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4 Abschied, Erde, 1. Mai 2095 Trads-Zeit
ОглавлениеTimea, Pearl und Bo waren zu Fuß unterwegs. Und die einzigen, die wussten, was heute Abend am Programm stand. Dementsprechend gab es auch nicht viel zu reden.
Es war sehr warm für Anfang Mai, die Sterne blinkten über ihren Köpfen und mehr oder weniger unbewusst sahen die drei immer wieder hoch zum Himmel, in der Hoffnung, da oben etwas sehen zu können. Aber das, wonach sie Ausschau hielten, befand sich auf der anderen Seite der Erdkugel und das einzig Ungewöhnliche waren die illuminierte Burg hoch oben am Steilhang und die Brise technoider Klänge, welche, gefiltert durch die vielen Bäume am Hang, Richtung Tal schwappte.
Sie hatten den Bus genommen, der sie von Wien bis an diese besondere enge Schleife der Donau gebracht hatte. Zur Burg hinauf gingen sie händehaltend, zuerst schweigend, dann lachend.
Oben angekommen fühlten sie sich trunken vor Lebensfreude – Sie lebten noch!
Timea hatte ihre Gefühle im Griff. Die Nachwirkungen ihres dreitägigen Tiefschlafs waren verflogen, die Depotwirkung der Drogen bewirkte eine leichte, aber kontinuierliche Serotoninausschüttung, die erst nach drei bis vier Wochen nachlassen würde. Pearl und Bo hatten sich im Bus Intox gegönnt – quietschvergnügt überquerten sie die mittelalterliche Zugbrücke.
Die verfallene Burg selbst war in Orange und Sonnengelb illuminiert, die Soundanlage produzierte kratzende Bässe in Pulsfrequenz, durchsetzt mit fragenden und klagenden Alien-Stimmen mit Dopplereffekten.
Mittlerweile waren fast alle zweihundert Gäste eingetroffen. Um in den zentralen Burghof zu gelangen, musste jeder einzelne durch einen schmalen Wehrgraben, der, wie die meisten glaubten, mit Kunstnebel gefüllt war. Tatsächlich wurde hier Salvia Divinorum geräuchert, was einen emphatogenen Effekt hervorrief und die Sinne derjenigen schärfte, die den Rauch durchschritten.
Im Burghof war gerade genug Platz für alle Eintreffenden, um sich entlang der Mauern aufzustellen, denn in der Mitte befand sich auf einem hüfthohen Podest ein Holo-Projektor, der in drei Metern Höhe einen Countdown im Sekundentakt herunterzählte. Die Ziffern im klassischen Spacelook erschienen, flackerten wie Kerzenflammen in Orange- und Rottönen auf, um anschließend wie Seifenblasen zu zerplatzen. Durch den Effekt des Zerplatzens entstand unwillkürlich ein gewisser Abstand zwischen Holoprojektor und den neugierigen Betrachtern.
Als Timea den Burghof betrat, zerplatzte gerade die 273, untermalt von psychedelischen Bässen und Sorround-Getuschel. Nun wandten sich viele fragende Mienen Timea zu, die nicht mehr als ein wissendes Lächeln von sich gab und sich im Lotussitz auf den kühlen Erdboden setzte. Da keine Sitzgelegenheiten vorhanden waren, taten nach und nach die Anderen das Gleiche, wodurch nun alle eine gute Sicht auf die 3D-Darstellung hatten.
Als die 100 erschien, begann sich die Darstellung zu drehen, die Ziffern traten in den Hintergrund und der Blick auf eine Animation war frei.
Die Qualität war nicht hochauflösend, sondern eher körnig, was jedoch gut zu der dreidimensionalen Darstellung der Milchstrasse passte, die sich vor den Augen der Gäste zu drehen begann, bis sich der Blickpunkt rasend schnell der Stelle näherte, an der sich Sol, unser Sonnensystem befand.
Kurz sah man das ganze Sonnensystem, die Kamera schoss an der Sonne vorbei, bis die Erde sichtbar wurde, dann überflog man Europa. In südwestlicher Richtung ging es weiter über den Atlantik in Richtung Amazonasmündung, dann verlor die rasante Fahrt schnell an Geschwindigkeit bis sie über dem Südost-Pazifik zum Stillstand kam. Nun sah man nur mehr einen Teil der Küste Chiles im rechten Bereich des Bildes, sonst waren da nur Wolken und Meer.
Einige Gäste, die sich nicht rechtzeitig hingesetzt hatten, bekamen weiche Knie, als die Kamera nun rasch bis auf wenige Kilometer Höhe absackte, durch eine dicke flauschige Wolke stieß, abbremste und wieder an Höhe gewann. Die Stimme von Sid war absichtlich mit Hall belegt, die Sorround-Anlage gaukelte den Anwesenden vor, er spräche von rechts hinten zu ihnen.
»Nicht dort, hier!«
Das Hologramm schwenkte um neunzig Grad im Uhrzeigersinn, man konnte nur einzelne, sehr dichte Wolken erkennen.
»Hi-ier!«
Jetzt hörte man seine Stimme von rechts vorne, konnte ihn aber immer noch nicht sehen.
»Wärmer, warm, heiß!«
Nun erkannte man ein Aufblitzen, ein Funkeln, noch eines und noch eines, dann stoppte die 3D-Kamera ihre Fahrt und zeigte Sid auf einer Wolke sitzend. Er entzündete sich einen Joint mit einem billigen Feuerstein-Feuerzeug, paffte kleine Kringel in den Himmel, klopfte sich seine Wolke zu einem Sofa zurecht, streckte sich und inhalierte einen weiteren Zug.
»Leider kann ich von hier aus nicht sehen, ob ihr alle gekommen seid, ich hoffe, ihr genießt den Abend. Laut Wetterbericht soll es heute sehr warm für diese Jahreszeit sein, freut mich für euch. Heute ist mein fünfzigster Geburtstag und ich würde mich sehr gerne über euren Besuch freuen. Nur leider ist es mir derzeit unmöglich, irgendwelche Gefühle zu zeigen.«
Einige Gäste gaben Gemurmel von sich, andere blickten in die Runde, um den Gastgeber irgendwo zu entdecken. Bei den nächsten Worten kehrte jedoch Stille ein:
»Wir werden uns nie wieder sehen, dies ist das letzte Mal, das ich zu euch sprechen kann.«
Alle sahen zu Timea.
»Ich habe euch eine etwas ungewöhnliche Geschichte zu erzählen. Sie handelt von einem Mann, der sich immer wieder die Frage gestellt hatte, was hier eigentlich abgeht …
…Es ist die Geschichte eines Häretikers, Empirikers, die Geschichte eines Außenseiters. Ihr werdet euch jetzt fragen, wieso ich meinen Holo-Avatar sprechen lasse? Ich nehme es kurz vorweg: Ich lebe nicht mehr, oder besser: Ich lebe schon noch. Lebe ich noch? Nein, nicht in dem Sinne, dass ich euch noch jemals die Hand schütteln könnte, ich lebe in der Zukunft, ich bin in der Warteschleife für mein zweites Leben und, so hoffe ich, auch für mein drittes.«
Timea, Pearl und Bo glucksten wissend.
»Ok. Ich bringe es jetzt auf den Punkt. Irgendwelche Schamanen, ich weiß nicht mehr, welche, behaupteten, uns sei die Stimme zum Singen gegeben worden, nicht zum Sprechen, also dann!«
Die Illumination im Inneren des Burghofes wandelte sich jetzt mehr von gelb zu orange und elektronische Trommeln stimmten sich auf den etwas beschleunigten Herzrythmus der Anwesenden ein, während aus einer riesigen Räucherkugel, welche über den Köpfen der Anwesenden aufgehängt war, weitere Schwaden mit psychoaktiven Räucherungen austraten.
Sids Stimme kam jetzt von allen Seiten, der Hall-Effekt war abgeschwächt, der Klang warm und Gesprochenes wandelte sich in Gesang während sich das Wolkensofa wieder in eine Wolke zurückverwandelte und der Interpret wie ein Delphin in ihr herum sprang.
Die Gäste hörten eine Ballade über einen Menschen, der keinen Platz im Leben fand …
Über ein Alien, für das hier auf der Erde keine artgerechte Haltung möglich war und das folglich gehen musste …
Die Trance-Trommeln wandelten sich nun in wiederholte Abfolgen von drei Akkorden, man war fast gezwungen, im Rhythmus dazu ein- und auszuatmen – es erinnerte an die Musik von Philip Glass, einem Komponisten, der vor hundert Jahren Einzigartiges geleistet hatte.
Gleichzeitig erschien Sid mit seiner Nase ganz nahe an der 3D-Kamera, so dass man fast nur Nasenlöcher und Lippen sehen konnte und flüsterte:
»Ihr seid jetzt EINS.«
Die Kamera zoomte zurück, man sah wieder Sid auf der Wolke stehen. Mit einer Hand klopfte er sich das flauschige Gebilde wieder zu einer Sitzgelegenheit zurecht, mit der anderen fingerte er einen weiteren Joint aus seiner Jackentasche.
Ein kurzes Aufblitzen des Feuerzeugs und dichte Rauchschwaden wanden sich um seinen Kopf.
»Ihr wisst, dass man heute zu unverschämten Preisen den Kälteschlaf antreten und sogar ziemlich sicher wieder unbeschadet daraus erwachen kann. Seit also Cryosleep mit achtundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit ohne Zellstrukturschäden möglich ist, war mein Entschluss gefasst.«
»Drei Fragen stellten sich:
Wie finanziere ich diese Dienstleistung?
Was bringt es, mich nach meinem natürlichen Tod einfrieren zu lassen, wenn die Funktion des Gehirns bereits deutlich nachgelassen hat?
Wie ist es möglich, woanders als auf der Erde wieder aufzuwachen?«
Ein überlegenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Er schnippte die Asche des Joints über den Wolkenrand, worauf sie mit dem Westwind in Richtung Chile verweht wurde.
»Für einen normalen, abgebrannten Menschen wie mich stellt sich die Frage nach der Finanzierung normaler Weise nicht, da die Preise für Cryosleep astronomisch hoch sind. Und dem entsprechend astronomisch genial musste auch die Idee sein, das Geld zu beschaffen.
Da Galactic Holidays seit nunmehr zehn Jahren Mondurlaube anbietet, konnte ich denen meine »Fly the Moon«-Idee verkaufen. Anfangs dachte ich gar nicht, dass die mir mein Patent abkaufen würden – ich wundere mich bis heute, genauer gesagt, bis vor einer Woche, warum die mir die Idee nicht einfach gestohlen haben. Scheinbar gibt es doch noch ehrliche Menschen auf der Welt.«
Mit gespielter Rührung wischte er sich eine nicht vorhandene Träne aus dem Augenwinkel.
»Also, ich habe denen meine Idee verkauft. Leider darf ich nicht darüber sprechen, da bin ich vertraglich gebunden und ich will schließlich nicht, dass die mich vorzeitig aufwecken. Soviel darf ich verraten: Die Menschen werden die Möglichkeit haben, ohne Unterstützung von Maschinen zu fliegen wie Vögel.«
Mit einem Grinsen breitete er die Arme aus und deutete einen Flügelschlag an. Ein Fingerschnippen und der Rest des Joints verschwand in Richtung Osterinseln.
»Dann war da die Altersfrage. Ich habe mich entschieden, an meinem fünfzigsten Geburtstag aus dem Leben zu treten. Da ich fit bin, kann ich später quietschfidel mein zweites Leben antreten. Die Verlockung war einfach zu groß: Die restliche Lebenserwartung von vielleicht dreißig Jahren einzutauschen gegen die Möglichkeit von einem, vielleicht zwei weiteren Leben. Also hab ich CRYOSLEEP.COM das vereinbarte Ablebens-Signal für die Abholung geschickt und anschließend meine Körpertemperatur nach Einnahme eines starken Schlafmittels in einem speziellen Kühlraum selbst runtergefahren.«
Sids Holo-Avatar klopft wiederum das Wolkensofa in Form. Er holt eine große Lupe aus einer Tasche und streckt sie in Richtung Südpazifik von sich. Die virtuelle Kamera schwenkt über die Lupe und zeigt eine auf dem Meer schwimmende Plattform, von der sich eine Linie, so dünn wie ein Spinnenfaden in einer parabolischen Kurve bis in den Orbit zieht.
»Und schon sind wir bei Frage Nummer drei. Wie stellt man es an, nach dem Kälteschlaf ja nicht wieder auf der Erde aufzuwachen? Unter mir seht ihr die schwimmende Plattform eines der zwei Spacelifts, die es derzeit weltweit gibt. Viele von euch kennen das Prinzip, den Anderen will ich es gerne erklären.
Man nehme eine Leine mit fünftausend Kilometern Länge, vorzugsweise eine allerdünnste Nanotube-Leine, die nicht durch ihr Eigengewicht reißt, wickle sie auf eine Trommel und schieße sie in den Orbit. Von dort werfe man das eine Ende in Richtung Erde, das andere, beschwert mit einem Gegengewicht, in diesem Fall einer orbitalen Forschungsstation, in entgegengesetzter Richtung. Ein Ende verankere man an einer schwimmenden Plattform im Südpazifik, da dort die Blitzhäufigkeit am geringsten ist und schon hat man ein Haar an unserem Planeten befestigt. Durch die Fliehkraft – immerhin bewegen wir uns an der Oberfläche der Erde mit eintausendsiebenhundert Kilometern pro Stunde - wird die Nanoleine in einer gegen die Umlaufrichtung des Planeten geneigten Parabel gespannt. Das Ergebnis ist eine hauchdünne, aber äußerst tragfähige Konstruktion, an der nun Spacelifts bis zu zwei Tonnen schwere Gegenstände in den Orbit transportieren können. Und in einem dieser Spacelifts fahren in diesem Moment vier Kälteschlaftanks hinauf in die Kälte des Vakuums.«
Das von der virtuellen Lupe in seiner Hand vergrößerte Bild zeigte einen silbernen Behälter, der mittels komplizierter Umlenkrollen mit dem Nanoseil verbunden war und sich im Schneckentempo von der Erde entfernte.
»CRYOSLEEP.COM hat den Aufzug für 30 Stunden gechartert. Solange dauert der Aufstieg. Anschließend werden wir vier in unsere Umlaufbahn gepustet, wo wir dann hoffentlich für lange Zeit geschützt vor den Sonnenwinden im Erdschatten verbringen werden. Wer die anderen drei sind und wie viele noch nachfolgen weiß ich nicht. Ist sozusagen eine Überraschung. Mit an Bord sind Maschinen, die vor Prozessorleistung nur so strotzen und uns, so wurde es vereinbart, in frühestens eintausend, spätestens jedoch in eintausend-fünfhundert Jahren wecken werden. Während dieser Zeit soll sich diese KI immer schneller selbst umbauen beziehungsweise neu konfigurieren und selbstständig ihre Prozessorleistung vervielfachen. Jedenfalls ist mächtig viel Nanozeug mit an Bord.«
Die entstandene Stille war beinahe greifbar. Keiner wusste, was er sagen sollte. Kopfschütteln, zaghaftes Gelächter und dann, langsam anschwellend, Applaus. Die Gäste erhoben sich, alle waren von der Botschaft elektrisiert.
Da Sid weitersprach, breitete sich wieder Ruhe unter den Anwesenden aus.
»Ich weiß, dass mich einige von euch jetzt am liebsten in den Arsch treten würden, weil ich mich wie ein Furz aus dem Leben stehle, aber ich nehme in Kauf, manchen weh zu tun. Ich muss einfach wissen, wer ich bin und was das hier für eine [Realität?] ist und glaube fest daran, dass die KI mir früher oder später dieses Wissen vermitteln kann. Klingt natürlich völlig abgedreht – behaltet mich eben als Spinner in Erinnerung.
Viel Spaß auf der Party.«