht Null, aber wenig.

Die Schweiz, die seit 1992 Weltbank-Mitglied ist, spielt eine limitierte Rolle, aber doch eine, die gespielt sein musste und muss. Viel Geld wird verschleudert, aber das liegt in der Natur der Sache. Wenn alles so einfach wäre, gäbe es schon lange keine Entwicklungsländer mehr. War und ist die schweizerische Entwicklungshilfe besser als andere? Ich habe zwar Gutes gesehen, aber auch ganz anderes. Weil relativ klein – verglichen mit den USA und anderen –, ist unser Land etwas realistischer und überschaubarer und politischem Druck etwas weniger ausgesetzt. Das Bauen von kleinen Brücken in Nepal – seit Jahren ein Paradestück schweizerischer Entwicklungshilfe – ist sicher sinnvoll, wenn diese nachher auch unterhalten werden. Aber wenn die nepalesischen Eliten ihre Kraft und Zeit primär damit vergeuden, sich gegenseitig umzubringen, kann sich das Land trotz aller Brücken nicht wirtschaftlich entwickeln.

Meine Tätigkeit bei der Weltbank sah ich voll im globalen Verständnis. Natürlich kann man sich nie ganz von seinem Ursprung lösen, intellektuell wie gefühlsmässig. Aber es gibt ja keine speziell schweizerische oder amerikanische Art, an Entwicklungsprobleme heranzugehen. Als Schweizer war ich oft etwas weltoffener und flexibler. Im Gegensatz zu vielen Amerikanern sind wir – meistens – nicht felsenfest davon überzeugt, dass unser Heimatland das Beste der Welt ist, und alle anderen es so machen sollten wie wir. Als ich für eine Mission nach Benin insistierte, nur Mitarbeiter mitzunehmen, die genügend Französisch sprachen, erhielt ich die Antwort, die Beninois sollten gefälligst Englisch lernen; zum Glück ein seltener Vorfall, aber doch symptomatisch.

Ansonsten hat sich mein Schweizertum darauf beschränkt, gute Beziehungen mit den Schweizer Botschaften zu pflegen, wo immer ich war in Afrika oder im Nahen Osten. Es gab auf alle Fälle immer ein gutes Mittag- oder Abendessen, viel wichtiger aber, interessante Gespräche mit Schweizer Geschäftsleuten, die in dem Lande beruflich zu tun hatten oder sogar dort lebten und von denen man vieles erfahren konnte, was einem die Regierung nicht erzählt hätte. Es ist unglaublich, wie anders ein Land aussieht, wenn man mit dem Planungsminister spricht oder dem Direktor einer lokalen Kondensmilchfabrik.

Ich lebte meinen Traumjob. Ich habe mich zwar ein paar Mal in der Schweiz um einen Posten beworben, an meiner Alma Mater HSG um die neugeschaffene Professur für Entwicklungspolitik, an der ETH um die Chefposition der neugeschaffenen Abteilung für Entwicklungsfragen und als Direktor bei der DEZA in Bern – jedesmal ohne Erfolg. Wenn ich weg wollte, konnten sie mich bei der Weltbank immer wieder ködern!

Anfang der Siebzigerjahre reisten wir mit einem Trailer nach Kalifornien, in der Meinung, anschliessend in die Schweiz zurückzukehren. Und nun sind wir wieder vierzig Jahre länger hier. Schliesslich wurde ich im Jahre 2002 auch amerikanischer Staatsbürger, meine Frau und die Kinder schon viel früher. Wenn ich aber die Schweizer Staatsbürgerschaft dafür hätte aufgeben müssen, wäre ich wohl kaum Amerikaner geworden.

Ich habe absolut kein Problem, mich gleichzeitig als Schweizer und Amerikaner zu fühlen – nur während der Olympischen Spiele bin ich jeweils total Schweizer!

Die deutsche Schule in Washington war lange Jahre unser familiäres Zentrum und half, dass unsere Kinder auch ein Stück weit schweizerisch blieben. Wir sprachen zu Hause immer strikt Schweizerdeutsch. Meine Familie schimpfte zwar, ich sei das halbe Jahr im Ausland unterwegs. Was natürlich nicht stimmte. Aber ich war viel in Afrika unterwegs und nicht eben viel zu Hause, meine Frau hat die Familie gemanagt. Und dafür bin ich ihr ausserordentlich dankbar. Sie hat es sehr gut gemacht. Wenn ich so und so viele Auslandstage hatte, durfte meine Frau mal wieder mit auf eine Mission.

Wir zogen in all den Jahren auch immer weiter aus Washington raus – immer mehr aufs Land. In Amerika machte ich wenig negative Erfahrungen – in der Schweiz auch nicht. Und wenn ich jetzt so zurückdenke – ich lebte auf vier von fünf Kontinenten.

Zur Schweiz hatte und habe ich aber immer Kontakt. Auf meinen häufigen Dienstreisen nach Afrika und dem Nahen Osten habe ich jedes Jahr ein- bis zweimal für einige Tage Station in der Schweiz gemacht. Und alle zwei Jahre zahlte uns die Weltbank eine Reise in die Schweiz – dann blieben wir für fünf, sechs Wochen, meist im Ferienhäuschen am Untersee.

Und dann war ich ja auch sechs Jahre Präsident der Swiss American Historical Society. «Du musst nicht viel machen, ein-, zweimal im Jahr einen Brief unterschreiben», liess man mich wissen. Weit gefehlt. Es war eine recht aufwendige Aufgabe, aber ein schönes Amt.

Wir sind nicht mit einem Immigrationsvisum nach Amerika eingewandert, sondern als International Civil Servants mit einem Spezialstatus, wie alle Mitarbeitenden von internationalen Organisationen. Die amerikanische Regierung hatte nichts dazu zu sagen. Solange ich für die Weltbank arbeitete, reiste ich mit einem UNO-Pass und wurde überall quasi wie ein Diplomat behandelt.

Meine Frau ist eine passionierte Reiterin; ich komme mit zwei Beinen besser aus. Foxhunting wurde Ilses Leidenschaft; sie hatte immer eigene Vollblutpferde, und als ich nahe der Pensionierung war, fanden wir diesen Platz hier. Wo wir vorher wohnten, wurde alles überbaut, und zum Reiten gab es kaum mehr Platz. Hier im Montgomery County, in Comus, bauten wir unser Haus nach eigenen Plänen, dazu eine Pferderanch mit viel, viel Auslauf.

Jetzt sind wir älter, und das Leben so weit draussen auf dem Land macht uns zusehends Probleme. Poolesville, das nächste Dorf mit viertausend Einwohnern, hat seit Ende Januar keinen Lebensmittelladen mehr; er machte Konkurs. Jetzt müssen wir zwanzig Minuten zu einem Super Giant fahren, um uns mit dem Nötigsten einzudecken. In diesem riesigen Einkaufsladen drehen Ilse und ich fast durch. Das ist nicht nach unserem Geschmack. Früher konnten wir alles an einem Ort finden: Arzt, Apotheke, Zahnarzt, Lebensmittel, und erst noch mit den Leuten plaudern.

Wir reden schon lange davon, in die Schweiz zurückzukehren. Aber unsere Kinder haben in Amerika Wurzeln geschlagen. Das macht es so schwierig, uns zu entscheiden. Der Besitz hier wird zum Problem – die dreissig Hektaren Umschwung, davon reichlich Wald, geben immens viel Arbeit. Ich mähe mit einem Traktor alles Gras selbst. Und wenn einer der mächtigen, alten Bäume umfällt, verarbeite ich ihn mit der elektrischen Säge und der Axt zu Brennholz. Im weitläufigen Haus leben Ilse und ich auf einem Stockwerk – die oberen Zimmer nutzen wir nur, wenn die Kinder und die vier Enkel auf Besuch kommen. Hans Georg ist Ingenieur und Urs Betriebswirtschafter. Beide leben mit ihren Familien in New England – zehn Autostunden von uns weg. Monika ist single und arbeitet als Professorin für Geschichte und Geografie am Prince George’s Community College halbwegs zwischen Washington und Baltimore, zu weit entfernt, um hier zu leben.

Wir leben sehr zurückgezogen. Und offenbar sei das nicht gut für ältere Menschen, liess ich mir sagen. Einsam fühle ich mich nicht, aber etwas isoliert schon.

Was machen wir mit Haus und Grundstück? Wir werden beide bald achtzig Jahre alt. Aber die Brücken hier einfach abzubrechen und zurück in die Schweiz zu ziehen – das macht uns auch etwas Angst. Wir sind seit fünfzig Jahren fort aus der Schweiz. Vielleicht probieren wir es mal so: ein halbes Jahr hier, ein halbes Jahr dort. Ich weiss, dass Ilse nicht in Amerika sterben will; ich auch nicht, obwohl wir unsere Familie hier haben.

Nach Amerika

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