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2 Erstes Leben, Erde, 2095 Trads-Zeitrechnung

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Ich erwache ausnahmsweise ohne Darmschmerzen. Timea ist nicht da – sie fehlt mir jedes Mal, wenn ich alleine aufwache. Der Baulärm von nebenan weckt mich seit mehreren Wochen um sechs Uhr früh. Für mich Anlass, noch früher als gewohnt meine Übungen zu machen.

Das eiskalte Wasser im Gesicht macht mich munter, anschließend grüble ich wie immer über der Frühstücks-Frage. Ich entscheide mich für Bio-Hirse mit echtem Haselnussmus, fülle also hundert Kubik-zentimeter von dem Getreide und das Doppelte an Wasser in einen Topf und begebe mich mit schlechtem Gewissen in meinen kleinen Garten.

Schon wieder ein Bio-Frühstück! Ich muss besser mit meinem Geld haushalten. Biogetreide wird heute quasi mit Gold aufgewogen, doch an den Tagen ohne Timea brauche ich diesen Luxus einfach. Doch zuerst die Bewegung. Bevor ich meine Pilates-Übungen mache, müssen alle Insekten in meinem Haus gerettet sein: eine Macke, die mich nicht mehr loslässt. Tibetische Mönche, die, mit Besen bewaffnet, den Weg vor ihren Füßen kehren, um keine Kleinlebewesen zu zertreten stehen mir näher als in unserer Zeit gut tut. Nur beim Tanzen und beim Pilates schalte ich ab: Das psychosomatische Zwicken im Darm verschwindet dann immer, der innere Dialog verstummt, es ist eine Stunde so, wie es eigentlich immer hätte sein sollen.

Minuten später schwebe ich bereits auf Wolken: Schon nach den ersten Übungen fließt meine Energie reibungslos, mein Hinterfragen bröckelt ab wie Putz von einem der wenigen Gründerzeithäuser, die, zwischen Hochhäusern eingeklemmt, heute noch in Wien von den japanischen Touristen bestaunt werden.

Nicht zu verhindern ist, dass früher oder später dann doch wieder mein wahres Wesen zum Vorschein kommt, und damit kommen auch die Traurigkeit und der Schmerz zurück, weil wir die Erde in ein Dreckloch verwandelt haben. Doch noch ist es nicht soweit, noch strecke und dehne ich, noch fokussiere ich auf das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung meiner Muskelgruppen, die Atmung und die Liebe, die mir sonst verwehrt ist.

Die Konzentration auf positive Gedanken verschafft mir eine weitere Verschnaufpause von der [Realität?] während des Frühstücks. Unbeschreiblich lebendig schmecken die Hirsekörner, der Geschmack des Haselnussmus treibt mir fast die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke, was für ein unglaublicher Luxus dieses Essen darstellt.

Als Revolutionstourist, bis vor fünfundzwanzig Jahren, bin ich voll aufgelaufen: Die Masse scherte sich einen Dreck um die Zukunft und das Kapital ist bis an die Zähne bewaffnet. Ganz schöne Träumer waren wir, die Wenigen, die sich die Zeit genommen hatten, einige Jahre ihres Lebens zu opfern, um den Mächtigen auf den Zahn zu fühlen und: War richtig gnädig von denen, uns Radikale nicht für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Als Architekt war ich zu spät dran, weil es heute keinen sozialen Wohnbau mehr gibt … aber halt, so kurz vor Ende meines Tagebuchs keine negativen Botschaften! All dies musste kommen, wie es gekommen war! Auch wenn ich nicht an Schicksal glaube, jeder bekommt das, was er erträgt. Ich ertrage kein Quäntchen mehr und werde deshalb gehen.

Es ist alles vorbereitet!

Irgendwie bin ich doch nicht ganz immun gegen die Trauer, die brutal durch mein Hirn fetzt, wenn ich daran denke, dass ich Timea nie mehr sehen werde. Schwer zu sagen, für wen von uns beiden es härter sein wird. Ich glaube, unser Verstand hat noch nicht kapiert, wie er mit dieser Extremsituation zurechtkommen soll.

Mein Implantat piept, während ich über diese Sache sinniere, sie ist dran.

Meine Liebe: Timea!

»Ich habe mit Pearl gesprochen!«

»Was sagt sie?«

»Wir kriegen die Location.«

»Du bist die Beste; ich hätte das nie geschafft.

Wie viel will sie dafür?«

»300 neue Euro.«

»Ist ja geschenkt. Läuft alles wirklich recht gut in letzter Zeit.«

»Du-u?«

»Was denn?«

»Mein Herz zerreisst!«

Wieder die Gänsehaut. »Ich hab dir doch gesagt: Wenn es soweit ist, stopf ich dich mit Drogen voll. Du wirst 3 Tage lang schlafen, und anschließend ist ja Bo für dich da. Bo ist ein guter Mensch – ein besserer als ich. Er liebt dich wirklich und würde dich nie verlassen so wie ich.«

»Ich würde so gerne mit dir gehen und gleichzeitig auch wieder nicht.«

Sie sprach mit leiser Stimme, in der ich dieses zermürbende Vibrieren fühlen konnte. Es war hart, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde gehen. In einer Woche!

Meine Trauer darüber, die Erde und dieses Leben zu verlassen, vermischt sich mehr und mehr mit dem überragenden Gefühl, wahrlich Großes erreicht zu haben. Aus einer für Normalsterbliche absurden Idee entstanden Fakten, entstand die Realisierung dessen, was ich selber für unmöglich gehalten hatte: Die Möglichkeit eines zweiten Lebens, meines zweiten Lebens!

In einer Woche, an meinem fünfzigsten Geburtstag, würde ich bewusst aus dem Leben treten und eine subjektive Nichtigkeit später mein zweites, extraterrestrisches Leben beginnen. Oder auch nicht. Ich verließ mich wie so oft in meinem Leben auf mein Glück. Oft hatte ich Erfolg mit dieser Strategie gehabt.

Das wichtigste war jetzt, das ich mich nicht auf Gefühlsduselei einließ. Ich wollte eine gediegene Abschiedsparty für meine besten Freunde vorbereiten und hatte mir dafür eine alte Burgruine hoch über der Donau ausgesucht, direkt über einer Schleife des Flusses, ein Symbol für Haltbarkeit und Vergänglichkeit zugleich.

Haltbar deshalb, weil sie immerhin fast tausend Jahre den Angriffen von Feinden, Wind und Wetter getrotzt hatte, Vergänglichkeit, weil trotz allem in den Mauerfugen und allen möglichen Ritzen Büsche und Bäume wurzelten und früher oder später diesen Steinhaufen besiegen würden.

Ich finde, das passt zum Thema.

Mit Timea hatte ich vereinbart, dass wir uns nicht mehr sehen würden. Wir hatten uns alles gesagt. Das, was kommen würde auszuwalzen, konnte nur wehtun.

Die nächsten Tage bin ich damit beschäftigt, mein offizielles Leben aufzulösen.

Erst so merke ich, wie verfahren die Situation für diejenigen ist, die aus dem Leben treten wollen, ohne den Hinterbliebenen einen organisatorischen Saustall zu hinterlassen. Während ihnen einerseits die heftigsten metaphysischen Fragen durch den Kopf gehen, müssen sie sich andererseits mit den profansten Dingen herumschlagen:

Sind meine Konten geschlossen?

Ist der Steuerberater bezahlt?

Wird sich meine Katze in ihrem neuen Zuhause wohl fühlen?

Habe ich meine Web-Abos abbestellt?

etc.

Ich lasse hier eine Lücke in meinem Tagebuch, die letzten Tage sind nur für mich.

Ich werde atmen, singen, mich an Erlebtes erinnern, die Dinge essen, deren Geschmack mich an Tage erinnert, an denen ich mich nicht fragen musste, was ich hier eigentlich zu schaffen habe. Und ich werde, hoffentlich nicht zum letzten Mal tanzen - für mich die einzige Möglichkeit, nicht über den ganzen Schlamassel nachdenken zu müssen.

Erstes Leben, Tagebuch Ende!

NICHTS

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