Читать книгу Die Schatten von Mernor - Leonard N. Meyer - Страница 10

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3 Die Viertel von Tenkun

Mit den ersten Sonnenstrahlen, die das Dorf Talis am nächsten Morgen durch die Baumwipfel trafen, wurde Jay auf einem großen Schimmel abtransportiert. Die Arme auf dem Rücken in Handschellen gelegt, hinter einem Wachsoldaten platziert, wurde er auf direktem Wege nach Tenkun gebracht. Hinter ihm ritt ein weiterer Soldat, der wohl besonders aufpassen sollte, dass Jay keinen Unfug anstellte. Wann immer er sich umdrehte, starrte der graubärtige Mensch ihn mit festem und emotionslosem Blick an.

So ritten sie einige Zeit mehr oder weniger schweigend durch den Wald, der Jay jetzt, wo die Nacht vorüber war, wieder weniger erdrückend und angsteinflößend vorkam. »Was für ein heldenhafter Auftakt«, ging ihm durch den Kopf.

Er dachte an Olja, und dass er vermutlich ähnlich durch die Gegend geschleppt worden sein musste. Für einen Moment stellte er sich vor, dass er nicht von Wachen zum Gericht gebracht wurde, sondern mit seinem Bruder diesen noch völlig unbekannten Teil des Ilmery frei erkundete. Wehmütig hing er solchen und anderen Gedanken nach, bis eine gute Stunde später erneut vereinzelte Hütten im Wald sichtbar wurden.

»Wann sind wir denn endlich da?«, fragte Jay, als würde er es kaum erwarten können, zum Verhör vorgeführt zu werden.

Ohne sich umzudrehen, anwortete der Reiter des Schimmels kurz angebunden: »Keine fünf Minuten.«

Wenn es nach dem wenigen ging, was er über Tenkun wusste, dann war die Stadt wesentlich größer als Ilmerun, lag aber ebenso mitten im Ilmery und hatte irgendeine wichtigere Rolle in dieser Gegend. Harthor, der Stadtfürst, war ein ums andere Mal zu Gast bei seinem Vater gewesen, und ebenso hatte Rojan des Öfteren im Jahr einen Tag oder Abend dort verbracht. Mit Sicherheit hatte Meister Illustran sie bereits einmal genauestens über die Funktion von Tenkun in Kenntnis gesetzt, und mit Sicherheit hatte Jay währenddessen lieber anderen Gedanken nachgehangen. Er hatte nie den Sinn dahinter gesehen, warum er stundenlang, Tag für Tag, Wissen über die Welt und was sie zusammenhielt lernen sollte, nur um es dann niemals benötigen zu müssen.

Am Reiter vorbei lugte Jay die nun gerade verlaufende Hauptstraße entlang bis zu einer Stelle, an der ein ansteigender Hügel ihm die Sicht versperrte.

Als sie diesen kurze Zeit später umrundet hatten, erahnte er am Ende des Weges zwischen den dichten Bäumen hindurch Mauerwerk. Dann, wie aus dem Nichts, lichteten sich die Reihen und eröffneten Jay den Blick auf eine Mauer, die an Höhe den ältesten Bäumen des Ilmery Konkurrenz machte. Auf den Zinnen waren in regelmäßigem Abstand Soldaten postiert, die anscheinend den lieben langen Tag nichts anderes taten, als dort oben Wache zu halten. Ein wenig tiefer erblickte er ebenso gleichmäßig verteilte Schießscharten.

Seine Aufpasser steuerten auf das Stadttor zu, welches über eine gewaltige Zugbrücke aus rostbraunem Holz erreichbar war, unter der ein breit ausgehobener Graben sich um die gesamte Stadt zog.

Als sie die Brücke überquerten, blickten zwei Tiranen in dunkelgrauer Plattenrüstung sie an, ohne den Anflug einer weiteren Regung. Jays Bewacher nickten zum Gruß, was die Soldaten stumm erwiderten.

Und dann betraten sie Tenkun.

Jay traute seinen Augen kaum. Er war bisher der Meinung gewesen, zum Wochenmarkt in Ilmerun seien die Massen unterwegs. Doch gegen das, was sich ihm nun bot, war alles, was er bisher kannte, das reinste Dorfleben.

Wohin er auch schaute, liefen Leute kreuz und quer durch die Straßen, die auf beiden Seiten dicht an dicht mit drei- oder vierstöckigen Häusern bebaut waren. Händler, Handwerker, Soldaten, Kinder, ganze Familien, Menschen wie Tiranen – sie alle waren unterwegs, zu Fuß oder vereinzelt in Kutschen und die meisten von ihnen in geschäftigem Tempo. Und mittendrin in dem ganzen Durcheinander ritt seine Eskorte langsam voran in Richtung des Stadtzentrums.

Von einem Marktplatz aus, der den Ilmeruner um mehr als das Doppelte überragte, konnte Jay einen massiven steinernen Turm entdecken, vermutlich Teil einer größeren Festung. »Und das mitten in der Stadt!«, dachte er. Sprachlos und überwältigt von all diesen Eindrücken vergaß er eine Zeit lang sogar, weswegen er eigentlich hier war.

Das änderte sich rasch, als die Gruppe ohne weiteren Befehl zum Stehen kam. Er befand sich vor einem großen Gebäude aus hellgrauem, sauber gearbeiteten Stein. Zum Eingangsportal hinauf führten einige breit ausgelegte Stufen, die zwischen diversen Säulen hindurchliefen.

Die Wachsoldaten aus Talis stiegen ab und der Graubart stapfte zu Jay.

»Zeit zum Absteigen.«

Jay, der – so gut er es mit seinen Handschellen vermochte – vom Rücken des Pferdes herunterrutsche, wurde gepackt und auf die Füße gestellt.

»Dort rein«, befahl Graubart nüchtern und deutete mit dem Kinn in Richtung des großen Gebäudes, zu einem etwas weniger ausladenden Nebeneingang. Ein grober Schubs setzte den Gefangenen in Bewegung.

Plötzlich zog etwas dem hochgewachsenen Soldaten den Boden unter den Füßen weg. Er fiel der Länge nach auf das Kopfsteinpflaster. Jays Blick ruckte zu dem noch stehenden zweiten Soldaten und er sah, wie sich just in diesem Moment um dessen Füße ein dünnes Band mit einer Art Säckchen am Ende schlang. Es spannte sich, die Füße rutschten zur Seite, und schon lag auch der zweite auf dem Boden. Beide fluchten, doch während sie sich noch aufrappelten, wurde Jay von jemandem gepackt und in die Menschenmenge gezogen. Zwei Wachen, die vor dem Gerichtsgebäude postiert waren, kamen zu Hilfe geeilt, aber der Gefangene war urplötzlich verschwunden.

In der treibenden Menge wurde Jay herumgewirbelt und blickte in das Gesicht eines Menschenjungen mit hellblondem Haar. Er mochte vielleicht gerade einmal ebenso alt sein wie er selbst. Frech grinste dieser ihn an.

»Brauchst du Hilfe?«

Ein zweiter, etwas älter aussehender Junge erschien neben ihm.

»Los, weiter jetzt. Sie suchen noch!«

Jay wurde in eine kleine Gasse gezogen.

»Mist, sind die neuen«, stellte der Blondschopf bei Betrachtung der Handschellen fest. Er zuckte mit den Schultern. »Tschuldigung, muss erst mal so gehen.«

Jay, noch etwas durcheinander von dem, was gerade passiert war, wurde durch enge Gassen und quer über größere Straßen gezogen. Ihm fiel auf, dass die Häuser mit einem Mal nicht mehr ganz so ordentlich und ausladend wirkten wie zuvor auf dem Weg zum Gerichtsgebäude. Auch das bunte Treiben auf den Straßen ließ allmählich nach.

Schließlich gingen sie unter einem gemauerten Bogen hindurch, und seine kleine Eskorte wurde langsamer. Auf der anderen Seite des Durchgangs reihten sich Häuser aneinander, die man bestenfalls als renovierungsbedürftig hätte bezeichnen können. Bis auf einige Ausnahmen sah Jay nur grob gemauerte oder gezimmerte Hütten, zwischen denen diverse Baracken zusammengenagelt worden waren. Wie die Behausungen sahen auch die Leute davor meist mittellos und heruntergekommen aus. All diese Eindrücke waren dem jungen Ilmeruner etwas gänzlich Neues. Aus seiner im Vergleich geradezu lächerlich kleinen Heimatstadt kannte er weder den großen Trubel noch das, was er nun sah. Dort ging alles ruhiger und ausgeglichener zu.

Tabakgeruch stieg ihm in die Nase. Er kam von einem älteren Menschen, der an die Bretterwand eines kleinen Verschlags gelehnt auf dem staubigen Boden saß. Neben ihm lehnte eine Krücke, die wohl unabdingbar war, denn dem Mann fehlte von der Hüfte abwärts eines seiner Beine.

»Halt's Maul!«, brüllte plötzlich eine aggressive Stimme von der anderen Seite der Straße. Jay fuhr herum und sah einen düster dreinblickenden Tiranen, der einen anderen gepackt hielt und drohend die Faust gehoben hatte. Der Gepackte murmelte irgendetwas, woraufhin sein Gegenüber ihm ohne weiteres ins Gesicht schlug.

Der blonde Junge zog Jay am Arm.

»Nicht hingucken«, raunte er und führte sie weg von der Szene, während Jay hinter sich das Geräusch weiterer Schläge und Rufe hörte.

Sie waren nur unwesentlich weitergelaufen, da wurde ihm ohne Ankündigung ein Sack über den Kopf gestülpt.

»Hey!«

»Nur einen Moment, keine Panik«, versuchte die Stimme des Blondschopfes ihn zu beruhigen. Doch so langsam hatte Jay genug davon, nur umhergetragen und geschubst zu werden.

Er wurde nach links, rechts, links und immer so weiter geführt, bis sie endlich Halt machten und Jay das Öffnen einer Pforte vernahm. Einer der Jungen befreite seinen Kopf, und er fand sich inmitten eines geräumigen Zimmers wieder, betrachtet von diversen Kinderaugen.

Unschlüssig blickte er in die Runde.

»Äh … Hallo.«

Vor ihm breitete sich ein Raum mit hölzerner Decke aus, der nur einen weiteren Durchgang zu seiner Linken bot. Dort erahnte er einige Strohlager. An den Wänden waren provisorisch zusammengebaute Tische angebracht, die in Kombination mit Hockern und Stühlen, welche nicht wirklich zusammenpassten, zwei Sitzgruppen ergaben. An einer von ihnen saßen zwei Tiranen, ein Mädchen und ein Junge, die gemeinsam mit einem Menschenjungen irgendeine Art Spiel auf einem Brett spielten.

Vor zwei offenen Kisten in einer Nische des Raumes standen drei weitere Jungen, die wohl über etwas beraten hatten. Nun aber hatten alle sechs ihre Tätigkeiten unterbrochen und sich ihm verwundert zugewandt.

Verhaltenes Winken folgte von einigen, andere nickten nur kurz, aber alle schienen darauf zu warten, dass nun irgendetwas passierte.

Der Junge, der ihn gerettet hatte, machte sich mit zwei Stücken Draht an Jays Handschellen zu schaffen und löste sie mit wenigen Griffen. Jay rieb sich die Handgelenke.

»Viel besser, danke.«

»Also, Fremder, willkommen in unserem Versteck«, begann der Blondschopf triumphal. »Ich bin übrigens Freddy.«

»Jay. Euer… Versteck?«

Das Tiranenmädchen am Tisch schaltete sich ein.

»Wo kommst du her?«

»Ich …«

Freddy unterbrach ihn.

»Haben ihn zwei Wachen von außerhalb weggeschnappt.«

Und an Jay fügte er hinzu: »Warum haben sie dich eingesackt?«

»Ich …«, begann Jay erneut, »… ich war letzte Nacht im Ilmery unterwegs, da hat mich die Nachtwache erwischt.«

Eines der Kinder, die über den Kisten gebrütet hatten, musterte ihn.

»Aber du bist nicht von hier, oder?«

Jay fühlte sich etwas überfallen von diesen Fragen, die aus allen Richtungen kamen. Er schüttelte den Kopf, doch als er ein weiteres Mal zu einer Antwort ansetzte, flog hinter ihm die Eingangstür auf.

»Zwei Säcke brauchen wir. Zwei Säcke, sonst wird das zu einem echten Problem«, ertönte eine Mädchenstimme.

»Freddy, hast du … nanu?«

Ein junges Mädchen, etwa so groß wie Jay, war in den Raum getreten. Sie hatte ihr helles Haar nach hinten zu einem Knäuel zusammengebunden und trug einfache, dunkle Kleidung. Neben ihr stand ein etwas kleineres, offensichtlich jüngeres Mädchen, das ihr aufmerksam folgte. Freddy kam Jay zu Hilfe.

»Das ist Jay. Bojo und ich haben ihn vorhin zwei Wachen weggeschnappt, bevor sie ihn zum Gericht bringen konnten.«

Mit interessiertem Blick näherte sich das Mädchen Jay, der zögerlich zu lächeln begann.

»Ich bin Tilia.«

Freddy fügte hinzu: »Tilia ist unsere Anführerin. All das hier haben wir ihr zu verdanken.«

Jay sah sich noch einmal kurz im Raum um, doch so recht verstand er noch immer nicht.

»Eure … Aber was macht ihr hier?«

Tilia wies auf die leere Sitzgruppe und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Auch Freddy kam hinterher.

»Weißt du, Freddy, ich hab irgendwo gehört, du solltest unser Brot aufstocken gehen.«

Der winkte ab.

»Ich weiß, ich weiß. Aber das hier kam uns wichtiger vor.« Und mit einem verschmitzten Lächeln ergänzte er: »Und ja, mehr Spaß hat es auch gemacht.«

Jay nahm neben Freddy Platz.

»Wieso habt ihr mich befreit?«, fragte er den Blondschopf.

»Du sahst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen. Und ehrlich gesagt … nicht wirklich wie ein Schwerverbrecher.«

Freddy kreiste mit einem Finger in der Luft Jays äußeres Erscheinungsbild ein.

Tilia hingegen blickte ihn nachdenklich an.

»Wir sind eine kleine Gruppe von Kindern ohne Heim«, begann sie schließlich zu erklären. »Kinder, die ihre Eltern verloren haben oder anders auf der Straße gelandet sind. Oder es schon immer waren. Kurzum, wir hatten nichts und haben uns das hier aufgebaut.«

Jay sah erstaunt in die Gesichter der Gruppe.

»Ihr alle hier habt kein eigenes Zuhause?«

Einige schüttelten zur Bestätigung den Kopf.

Tilia fuhr fort.

»Wir haben gelernt, für uns selbst zu sorgen. Nur unser Versteck hier, das haben wir aufgrund der Nettigkeit und dem Verständnis einer alten Dame erhalten. Eine herzensgute Frau, die uns verstand. Sie ermöglichte uns, ein eigenes Leben aufzubauen, bis wir alt genug sind, um hoffentlich irgendwo Arbeit zu finden.«

»Aber euer Essen …«

»Ist geklaut, ja. Aber wir nehmen ausschließlich, was wir zum Überleben brauchen und achten dabei darauf, den Händlern nur ein kleines Übel zu sein. Nicht zuletzt zu unserer eigenen Sicherheit.«

Im Verschwörerton fügte Freddy hinzu: »Die Stadtwache weiß, dass es uns gibt oder müsste es zumindest ahnen. Aber solange keine größeren Probleme auftauchen … Na ja, man könnte sagen, uns zu suchen ist ihnen den Aufwand nicht wert. Zumal es hier im Viertel auch ganz andere Diebe und noch viel Schlimmeres gibt.«

Tilia nickte zustimmend.

Jay war fassungslos ob des Schicksals dieser Kinder und zugleich beeindruckt von ihrer Stärke und ihrem Zusammenhalt.

»Tja, das soweit von uns«, schloss Tilia ihre kurze Einführung ab, die sie sicher nicht zum ersten Mal erzählte. »Aber wer bist du denn nun? Woher kommst du?«

Jay holte Luft.

»Ich komme aus Ilmerun. Letzte Nacht bin ich aus der Stadt in den Ilmery geflohen, und dort hat mich leider die Taliswache abgefangen.«

Er lachte kurz auf.

»Was auch immer ich mir dabei gedacht habe.«

Tilias Interesse war geweckt.

»Die Taliswache? Talis liegt doch eher nahe unserer Stadt. Den ganzen Weg bist du gelaufen?«

»Nein, nein, geritten.«

Dabei fiel Jay ein, dass Dipo ja immer noch im Dorf sein musste oder es hoffentlich noch war. Er konnte ihn da doch nicht einfach im Stich lassen.

Ein Raunen ging durch den Raum. Tilia schien ehrlich verwundert.

»Aber du hast das Pferd nicht gestohlen«, wollte sie klarstellen.

»Nein, wieso glauben das alle?«, entgegnete Jay mit leichter Entrüstung. Er schloss die Augen und holte Luft.

»Die ganze Geschichte ist: Mein Vater ist der Stadthalter von Ilmerun. Und ich bin von zu Hause weggelaufen, um meinem Vater zu entfliehen. Mein Bruder wurde vor einem Tag entführt und … er war der einzige wirkliche Grund, weshalb ich über die Jahre noch zu Hause geblieben bin.«

Diese Tatsache wurde Jay erst in diesem Moment wirklich bewusst.

»Hat er dich gehauen?«, fragte ein kleiner Tiranenjunge zurückhaltend.

Jay schüttelte resigniert den Kopf.

»Nein, das nicht …«

»Dir kein Essen mehr gegeben?«, hakte ein Mädchen nach.

»Was? Nein auch nicht«, entgegnete Jay unwirsch. In seinem Gesicht zeichnete sich deutlich ab, wie er versuchte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dies wollte aber nicht wirklich glücken.

»Nein, es war mehr wie … Ich konnte einfach nicht mehr dort bleiben. Ich habe mich immer alleingelassen gefühlt, ungerecht behandelt und ignoriert.«

Es kostete ihn einige Mühe, diesen völlig fremden Kindern Teile seiner Gefühlswelt preiszugeben. Gleichzeitig hatte er den Eindruck, dass seine Worte in keiner Weise die erhoffte Wirkung erzielten, denn Verständnis meinte er in den Augen der anderen nicht zu erkennen – eher das Gegenteil. Schließlich fuhr er fort: »Deswegen bin ich jedenfalls aus dem Haus geflohen, habe mein Pferd geschnappt und bin mehr oder weniger planlos aus der Stadt. Na ja, und nachdem ich ewige Zeit unterwegs war und eigentlich schon umdrehen wollte, hat mich die Nachtwache erwischt. Vermutlich wäre ich am Ende mit viel Ärger wieder zu Hause gelandet, aber wenn ich ehrlich bin … Inzwischen weiß ich nicht mehr, ob ich überhaupt zurück möchte.«

Für einen Moment herrschte Stille im Raum.

Dann zog Tilia die Augenbrauen zusammen.

»Oh buhuu …«

Ohne weiteren Kommentar stand sie auf, ließ den verdatterten Jay sitzen und ging mit großen Schritten Richtung Ausgang. Freddy hob den Kopf und rief ihr nach.

»Tili, jetzt warte doch mal. Wo willst du denn hin?«

»Vorräte aufstocken. Wenn du’s nicht gepackt bekommst, mach ich das eben.«

Im Weggehen murmelte sie leise weiter.

»Sohn des Stadthalters … weggelaufen, na, wenn's denn so furchtbar war.«

Jay blickte verständnislos zu Freddy.

»Hab ich was Falsches gesagt?«

Der seufzte.

»Nein, nichts Falsches. Sie beruhigt sich wieder. Wenn du magst, bleib eine Weile hier. Brauchst du irgendwas zu essen oder zu trinken?«

* * *

Naragh hatte sich kaum hingelegt, da weckte ihn schon das Sonnenlicht in seinem bescheidenen Zimmer. Jirina, die Hausherrin, war letztlich doch eine sehr hilfsbereite Gastwirtin gewesen, die ihm eines der größeren Zimmer in der Taverne zur Verfügung gestellt hatte. Sie wäre es, wie sie sich ausdrückte, »nur leid, von diesen Karais wachgeklopft zu werden, die mitten in der Nacht immer noch nicht genug Bier in den Rachen gekippt haben.«

Letztlich hievte sich der Botschafter widerwillig aus seinem Bett, und schon bald waren Artos und er wieder unterwegs, um im Laufe des Tages Ilmerun zu erreichen.

Erst zweimal war er in diesem beschaulichen Städtchen nahe der Küste gewesen, und auch das war bereits lange her. Dementsprechend hatte er beim Betreten von Ilmerun zunächst einige Orientierungsprobleme. Schließlich half ihm ein freundlicher Passant weiter und wies dem breitschultrigen Tiranen den Weg zum Herrenhaus des Stadthalters.

Inzwischen deutlich wacher ging der Botschafter durch den ordentlich zurechtgemachten Vorgarten bis zum Wächter an der Eingangspforte.

»Botschafter Naragh, zu Euren Diensten. Und mit einem Brief für den Stadthalter.«

Naragh persönlich hasste es, die Post zu spielen und war froh über jeden Brief, den er an Botenjungen weitergeben konnte. Nur zu gerne nutzten die Stadthalter diese Augenblicke als Gelegenheit, die Botschafter als einfache Laufburschen dastehen zu lassen. Auch wenn sie offiziell auf einer Stufe standen, neigten einige der Stadtherren dazu, sie von oben herab zu betrachten, weil die Botschafter für gewöhnlich keinen großen Grundbesitz, kein prunkvolles Haus und keine Dienerschaft ihr Eigen nennen konnten. Doch manche Schreiben erforderten erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und in so einem Fall gab es keinerlei Ausflüchte.

Die Halle des Hauses wirkte auf ihn sehr ausladend, mit ihren großen, glatten Bodenkacheln, die sich in sauberem Karomuster ausbreiteten, mit der hohen Decke und der breiten Treppe, die hinauf in den ersten Stock auf eine Galerie führte.

Ein piekfein zurechtgemachter Diener erblickte ihn und erkundigte sich höflich nach seinem Anliegen.

»Persönliche Übermittlung an den Hausherren.«

»Sehr wohl, Botschafter. Wartet einen Moment.«

Der Moment stellte sich für Naraghs Geschmack als etwas zu lange heraus, doch schließlich kam der Stadthalter Rojan aus dem hinteren Bereich der Eingangshalle aus einem Flur geschritten.

Etwas distanziert und gedanklich abwesend nahm er den Brief an sich und öffnete ihn.

Während der Besucher sich weiter in der Halle umblickte, kam eine Dame die große Treppe aus dem ersten Stock hinunter.

Naragh grüßte freundlich.

»Ein Botschafter!«, entfuhr es der Dame. »Seid willkommen.«

Wirklich willkommen fühlte sich Naragh eigentlich nicht, da er immer noch in der Eingangshalle herumstand und Stadthalter Rojan keine Anzeichen machte, dies ändern zu wollen. Die Dame jedoch schien plötzlich einen Einfall zu haben. Mit eiligen Schritten kam sie näher.

»Sagt, wisst ihr etwas über meine Söhne, Botschafter?«

Rojan, der die Nase weiter in seinen Brief gesteckt hielt, wies sie beiläufig ab.

»Ach, Juna, woher soll er das denn wissen? Danke hierfür, Botschafter. Ich brauche Eure Dienste nicht mehr.«

Nachlässig wedelte er mit einer Hand Richtung Tür. Naragh fielen spontan einige frostige Bemerkungen zu der arroganten Abfertigung ein, er sparte sich aber alle davon. Die Dame des Hauses wirkte hingegen deutlich bedrückt und von Trauer geprägt.

»Ich bin leider nur auf der Durchreise, werte Dame. Aber worum geht es denn?«

Der Stadthalter hätte wohl gerne auf die weitere Anwesenheit des Botschafters verzichtet, doch seine Gattin begann zu erzählen, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Ihr Sohn sei in der Nacht von Tiranen entführt worden und bald hatte sich herausgestellt, dass auch mehrere andere Menschenkinder der Stadt dem gleichen Schicksal zum Opfer gefallen waren. Bekannt waren der Stadtwache inzwischen ganze neun Fälle.

Naragh lauschte gebannt den Ausführungen über diese seltsamen und unheimlichen Ereignisse. Von Entführungen dieser Größe in so kurzer Zeit hatte er noch nie gehört. Zudem wurde ihm von der Betäubung der Hauswache berichtet, die offenbar binnen weniger Sekunden außer Gefecht gesetzt worden war. Auch das hörte sich in seinen Ohren sehr abenteuerlich an und, wie er ebenfalls gedanklich einräumen musste, etwas unglaubwürdig.

Da fiel ihm der Junge von letzter Nacht wieder ein. Der Junge, der in Talis so zurückgezogen in der Arrestzelle gehockt hatte und wohl aus Richtung Ilmerun gekommen war. War das eines dieser verschwundenen Kinder gewesen? Er erzählte von ihrem zufälligen Treffen.

»Dunkelbraunes kurzes Haar hatte er und trug ein braunes Wams mit dunkelgrüner Hose. Auf einem Pferd war er unterwegs.«

Im Gesicht des Stadthalters begann sich ein eigenartiger Gesichtsausdruck zu formen, den der Botschafter nicht richtig deuten konnte. Seine Frau wirkte indes sowohl erleichtert als auch besorgt.

»Jay …«, murmelte sie beinahe tonlos.

Und Naragh erfuhr darüber hinaus noch von einem Einbruch in die Stallungen des oberen Rings in der letzten Nacht, und wie die Stadtwache auf absurdeste Art und Weise an der Nase herumgeführt worden war. All das ging anscheinend zu Lasten des jungen Jeradija, dem jüngeren der beiden Söhne dieses Hauses.

Aber keines der entführten Kinder.

Rojans Stimmung wechselte binnen eines Augenblicks. Eindringlich fragte er den Botschafter, ob Jay ins Stadtgericht von Tenkun gebracht worden sei.

Der bejahte.

»In Ordnung, Botschafter«, sagte er mit ernster Miene.

Damit war sein Besuch wohl endgültig als beendet erklärt, denn der Stadthalter drehte sich um und entfernte sich ohne weiteren Kommentar. »Reizend«, dachte Naragh. Auch Rojans Frau blickte ihrem Mann für einen Moment hinterher und hob dann entschuldigend die Hände. Auf halbem Weg hielt der Stadthalter jedoch noch einmal inne.

»Botschafter, wann genau habt Ihr meinen Sohn in Talis aufgefunden?«

Naragh presste die Lippen zusammen.

»Bedaure, darüber kann ich keine Auskunft geben. Schließlich werden meine Dienste nicht mehr gebraucht. Wünsche noch einen angenehmen Tag.«

* * *

Im Versteck der Straßenkinder wartete Jay auf Tilias Rückkehr.

Freddy hatte ihn aufgeklärt, dass ihre Anführerin und letztlich sie alle sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen konnten, als ein eigenes Haus mit einer richtigen Familie zu haben. Eben friedlich aufzuwachsen. Jay hatte verstanden. Aber waren seine Probleme deswegen weniger gerechtfertigt?

Außer ihnen war nur noch das jüngere Mädchen anwesend, welches zuvor mit Tilia eingetreten war. Minja, wie sie hieß, arbeitete gerade an einer Planung der Vorräte. Nur einige der Streuner waren überhaupt in der Lage zu lesen, aber schreiben, das konnte nur sie allein, wie sie Jay nicht ohne Stolz erzählte. Während sie auf einen Zettel einige Worte und Zahlen kritzelte, schielte sie ab und zu interessiert herüber zu den beiden Jungs.

Diese saßen sich gegenüber an einem Tisch, an dem Freddy Jay gerade in der Kunst des Schlösserknackens unterwies. Vor ihnen lag ein loses Vorhängeschloss, an dem der Straßenjunge geschickt mit einem Dietrich herumwerkelte. Währenddessen gab er Jay Erläuterungen, die dieser konzentriert nachzuvollziehen versuchte. Schließlich gab es einen Klick, und das Schloss öffnete sich. Freddy drückte den Bügel wieder zusammen und reichte ihn Jay.

»Jetzt du.«

Jay machte sich mit Eifer am Schlüsselloch zu schaffen. Während er nach einiger Zeit immer noch auf einen Fortschritt hoffte, öffnete sich der Eingang und Tilia trat ein, auf dem Rücken einen prall gefüllten Sack.

Sie stellte ihn behutsam in die Ecke mit den zwei Kisten und ging zum Tisch, wo Jay just in diesem Moment unter einem freudigen »Jawoll!« seines Lehrers das Vorhängeschloss besiegt hatte.

Tilia betrachtete die Arbeit.

»Das war nur ein leichtes.«

Freddy rollte lächelnd mit den Augen.

»Egal, es ging trotzdem schnell fürs erste Mal.«

Jay wandte sich zu ihr um.

»Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.«

Ohne eine passende Erwiderung setzte sich Tilia zu ihnen. Statt darauf einzugehen, knüpfte sie an ihre kurze Unterredung zuvor an, als wäre dazwischen nichts gewesen.

»Ich kann mir wirklich nur schwer vorstellen, warum man sein warmes Zuhause freiwillig aufgibt.«

»Freiwillig … das ist etwas komplizierter.«

»Gut, vielleicht versuchst du’s mir dann nachher einfach noch einmal zu erklären.«

Freddy nickte ihr aufmunternd zu. Jetzt war es an Tilia, die Augen zu verdrehen.

»Die Sache mit deinem entführten Bruder klingt ziemlich mies, das tut mir leid. Mir ist dazu eben noch etwas eingefallen. Einer Händlerfamilie hier ganz aus der Nähe wurde gestern Nacht auch ein Sohn entführt. Ein eigenartiger Zufall, finde ich.«

Jay wurde hellhörig.

»Von Tiranen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich habe Bojo und Pia getroffen, sie wollen versuchen, mehr in Erfahrung zu bringen.«

Jay war überrascht über diese plötzliche Hilfsbereitschaft.

»Ihr bekommt viel mit, was?«

»Fast niemand beachtet die Kinder auf den Straßen. Das ist ziemlich nützlich, manchmal.«

Sein geöffnetes Schloss begutachtend fuhr Jay nach kurzem Schweigen fort: »Könnte ich vielleicht eine Weile hierbleiben? Ich könnte mich auch nützlich machen.«

Tilia stand wieder auf.

»Ich wüsste ehrlich nicht, wie du das machen willst.«

»Schlossknacken und anderes kann ich doch lernen.«

Da wurde die Anführerin der Gruppe wieder gereizter.

»Bemüh dich auch noch drum. Ist dir klar, dass wir das hier nicht zum Spaß machen?«

Jays Blick wurde fester.

»Ich weiß, du glaubst, ich sei nur ein verzogener Junge reicher Eltern. Aber du kannst mir glauben, leicht hatte ich es auch nicht. Und es mag sein, dass ihr euch das hier aus der Not aufgebaut habt, aber das …« Er machte eine Geste, die das ganze Versteck einbezog. »Das hier ist doch auch ein Zuhause. Und etwas Beneidenswertes, vielleicht sogar gerade, weil ihr es aus eigener Kraft erschaffen habt.«

Ohne weiteren Kommentar ging Tilia kopfschüttelnd ins Nebenzimmer. Die Jungs schauten ihr nach.

Dann kam sie noch einmal heraus und gab Jay zu verstehen, dass er ihr folgen sollte.

Die andere Kammer war wesentlich größer als er zunächst angenommen hatte. Nach hinten waren provisorische Schlafstätten eng nebeneinander aufgebaut, die meisten mit Stroh gefüttert. Einige offene Kisten und vereinzelte alte Truhen standen an den Wänden des Raumes verteilt. Jay zählte vierzehn Plätze.

Ganz hinten, vom Wohnbereich aus nicht zu sehen, stand ein etwas weniger heruntergekommenes Bett mit einer dicken Matraze. Zu Jays Verwunderung lag dort auf der Seite zusammengekauert, den Blick abgewandt, ein kleiner Junge. War er schon die ganze Zeit da gewesen?

Tilia blickte ebenfalls zu dem Knaben.

»Das ist Moki. Zumindest nennen wir ihn so. Freddy hat ihn zufällig vor ein paar Wochen in einer Gasse des Viertels getroffen, halb verhungert in einer vernagelten Kiste. Seit wir ihn hierhergebracht haben, hat er noch kein einziges Wort gesprochen.«

Jay sah erschüttert zu dem Jungen herüber. Der drehte den Kopf um und blickte zu ihnen. Während er sich umdrehte, konnte Jay deutlich die tiefen Narben sehen, die sich rings um seinen Hals zogen. Ein winziges Lächeln entfuhr dem blassen Gesicht, als Moki die Hand zum Gruß hob. Doch Jay sah sie genau – die Furcht und Verstörtheit in den Augen dieses kleinen Kerls. Auch er hob zaghaft die Hand.

Tilia winkte lächelnd zurück und zog Jay wieder aus der Schlafkammer. Am Tisch, wo Freddy sie aufmerksam beobachtet hatte, nahm sie das lose Vorhängeschloss und drückte den Bügel zu. Zusammen mit dem Dietrich reichte sie es Jay.

»Ich schätze, jeder hat wohl seine Probleme. Aber nicht jeder kann sie einfach mit jedem teilen, oder?«

* * *

Nachdem Naragh in der Ilmeruner Stadtwache Meldung gemacht hatte, war Tenkun sein nächstes Ziel. Zurück über das Walddorf Talis beeilten Artos und er sich, um vor Einbruch der Dämmerung die Bezirkshauptstadt zu erreichen. Mit etwas Glück konnte er seinen zweiten Brief noch am gleichen Tag abliefern und wieder seinem gewohnten Tagewerk nachgehen.

Doch als er etwas später als erwartet schließlich das Stadttor durchquerte und am großen Marktplatz vorbei hinauf zur Burg ritt, erwartete ihn eine höfliche, aber unumstößliche Abweisung von der Wache vor dem Haupthaus.

»Tut mir leid, Botschafter. Der Stadtfürst ist bereits zu Tisch gegangen.«

»Bedauerlich«, entgegnete Naragh zerknirscht.

»Kann ich etwas ausrichten oder annehmen?«

Der Botschafter schüttelte den Kopf.

»Persönliche Übergabe. Aber besten Dank.«

»Dann versucht Ihr es am besten gleich morgen früh noch einmal.«

Etwas verärgert, weil er sich umsonst beeilt hatte, zog Naragh wieder ab. Ihm wurde zwar angeboten, auf der Burg zu nächtigen, doch für gewöhnlich zog er die Atmosphäre eines Gasthauses vor, zumal eines am großen Marktplatz stand, das er von früheren Besuchen her kennen und schätzen gelernt hatte. Es besaß bequeme Betten, einen ausladenden Stall für seinen schwarzfelligen Begleiter und eine wunderbar gepflegte Schankstube.

Bevor er die mächtige Festung verließ, schaute er pflichtgemäß im Hauptquartier der Stadtwache vorbei, deren Sitz sich neben dem großen Eingangstor an der Innenseite der Burgmauer befand.

Der Tiran Deragh war Hauptmann der Tenkuner Stadtwache und ein guter Freund Naraghs. Seit er vor einigen Jahren noch als Leibwache mit eigener Klinge einen versuchten Mord am Stadtfürsten Harthor verhindert hatte, war er mit beeindruckender Geschwindigkeit bis ganz nach oben aufgestiegen.

Nun stand er vor einem Haufen von Briefen und offenen Büchern an einem breiten Schreibpult und freute sich offensichtlich sehr über die späte Ablenkung an diesem Tag.

Der eingetroffene Besucher fragte ihn nach besonderen Vorkommnissen, gerade in den letzten Tagen. Deraghs Gesicht verhärtete sich merklich.

»Eine wirklich eigenartige Sache. Es begann vorgestern Nacht, als wir Meldung von einem Bäckermeister erhielten, der völlig aufgelöst erst eine Stadtpatrouille und anschließend den diensthabenden Wachoffizier aufmischte. Sein Sohn sei von einer Bande Tiranen entführt worden, seine Frau ohnmächtig und niemand wäre zu Hilfe geeilt. Tatsächlich war der Sohn weg, und die Geschichte deckte sich mit der Version der Ehefrau. Wir waren etwas ratlos, da niemand anderes etwas gesehen hatte, keine Wachen und auch sonst keine Seele. Doch als wäre das nicht genug, wurde das Ganze immer seltsamer. Noch in derselben Nacht erhielten wir Meldung von drei weiteren betroffenen Familien, alle mit ähnlichen Beschreibungen.«

Deragh blickte auf das dicke und vielbenutzte Buch vor sich und klappte den Wälzer mit einem dumpfen Schlag zu.

»Und dann, am nächsten Tag, war damit auch kein Ende in Sicht. Ich hatte inzwischen Meldung beim Fürsten gemacht, der uns dringend nahelegte, die Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt zu erhöhen. Doch schon abends meldeten ganze dreizehn Familien, dass ihre Söhne oder Töchter nicht nach Hause gekommen wären. Ich sage dir, ich habe noch nie so viele aufgelöste Menschen gesehen.«

Mit wachsender Unruhe verfolgte Naragh die Ausführungen seines Freundes. Diese Geschichte schien wirklich ungeahnte Ausmaße anzunehmen.

Der Botschafter erzählte seinerseits von den Geschehnissen in Ilmerun und beobachtete, wie der Hauptmann von Tenkun stumm den Mund öffnete und wieder schloss.

»Naragh, eine Sache habe ich dir noch nicht erzählt.«

Er holte Luft und sah seinem Gegenüber eindringlich in die Augen.

»Gestern Nacht verschafften sich drei oder vier bis zur Unkenntlichkeit vermummte Tiranen Zugang zur Burg unseres Fürsten. Und auch seine jüngste Tochter fanden und verschleppten sie.«

Naragh schwieg eine ganze Weile, bevor er antwortete.

»Wurde jemand verletzt?«

Energisch winkte Deragh ab.

»Ach was, verletzt. Das war überhaupt nicht nötig. Mit irgendeinem Giftgemisch haben sie binnen Sekunden, vollkommen lautlos, die Soldaten auf ihrem Weg außer Gefecht gesetzt. Eine Patrouille kam von ihrem Weg durch die Stadt zurück und sah die betäubten Wächter vor dem Burgtor und Hauptturm. Der Gruppenführer schlug Alarm, doch es war schon lange zu spät. Wir durchkämmten die Burg und weite Teile der Umgebung unter größten Bemühungen, aber niemand war aufzufinden. Und die Tochter des Fürsten war verschwunden.«

In Naraghs Kopf arbeitete es fieberhaft. Wie konnte das alles in so kurzer Zeit bewerkstelligt werden? Ihm wurde klar, dass solch ein Vorhaben nur von langer Hand geplant sein konnte. Aber welchen Zweck die Unbekannten damit verfolgten, blieb nicht nur ihm weiterhin verborgen.

Er kam auf den Jungen aus der Arrestzelle in Talis zu sprechen, über den Deragh ebenfalls einiges zu berichten hatte. Der Hauptmann erzählte von einem Überfall auf zwei Wächter aus Talis, die tatsächlich einen Jungen beim Gericht hatten abliefern wollen. Dieser war allerdings offensichtlich mit der Hilfe streunender Kinder entwischt.

Deraghs Theorie, es könnte sich bei dem Entflohenen um eines dieser Straßenbälger handeln, wies Naragh ab und erzählte seinem Freund die ganze Geschichte des mutmaßlichen Sohns der Stadt Ilmerun.

»Uff, was für eine Woche …«, stöhnte der Hauptmann und legte die Hand an die Stirn. »Unteroffizier Kojak aus Talis ist noch bis morgen in der Stadt, falls sich kurzfristig etwas Neues ergeben sollte und ein detaillierterer Bericht notwendig ist. Sollte das wirklich der Sohn von Rojan gewesen sein, könnte das sogar gut passieren. Aber wenn du dir Hoffnung gemacht hast, den Knaben ausfragen zu können, muss ich dich wohl vorerst enttäuschen.«

Es wäre tatsächlich interessant gewesen, ob der Junge mehr wusste, als es den Anschein gemacht hatte, ging es Naragh durch den Kopf. Nachdenklich verließ er kurze Zeit später die Stadtwache und begab sich durch die warme Abendluft zum großen Marktplatz.

Vielleicht gab es ja doch irgendeine Möglichkeit, ihn zu erwischen – falls er überhaupt noch in der Stadt war.

Die Schatten von Mernor

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