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1 Zweites Leben, Anu-Zeitnebel, 1372 ZENzeit

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Sid war ein Niemand. Aber nicht weil es ihm an Selbstbewusstsein mangelte. Nein, er war deswegen ein Niemand, weil keiner im Rat auf seine Vorschläge hörte; der Kommandant ignorierte seine Einwände oder Vorschläge und so wichtig er auch für ihre Mission sein mochte, die Raum-Zeit-Navigatoren sahen ihm nie direkt in die Augen - aus Angst.

Er war einfach anders, und das seit so vielen irdischen Jahren, das die Zeit bereits lange Schatten auf das Vergangene warf, auf das Vergangene der Planeten-Zivilisation, auf das Vergangene ohne in der Simulation simulierte Raum-Zeit-Schiffe, auf jenes Leben, das von dieser winzigen Doppelhelix diktiert war und von der Hoffnung gelebt hatte.

Wer dem NICHTS so nahe steht, wird wie ein Niemand behandelt, dachte er, erhob sich, schwankte kurz und setzte sich wieder. Der zweite Steuerungsfehler heute; die R-Z-Navigatoren waren scheinbar ein wenig eingerostet nach dem Kälteschlaf in der langen Zeitschleife, die endlich zu Ende war. Daran konnte er jedoch nichts ändern - nie würde er R-Z-Navigator werden können, nicht wegen mangelnder Befähigung, sondern wegen der sattsam bekannten Eitelkeit und Überheblichkeit der letzten Trads. ZEN, Sen und Sid verwendeten diesen Begriff übrigens für alle Besatzungsmitglieder auf der Starburst, die kein Upgrade während ihres langen Kälteschlafs zugelassen hatten. Die Traditionalisten oder Trads wollten mit der KI nichts zu tun haben oder zumindest nur soviel wie unbedingt nötig.

Für Sid spielte es übrigens keine Rolle, nicht zu den Entscheidungsträgern auf der Brücke der Starburst zu gehören – er wusste ja längst, wer hinter den Kulissen an Bord des RZ-Schiffs die Fäden zieht und das waren ganz bestimmt nicht die vom Kommandanten ernannten Navigatoren.

Patron Plistulh, Kommandant und mit hundertsiebenundvierzig objektiven Lebensjahren der Älteste im Kommandorat, liebte Wiederholungen und erklärte deshalb nochmals das Prozedere der kommenden Tage:

»Die RZ-Navs sind sich einig, dass der errechnete Schleifenpunkt erreicht ist. Wir befinden uns jetzt im Anu-Zeitnebel und werden…«

Sid verstieß gegen alle Vorschriften betreffs der von ihm erwarteten Konzentration bei Kommandositzungen und summte eines der alten Lieder des NICHTS:

MIRK POLAKH -u- TREMK MINGULD

GELPH HIHRAT -a- LIMP VENMILD

OLGHIT HABERH -a- LOPCH DRABPHD

ANNAT SEPHILM -u- SILM MARCHDH

Schon nach den ersten Zeilen hob ihn das NICHTS in Trance, langsam und lustvoll senkte sich sein Oberkörper auf den kühlen, opalisierenden Besprechungstisch, bis sein Kopf auf diesem zu liegen kam. Die eitlen Navigatoren zeigten peinlich berührte Mienen, als aus seinem offenen Mund Speichel troff; seine Muskeln entspannten sich, das NICHTS überkam ihn.

Sen, die links neben ihm saß, berührte seine Schläfe mit ihrem rechten Zeigefinger und Sids Haut sublimierte sofort die von ihrer Fingerspitze abgesonderten Neurotransmittoren. Schlagartig war er wieder im ETWAS, sofort spürte er, wie sehr das ETWAS den menschlichen Körper verspannen kann. Die kleinen Zipperleins waren wieder spürbar.

Er blickte traumwandlerisch in die Runde, rieb sich die Augen und begegnete dem fragenden Blick von Plistulh. Durch die Unterbrechung sah der Kommandant eine weitere Möglichkeit zur Wiederholung und nutzte sie auch gleich:

»Navigator Philms teilte uns mit, das die Wahrscheinlichkeit 100 Prozent beträgt, das wir uns im Schleifenpunkt des Anu-Nebels befinden. Wir könnten hier Komplementär-Avatarswelten anzapfen und der Anu-Nebel scheint eine solche zu sein. Deshalb werden wir ein Kommando zur Materialisierung des Nebels rausschicken … Navigator Glory und Sid bereiten sich ab sofort auf diese Sache vor.«

Patron Plistulh betonte auf indifferente Weise Sids Namen, nicht eben verächtlich, aber auf eine Weise, die kein großes Vertrauen ausdrückte. Jeder an Bord der Starburst hatte sich entweder selbst einen Titel verliehen oder war in einen entsprechenden Rang erhoben worden, nur Sid ließ gleich von Anfang an durchblicken, dass dies für ihn ohne Belang wäre. Ein Grund mehr für seine Außenseiterrolle.

Er sollte sich also mit dem jungen Glory auf diese Sache vorbereiten.

Sich auf diese Sache vorbereiten hieß: Check der Ausrüstung und Kleiner Tod, die Sache selbst verhieß Todesängste, Rotz und Wasser heulen und im schlimmsten Fall irreparable Schäden des Nervensystems. Glory und Sid hatten also allen Grund zur Panik. Sid fragte sich kurz, warum er nicht einfach ablehnte, schließlich konnte ihn kein Mensch dazu zwingen, sich mit Avataren herumzuschlagen, aber er wollte nicht ständig aus der Reihe tanzen, das kannte er aus seinem ersten Leben nur zu gut und außerdem könnte die Sache ja auch ganz spannend werden.

Den Check der Ausrüstung übernahm Sen wie üblich in ihrem gemeinsamen Habitat, Sid selbst begab sich auf das extra schnelle Förderband in Richtung Wissenschaftsmodul.

Besser ich bringe den kleinen Tod schnell hinter mich.

Mit diesem Gedanken surfte er tief im Bauch der Starburst auf einem Beschleunigungsboard in Richtung Heck. Es war ratsam, vorher Sen zu treffen und noch gemeinsam ein paar Zeilen des NICHTS zu rezitieren, bevor er sich mit Komplementär-Avataren einließe. In einem Weichenbereich verringerte er mit weiten Sprüngen auf die Bremsbänder seine Geschwindigkeit und erreichte den Modulzugang zu Minpilis Reich.

Er schlenderte den gelben Wissenschaftskorridor entlang und versuchte sich einzureden, dass ihn das Bevorstehende völlig kalt ließe. Der Kleine Tod, wie er das Mentaltraining für sich bezeichnete, war wirklich kein Zuckerschlecken. Der einzige Lichtblick war Dr. Minpili Brahman, die Leiterin des Trainingslabors. Manchmal, wenn ihm schmerzlich bewusst wurde, dass er eigentlich keine Freunde unter den Trads hat und vielleicht auch nie welche gehabt hatte, besuchte er sie und bekam dann mehr als nur freundliche Worte – sie war die einzige von allen Trads, die einigermaßen verstand, wer er war.

Er betätigte den gelben Druckknopf für den Iristest, bemühte sich, mit ruhigem Blick dem Blitzen der Test-Scanner standzuhalten und hörte das Zischen der Unterdruckschleuse zum Labor. Während er seine Plastklamotten ablegte, ermahnte ihn eine synthetische Stimme: »Nennen Sie Ihren Namen! Sind Sie nüchtern? Haben sie irgendwelche Allergien? Befinden Sie sich in unausgewogenem Mentalzustand?«

Fast zu laut in dem kleinen, halligen Raum antwortete er: Sid Nihil, Ja, Nein, Nein und schmatzend öffnete sich die nächste Schleuse zur Desinfektionskammer. Sid hielt sich die Nase zu und ließ den lästigen Reinigungsvorgang über sich ergehen. Seine Haut juckte und zwickte, da half auch kein mental reset – Jucken war nun einmal Jucken.

Zwanzig Sekunden später stand er nackt und triefend nass Dr. Brahman gegenüber, welche ihm ihre Hand zum Gruß hinstreckte, sie jedoch, als er danach greifen wollte, schnell senkte und stattdessen seinen Pimmel herzhaft schüttelte.

Das Lachen tat beiden gut – Humor war Mangelware auf der Starburst; weder der Kommandant noch einer seiner Untergebenen ließ sich je ein Lachen entlocken.

Sid stellte sich auf die Biopsie-Konsole, deren Tentakel ihm sogleich Gewebe- und Blutproben entnahmen, seine Meridianfelder maßen und einen weiteren Iristest vornahmen. Da wie erwartet durch ein dreimaliges hohes Pfeifen akustisch die Freigabe zum Mentaltest gegeben wurde, legte er sich – zum wievielten Mal? - in die Kühle des lindgrünen, sarkophargähnlichen Containers, der irgendwie nach Angst roch, schloss die Augen und dachte daran, dass in vierzig Minuten alles vorbei sein würde.

Der Deckel des Behälters schloss sich mit einem unwiderruflichen, endgültigen Klicken. Sekunden später wurde das rötliche und leicht nach verbranntem Plast schmeckende Gel eingespritzt. Sein Körper wand sich in Anbetracht der widerlichen Tortur die auf ihn zukam; jedoch nur kurz. Sowie das Gel sich über ihm geschlossen hatte, war er paralysiert – Sid konnte jetzt nur mehr seinen Herzmeridian spüren, dies jedoch mit einer Eindringlichkeit, dass ihm schlagartig übel wurde.

Es war weniger der Schmerz oder die Eiseskälte der Erkenntnis, mit denen er hier gequält wurde. Schlimmer war die Erinnerung an seine Herkunft. Hier im Tank den Verstand zu verlieren bedeutete für Trads grenzenlos schmerzhafte Einsamkeit, die Erfahrung des NICHTS lässt sie am absoluten Gefrierpunkt erschaudern, das schlimmste für Trads jedoch ist, dass sie das Erlebnis manchmal nicht vergessen können.

Das alles war für Sid eine Kleinigkeit, seine menschliche Hülle konnte dank ZENs Upgrade Todesqualen erleiden, sein menschlicher Geist mochte unbeschreibliche Einsamkeit erdulden, sein innerstes Wesen jedoch litt den Schmerz der Erinnerung an die ewig lange Zeit, als er dem ETWAS auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen war und niemanden gefunden hatte, der ihn auch nur annähernd verstanden hatte. Die Trads nennen das Leben. Sen, ZEN und er nannten dass »erstes Leben«.

Hier im Tank gab es, und das war einer der wenigen Vorteile in dieser Situation, nichts zu denken. Die Software Kleiner Tod war einfach darauf ausgelegt, dein Herz zu brechen. Im Grunde hatte ZEN als Erbauer der Starburst lediglich Altes Wissen neu aufgewärmt, denn diese Trainingstanks hatte es bereits vor tausendvierhundertfünfzig Jahren gegeben, und zwar in den beiden Marsshuttles, die vor langer Zeit mit Ach und Krach, durchlöchert von Neutrinoschauern und mit ausgelutschten Photonentriebwerken zur Erde heimgekehrt waren. Dank der Tanks konnte die Besatzung des ersten Fluges bei der Rückkehr die Zurückgelassenen noch in die Arme schließen, auch wenn sie selbst ein Haufen geistiger Wracks waren – niemand entfernt sich schließlich ungestraft in corpus zu weit von seiner Heimat – und was mit der Besatzung des zweiten Fluges geschehen war, ist Geschichte. ZEN hatte also lediglich da und dort kleine Verbesserungen an der Software für den Kleinen Tod vorgenommen und somit war der Tank wahrscheinlich eine der antiquiertesten Einrichtungen auf der Starburst. Das Konzept ist einfach: Man grille den Eingeschlossenen mit einem wilden Gemisch von Wellenlängen und setze ihn gleichzeitig den chemischen Reizen des auf Körpertemperatur gebrachten Schock-Gels aus und das Ergebnis ist ein kontrollierter anaphylaktischer Schock, der in Folge zwischen erstem und dritten Grad oszilliert. Abgeleitet war diese Therapie von der Arbeit der NASA-Psychologen, die die Astronauten auf die ersten Marsflüge vorzubereiten hatten und die einhellig der Meinung waren, ein Mensch dürfe sich nicht zu weit von der Erde entfernen, ohne die Gefahr einer schweren Psychose in Kauf nehmen zu müssen. Denn nicht nur die zeitliche Entfernung von der Heimat kann Störungen hervorrufen sondern auch die geographische, wie man damals schon wusste. Mit einem Wort: Der Mensch verliert seinen Bezug zum Menschsein, wenn er sich zu weit von zuhause entfernt. Wo die kritische Entfernung lag, wusste man nicht, man nahm aber an, dass die fünfundsiebzig Millionen Kilometer, die Mars Odyssee 1 und 2 zurückzulegen hatten, definitiv zu weit waren und wollte deshalb mit entsprechenden Therapien sicherstellen, dass die Astronauten ansprechbare Wesen blieben und der Mission keine Schande machten, indem sie eventuell der Menschheit entsagten und vielleicht eigene Wege gingen, die vom Drehbuch abwichen. Und so wie bei einer Impfung bestand die Therapie darin, den Kandidaten in kleinen Dosierungen den Bezug zur Menschheit zu stehlen und ihn solchermaßen auf die Reise vorzubereiten.

Das Prickeln des in seinen Lungen verdampfenden Gels ließ Sid aus der Starre erwachen. Der Deckel des Containers war bereits geöffnet und Dr. Brahman hielt ihm die obligatorische Tüte vor den Mund. Er erbrach sich, ein kurzes Aufblitzen der erlebten Einsamkeit ließ Tränen in seine Augen schießen, die er jedoch abschüttelte wie einen schlechten Traum. Er wollte einfach nichts mehr mit der Gefühlsduselei der Trads zu tun haben, das war für ihn das Letzte. Wieder spulte sich die Frage in ihm ab, warum ausgerechnet er zum Handkuss gekommen war und so den biochemischen Wirrungen der [Existenz?] ausgesetzt werden musste. Die Wahrscheinlichkeit, dies alles in diesem seinem zweiten Leben ganz vergessen zu können lag bei null Prozent, eine optimistische Betrachtungsweise war hier ausgeschlossen. Wenigstens in dieser Frage musste er sich nicht quälen.

Er stieg mit weichen Knien aus dem Container. Angst, Wut und Traurigkeit kulminierten zu einem unkontrollierbaren Zittern, bis sein wahres Wesen wieder die Oberhand übernahm und er zum Scherz und als Revanche Dr. Brahman fest in die Brustwarzen zwickte und ihr, als sie den Mund vor gespielter Empörung aufriss, einen wirklich fetten Kuss gab. Sie stieß ihn von sich, um ihn sogleich zu umklammern, küsste ihn auf die Wange, drückte ihn an sich und reichte ihm dann seine Plastklamotten.

»Wie immer: Alles paletti«, schnurrte sie, sah ihm in die Augen und fügte hinzu: »Ich gebe das O.K. an Plistulh weiter. Sei vorsichtig.«

Nachdem Sid sich den ekligen Gel-Kleister abgewaschen hatte und wieder am Board stand, dachte er daran, wie wichtig der Kleine Tod für Zeit-Nautiker sein musste, bevor sie ihr Schiff mitten in einem Zeitnebel dieser Größenordnung verließen. Wenn die das große Loslassen nicht vorher trainierten, mussten sie mit schweren Psychosen rechnen.

Dr. Minpili Brahman war schon etwas länger an Bord der Starburst als Sid. Sie bekleidete eine besondere Position in diesem zusammengewürfelten Haufen verschiedenster Charaktere. Als studierte Psychiaterin fungierte sie an Bord als Ärztin und Therapeutin und bekam so allerlei zu hören und zu sehen. Oft wunderte sie sich darüber, wie gespalten die Persönlichkeiten der Passagiere an Bord waren – einerseits hatten sie alle den geradezu unheimlichen Mut aufgebracht, rechtzeitig ihr erstes Leben zu beenden, um in brauchbarem physischen Zustand aus dem Kälteschlaf zu erwachen und andererseits plagten sie alle die gleichen kleinen Nöte wie im vorigen Leben. Vor allem Klaustrophobie war weit verbreitet - schließlich konnte man nicht so einfach die Türe öffnen und aus dem Schiff aussteigen ohne mit entsprechenden Konsequenzen rechnen zu müssen und dann war da noch diese bei allen wiederkehrende Traumsequenz. Als Psychologin stufte sie dieses Phänomen als luzides Träumen ein, denn die Passagiere waren sich dessen bewusst, dass sie träumen und sie konnten auch alle diese Träume begrenzt steuern. Immer wieder erzählten ihre Patienten von Chören, mit deren Hilfe sie durch Kristallwelten navigierten. Alle empfanden diese Welten als ihr [wahres?] Wesen, ihr Innerstes und je weiter sie vordrangen, desto sauberer und authentischer wurde dieses Innere. Sie selbst machte diese Erfahrung fast jede Nacht und wenn man Minpili Brahman fragen würde, was zurzeit ihre Lieblingsbeschäftigung ist, würde sie ziemlich sicher antworten: »Schlafen«.

Sie selbst hatte den Kälteschlaf vor 1512 Jahren angetreten und sich somit den Ausbruch des XP13-Virus und das damit einhergehende Leid erspart.

Sie stammte aus Kolkata und war die Tochter eines Lehrers und einer Edelsteinhändlerin. Ihre Mutter handelte mit Saphiren und konnte ihrer Tochter das Medizinstudium finanzieren. Keiner sonst von Minpilis Jugendfreunden bekam die Chance auf mehr als drei oder vier Jahre Schule und dies motivierte sie, besonders fleißig zu sein. Immerhin waren ihre Großeltern arme bengalische Jutehändler gewesen, als die Stadt noch Kalkutta hieß. Sie verkauften ihre Säcke und Teppiche auf dem New Market zu einer Zeit, als von steigenden Meeresspiegeln noch keine Rede war. Sie hatten auch so genug Sorgen in der hoffnungslos übervölkerten Metropole. Im Jahr 2041 der alten Zeitrechnung, als Kolkata bereits als das Venedig Indiens bezeichnet wurde, schloss das Medical College wegen Überflutung seine Pforten und die ganze Familie Brahman zog nach Kanpur, weiter stromaufwärts am Ganges gelegen. Minpili schloss dort ihr Studium ab und praktizierte dann als Kinderärztin, obwohl sie als Fachrichtung Psychiatrie gewählt hatte. Zu einer Zeit, als alles flüchtete und Städte wie Kanpur mit Flüchtlingen aus den Küstenregionen überschwemmt wurden, konnte sich jedoch kein Mensch einen Psychiater oder Psychotherapeuten leisten – eher gefragt waren Doktoren, die die zahlreichen Seuchen eindämmen konnten. So half sie, wo sie konnte. 2045 kamen ihre Eltern bei einem Großbrand im Zentrum von Kanpur ums Leben und Minpili staunte nicht schlecht über ihre Erbschaft. Ihre Mutter hatte ihr einen Beutel hinterlassen. Einen kleinen Beutel aus Jute. Als der Notar ihr die Hinterlassenschaft in einem verschlossenen Kuvert überreichte, genügte ihr ein Blick um zu wissen, um was es sich handelte. So vermied sie es auch, den Beutel vor den Augen des Notars zu öffnen. Sie tat dies Zuhause und zum Vorschein kamen elf riesige Saphire, für die jeder Gemnologe einen, wenn nicht mehrere Finger geopfert hätte. Minpili glaubte wie so viele gebildete Inder nicht an Wiedergeburt, an eine lebenswerte Existenz im Alter glaubte sie aber noch weniger – immerhin war damals schon klar absehbar, dass die Hälfte aller Inder mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten zehn Jahren verhungern würde. Ihre Landsleute zahlten den hohen Preis dafür, als erste Großnation vollständig auf gentechnisch modifizierte Reissorten umgestiegen zu sein. Das bedeutete, dass die Bauern zu jedem Anbauzyklus neues, modifiziertes Gen-Saatgut teuer bei den Vertretern der Großkonzerne kaufen mussten, denn die Früchte der sterilen Gen-Sorten konnten als Saatgut nicht verwendet werden.

Minpili glaubte nicht an Heiligengeschichten, sie glaubte nicht an ein menschwürdiges Dasein in der Zukunft, aber sie glaubte an die Wissenschaft. Also durchstöberte sie die Anzeigen und stieß auf CRYOSLEEP.COM, den einzigen Anbieter für Langzeit-Kälteschlaf, der es tolerierte, wenn die betreffende Person freiwillig und vorzeitig aus dem Leben schied. Die konservative Methode bestand darin, sich nach dem Tod in den Kälteschlaf zu begeben. Allerdings musste man bei dieser Variante darauf vertrauen, dass am Tag X das gesamte Bewusstsein, das Gedächtnis sowie die vollständige Persönlichkeitsstruktur mittels kortikaler Schnittstelle in den geklonten neuen Körper transferiert werden konnte. Von solchen Fertigkeiten war die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt jedoch weit entfernt, also wählten die Mutigeren den Freitod, um in der Zukunft im eigenen, noch funktionsfähigen Körper das zweite Leben antreten zu können. Wäre es anders gewesen und alle, die es sich leisten konnten, hätten die mutige Variante gewählt, so hätte Minpili nie einen Platz im Tank bekommen – die Wartelisten für die konservative Variante waren unendlich lang. So waren am Ende nur einhundertfünfundvierzig Menschen in der Zukunft wiedererwacht, vierundvierzig davon befanden sich an Bord der Starburst, einhundertundein Personen standen auf der Passagierliste der beiden anderen RZ-Schiffe.

Minpili zahlte mit der Hälfte ihrer Saphire CRYOSLEEP.COM aus, die andere Hälfte spendete sie anonym einem Waisenhaus. Im Alter von 42 Jahren begab sie sich nach Stockholm, leitete selbst ihre Vitrifizierung ein, betätigte den Funksender und wurde innerhalb einer Stunde abgeholt.

Sid war am Magnetboard zurück in den Wohnbereich gesurft. Sen überraschte ihn. Sie war nackt, das war nicht ungewöhnlich - die Überraschung war, dass seine EVU, die Extra Vehicular Unit, also sein geliebter Anzug für Außenarbeiten mit fluoreszierendem Zebramuster keinen Schwanz mehr hatte. Dieser hing nun wie eine Trophäe neben einem echten Stück Holz, das er auf einem seiner letzten Aufträge mitgehen hatte lassen.

»Mein Zebraschwanz aus echtem Nanoplüsch«, jammerte er. Aber er wusste auch, dass Sen recht hatte: Er war zu weit gegangen mit seinem Kostüm. Wie gesagt: Auf der Starburst war Humor nicht großgeschrieben. Kommandant Plistulh hatte ihn letztens schon verwarnt. Sid bat ihn daraufhin um ein LT, ein logic talk und dem Kommandanten war nichts anderes übrig geblieben, als darauf einzugehen. Schließlich war es innerhalb der Gruppe Pflicht, sich bei Bedarf jederzeit auf rein logische Frage-Antwortspiele einzulassen.

Sid war darin der Meister: Er fragte Plistulh: »Ist es wahrscheinlich, dass irgendwelche Avatare in irgendwelchen Zeitnebeln den Begriff Zebra kennen oder jemals Abbilder von Zebras gesehen haben könnten?« Plistulh quetschte zähneknirschend ein Nein aus seinen Mundwinkeln.

Zweite Frage: »Ist es aus diesem Grund völlig irrelevant, ob mein Anzug eine Zebramusterung aufweist oder irgend eine andere?«

»Ja..«, knirschte sein Vorgesetzter, »..aber eins sag ich Ihnen trotzdem: Der Schwanz muss ab, noch vor der nächsten E.V.A.«

Wie konnte er es Sen also verübeln, den Schwanz abgetrennt zu haben? Er strich über den weichen Plüsch. Als Sen ihn von hinten an der Hüfte berührte, drehte er sich um, fing ihren Blick auf und wusste, was jetzt kommen würde. Sie würde aus dem NICHTS zitieren, ihre Zuwendung würde ihn bis zum Kontrollverlust bezaubern. Die schönsten Momente des Vergessens waren in ihren Armen.

Sid war groß und schlank, sein kurzes Haupthaar schwarz, das Kinnbärtchen argonflammenblau. Sein rechtes Auge hatte die Tönung der Supernovae, ultragrün, das linke - künstliche - Auge war dem rechten farblich angepasst, besaß jedoch Nautikeigenschaften sowie jeden Sensorik-Schnickschnack, den ZEN auf Lager gehabt hatte. Nachtsicht, Meridianfeldwahrnehmung sowie Gravitationspolarisierung waren somit für Sid ein Kinderspiel, wobei es ihn manchmal wurmte, Meridianfelder sehen zu können – die Trads waren für ihn schon ohne diese Fähigkeit leicht zu durchschauen.

Sen schälte ihn bereits aus seinem blauen Plast-Overall. Sie war zehn Zentimeter größer als er, schlank und, gelinde gesagt, äußerst wandlungsfähig. Heute trug sie ihre hüftlangen, gewellten Haare alarmrot, ihr wohlproportionierter Kopf beherbergte sonnen-auragelbe Lippen mit blau schattierten Mundwinkeln, ihre Augen saßen über einer Nase im klassischen Zeitschleifen-Look.

Ihre Augen!

Diese hypnotisch zu nennen, wäre eine Beleidigung gewesen, sie weltenschaffend zu nennen eine schwache Beschreibung – ihre Augen machten einfach alles, was sie erfassten, besser. Erblickte sie Trads, so wurden diese für die Dauer ihres Blickes gut und weise, sah sie Essen an, so verwandelte sich dieses in Speisen, kurz: Sie verwandelte Personen und Dinge mit herkömmlichen ETWAS-Qualitäten in Persönlichkeiten und Wertgegenstände mit erlesenem NICHTS-Charakter.

Sie war viel stärker als Sid und sie hatte darüber hinaus den Vorteil, nach Belieben alle Arten von Botenstoffen ausscheiden zu können. So massierte sie jetzt mit schnellen Bewegungen die von ihren Fingerspitzen abgegebenen MAO-Hemmer in das Gewebe in der Nähe seiner Halsschlagader, reduzierte damit sein Immunsystem auf ein überlebenswichtiges Minimum und übertrug gleichzeitig mit ihrem Kuss verschiedene psychoaktive Stoffe auf seine Mundschleimhaut. Da diese durch die Wirkung der MAO-Hemmer von seinen Pseudo-Leukozyten nicht abgebaut werden konnten, entfalteten sie ungehemmt ihre volle Wirkung.

Sid wurde sofort ohnmächtig. Mühelos hob sie ihn an, trug ihn ins Antigrav und begann, seinen völlig entspannten Körper zu massieren. Es war an der Zeit, das NICHTS zu besingen, und so begann sie leise zu zitieren:

TRIPILU – er – GLINGAHU h

JILOKIL – ey – NADUJU g

NAVOULD – lo – HUMJIN g

LUAPIH – chö – KILMIN j

Sid erwachte eine NICHTIGKEIT später und fand sich schwebend in Sens Umarmung wieder. Nachdem er das letzte ETWAS abgestreift hatte, erwiderte er ihren Kuss und sie nahm ihm alles. Wahrhaftig Liebende begegnen sich in der Nicht-Existenz - die Vorstellung, sich in einem mit Ego durchsetzten ETWAS zu vereinigen, war für Sid mittlerweile unerträglich - die Lüge schlechthin. Nachdem vor etwa 1000 Jahren die ersten autarken, sich selbst replizierenden KIs die Hirntätigkeit der Trads in Echtzeit entschlüsselt hatten, wusste ja jeder Bescheid. Es war bitter für die Reste der Menschheit, als sie endgültig akzeptieren musste, dass Seele, Gott und Schicksal Autosuggestionen waren.

Sen streichelte sanft Sids Lymphknoten. Sie musste vorsichtig sein, die psychoaktiven Substanzen mussten gleichmäßig in seinem Körper verteilt werden. Jede Konzentration davon in einem seiner Organe konnte ihn umbringen. Seine Tränen glänzten orangefarben im Licht des Antigravs und bildeten eine Aura um die beiden, schlossen sie ab vom Rest-ETWAS und schon fühlte Sen seinen Höhepunkt, fühlte, dass sie ihm NICHTS gab, ihn damit heilte, in stärkte. Er schrie auf, zuckte, drehte sich mit ihr in einem subtraktiven Wirbel und wurde sofort wieder ohnmächtig. Sie trug ihn aus dem Antigrav, und legte ihn auf den Schlafplatz ihres Habitats. Was für ein Glück - mein Geliebter, dachte sie. Bevor sie ihm den letzten Kuss zum Deaktivieren der Katalyt-Substanzen gab, betrachtete sie ihren ohnmächtigen Freund und versuchte sich vorzustellen, wie wohl das Erleben des NICHTS für ihn sein mochte - das war eines der wenigen Dinge, die wirklich schwer fassbar für sie waren.

Nachdem drei Stunden später die Dämmerungsautomatik das Licht im Habitat dimmte, erwachte Sid. Er setzte sich auf und erkannte im Halbdunkel Sen, die gerade ihre reduktionistische Meditation beendet hatte und sich die Haare zu einem Turban band. Völlig entspannt und durchdrungen von tiefstem Respekt schritt er auf sie zu, kniete nieder und nahm ihre Hände in die seinen.

Er küsste ihre Handflächen und war dankbar - dankbar, dass er eines Tages, wenn es soweit war, mit ihr und in ihr weiterleben würde dürfen.

NICHTS

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