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3 Zweites Leben, Universum, 1360 ZENzeit

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Normalerweise bereiste niemand mehr das Universum. Die Trads, also jene, die sich im Kälteschlaf nicht modifizieren haben lassen, bevorzugten die Zeitschleifen. Manchmal hielt man sich auch in den Zeitnebeln auf. Trads hassten das Universum jenseits dieser zeitneutralen Zonen, in dem alle so schnell alterten. Dorthin schickte man höchstens Leute wie Sid, die von niemandem verstanden wurden. Und natürlich die Turnus-Patroullien: Jeder Kommandant musste ein bis zweimal in seiner Karriere da rein, auch wenn er damit rechnen musste, dreifach so schnell zu altern wie in den Zeitschleifen.

Kommandant Plistulh war gut vorbereitet auf seine Aufgabe gewesen. Nur ja keine unnötige Zeit im Universum verbringen. Rein, Aufgabe erledigen und raus, das war für ihn oberste Priorität bei seinem zweiten und damit wahrscheinlich letzten Besuch in dem beschränkt-dimensionalen Raum vor zwölf Jahren gewesen. Sein Auftrag lautete, für wissenschaftliche Zwecke etwaige humanoide Lebensformen zu dokumentieren, die sich noch im Universum herumtrieben. So ließ er von den Navigatoren einen Kugelspiralkurs ausarbeiten, der sogar in wenigen Lichtjahren Entfernung an Sol vorbeiführen sollte.

Nachdem die Berechnungen abgeschlossen waren, begaben sich die hohen Herrschaften in den Cryo-Schlaf, um wenigstens nicht ganz so schnell zu altern wie der wachhabende Teil der Mannschaft, der eigentlich nur aus drei Trads, ihres Zeichens Navigatoren und Sid bestand.

Der Begriff der Trads stammte von ZEN, der KI, die dieses Raumschiff erschaffen hatte und die damit eigentlich die Menschen bezeichnete, die wenigen Menschen, die überlebt hatten und die sich, im Unterschied zu Sen und Sid, entschieden hatten, in diesem zweiten Leben zu verbleiben bis zu ihrem Tod, trotz der vielfältigen Möglichkeiten des Upgrades, welches ihnen ZEN angeboten hatte. Trads waren für ZEN Traditionalisten, die frei von irdischen Bindungen ein zweites Leben gewollt und auch bekommen hatten. Relativ frei von Krankheiten mussten sie keinen Autoritäten gehorchen außer der des Patrons und konnten ansonsten tun und lassen, was sie wollten. Sen nannte die Trads Fischstäbchen, es war für sie unvorstellbar, dass Menschen die Strapazen eines so langen Cryo-Schlafes auf sich nehmen konnten ohne anschließend von den Vorzügen eines Upgrades zu profitieren, ohne mit geschärften (und vielen neuen!) Sinnen ein zweites Leben zu beginnen, um später all ihre Emotionen abzulegen, die Simulation hinter sich zu lassen und sich dem NICHTS anzuvertrauen.

Die üblichen Nanokolonien, die ihnen zahlreich auf ihrem Weg begegneten, versuchte die Mannschaft zwar zu scannen, jedoch entzogen sich diese wie üblich jedem Zugriff. Autarke Nanowelten traten nicht mit Trads in Kontakt – keiner wusste eigentlich, was innerhalb dieser spinnennetzartigen Ansammlungen von künstlichen Intelligenzen vor sich ging und ZEN verriet auch nicht mehr über die Kolonien, wenngleich sie sie ebenfalls scannte.

RZ-Wissenschaftler vermuteten nuglierende Essenz-Intelligenzen hinter diesen Gebilden - wenn man bedachte, dass vor langer Zeit Nanotechnologie von den Trads erschaffen worden war, ein schrecklicher Verlust an unschätzbarem Wissen. Nur eines wusste man: Die Nano-Welten brauchten Materie und waren deshalb auf das Universum angewiesen. Wie lange das noch so bleiben würde, das wusste niemand.

Die Frustration der ehemaligen Erdenbewohner – eben jene Wesen, die von Sid, Sen und ZEN Trads genannt wurden, hatte ihren Höhepunkt erreicht, nachdem die autarken Maschinenintelligenzen sich weigerten, weiterhin mit ihnen zu kooperieren, da sie ihre eigenen Ziele verfolgten und ihnen ihre Schöpfer mehr oder weniger schnurz waren. Man kann nur von ungeheurem Glück sprechen, dass überhaupt noch KIs den biologischen Lebensformen dienten.

So trieb man sich jetzt in der Nähe von Sol herum, es war wieder mal nichts mit dem Einfangen der autarken KIs und Sid hatte nicht viel zu tun außer Routinearbeit.

Nach einem Monat hätte er sich selbst schon fast – unerlaubter Weise – in den Cryoschlaf begeben, wenn nicht dieser Alarm gewesen wäre.

Ein BC-Alarm: Irgendwo da draußen mussten biochemische Stoffe herumtreiben.

Die RZ-Navs waren ganz aus dem Häuschen. Was empfahl sich bei BC-Alarm? Scannen selbstverständlich, aber was dann? Es war strengstens verboten, biochemische Stoffe an Bord zu nehmen, schon aus Gründen eventueller bakterieller oder viraler Kontaminierung.

Nachdem im Universum aufgrund seiner geringdimensionalen Struktur fast nichts unsichtbar war, fanden die Navs das Objekt relativ schnell und gingen im Abstand von zwei astronomischen Einheiten längsseits. Sie staunten nicht schlecht, als sich das Objekt als Trads-Raumschiff zu erkennen gab. Es musste steinalt sein. Nach dem Zurückverfolgen des Kurses ergab sich, dass es ein – was auch sonst? - irdisches Schiff war, vor ungefähr eineinhalb Jahrtausenden auf seine Fahrt geschickt, versehen mit den damals üblichen Photonenantrieben. Da es klar war, dass keiner der Navs mit Bakterien oder Viren in Kontakt kommen wollte, machte sich Sid bereit für den Ausstieg.

Er hatte noch nie verstehen können, warum sich jeder vor Besuchen im Universum drückte, wenn man vom Altern absah, was für ihn ja sowieso keinen Belang hatte.

Das Universum: diese Blase, dieses Kuriositätenkabinett, diese beschränktdimensionale Bühne der dualistischen Erscheinungsformen. Hier gab es Elemente, die sich wechselweise von Materie zu Energie umformten und umgekehrt, es gab Schwerelosigkeit und Gravitation, je nach Masse oder Gravfeld, hier war Licht, dort war Schatten, dies war nahe, jenes fern. Eben die Gesetze einer relativ einfachen dualistischen Simulation! Sid liebte den Wechsel zwischen Gravfeld und Schwerelosigkeit. Zu gerne hätte er diese Freude mit Sen geteilt, doch diese hielt sich im Hintergrund – das Universum war ihr nicht ganz geheuer.

»Unheimlich schön und ganz schön unheimlich.« Das waren ihre Worte zu diesem Thema und die spukten Sid im Kopf herum, als er die Transferschleuse bestieg, um zu einer Inspektion dieser alten Trads-Gondel aufzubrechen.

Philms hatte beteuert, dass mit keiner Anwesenheit von Trads-Intelligenz zu rechnen sei, wie denn auch? Lediglich einige Maschinen ohne erkennbare Waffensysteme seien an Bord gescannt worden und die Hülle hatte scheinbar einige Risse, aus denen geringe Mengen an atembarer Sauerstoff/Stickstoff-Athmosphäre austraten. Der Zielprogrammscan ergab außerdem, dass der Pott gerade mal ein Zehntel der 4,35 Lichtjahre zwischen Sol und seinem Bestimmungsort Rigil Kentaurus, besser bekannt als Alpha Zentauri zurückgelegt hatte. Sie flog also mit lächerlichen 3 tausendstel Promille der Lichtgeschwindigkeit. Die Photonenantriebe der Trads waren eben nicht geeignet für große Distanzen, aber es war eine nette Geste der untergehenden Menschheit, Archen auszusenden. Und Sid war sich sicher, es mit einer dieser Trads-Archen zu tun zu haben.

Aber das hieß natürlich auch, dass hier Antiquitäten abzustauben waren. Wenn die Archen sowieso nie am Ziel ankamen, wen kümmerte es da, wenn man das eine oder andere entwendete? Sid steckte die Feldkonsole in eine seiner Brusttaschen, aktivierte ein Beschleunigungsfeld und öffnete die Schleuse manuell. Er aktivierte die Netzhautprojektion seines rechten Auges, schob das Bild von Sen willkürlich auf die linke Seite, die Zielerfassung der Arche nach rechts und in die Mitte das Biochem-Scandiagramm, welches ihm die nötigen Informationen geben würde, falls er es mit biochemischen Organismen zu tun haben würde.

Sen sah entspannt dabei zu und wirkte ruhig, obwohl ihr die Trads und ihre Werke ganz und gar nicht geheuer waren.

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