Читать книгу Die Schatten von Mernor - Leonard N. Meyer - Страница 8
Оглавление1 Eine düstere Nacht
Wo findet man sein Glück?
Das war eine Frage, die ich mir des Öfteren dieser Tage stellte. Auf der Suche danach musste ich jedenfalls irgendwo auf Abwege geraten sein, denn anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich unter Donnergrollen, vom Regen nass bis auf die Haut, in tiefster Nacht durch den Ilmery Forst ritt. Mit nichts als zwei Briefen, für die ich den gesamten Weg von der Landeshauptstadt bis an die Westküste reisen durfte.
Mein treuer Rappe Artos schien meinen Groll zu teilen, zumindest wirkte sein Galopp nicht so weich und rasend wie sonst. Erst in die Stadt Ilmerun nahe der Küste und anschließend zurück über Tenkun, soweit der Plan. Doch für diese Nacht war bei mir das Maß voll. Glücklicherweise erreichte ich schon bald das Walddörfchen Talis, eine kleine Siedlung unweit der Bezirkshauptstadt.
»Als Botschafter seht ihr die Welt«, hatten sie gesagt. »Ihr dient dem Reich als Beauftragte unserer Fürsten, seid ein Pfeiler unseres Lebens.«
Dass diese blumige Darstellung auch eine Kehrseite hatte, wollte ich damals wohl nicht wahrhaben. So oft fernab von Zuhause, dass man fast vergisst, wie es eigentlich aussieht. Ewiges Reiten, wenn gefordert auch im stärksten Unwetter bei Nacht.
Durch den nicht enden wollenden Regen stapfte Artos müde an finsteren Häusern vorbei, in denen Menschen und Tiranen vermutlich ihren warmen Betten die Aufwartung machten. Ich erblickte den Dorfbrunnen und dahinter die Wachstube, eines der wenigen Gebäude aus Stein und das einzige, in dem noch Licht brannte. Nachdem ich abgestiegen war, trottete Artos unter ein Holzdach neben der Wache, wo ein weiteres Pferd angebunden vor einem Futtertrog stand.
Naragh öffnete die Tür und trat, den Kopf leicht geduckt, ein. Für seine Maße war der Türrahmen ein wenig zu klein geraten. Das konnte auf dem Land zuweilen passieren, vor allem in Gegenden, wo nur wenige oder gar keine Tiranen lebten. Der Wachsoldat, der bis eben ruhig an seinem Schreibtisch gesessen und über einem Bogen Papier gebrütet hatte, fuhr unwirsch auf.
»Klopf gefälligst an, Mann!«
»Botschafter Naragh, zu Euren Diensten.« Damit hielt der nächtliche Besucher seine vom Regen tropfende blaue Hand mit einem auffälligen Ring vor die Brust und nickte zum Gruß.
Tiefblaue Hautfarbe galt unter den Tiranen – trotz zahlloser Gegenbeispiele – immer noch insgeheim als Zeichen von Weisheit und geistiger Größe, wogegen übermäßiges Graublau und hellere Facetten im Hautton die kriegerische Gesinnung offenbaren sollten. Wenngleich Naragh weder fand, dass diese Dinge getrennt werden sollten, noch dass es irgendeinen Anhaltspunkt dafür gab, konnte er sich unter diesem Aspekt zumindest als glatten Durchschnitt bezeichnen. Vielleicht mit einem gewissen Hang zur Weisheit.
Naragh musste ein Lachen unterdrücken, als der Wachsoldat fast vom Stuhl fiel, bevor er aufsprang und ebenfalls den Kopf zum Gruß senkte.
»Verzeiht mein Verhalten, ich habe nicht mit einem Botschafter gerechnet.«
»Lasst mal, Herr …« Fragend blickte Naragh ihn an.
»Dorjan. Diensthabender Hauptwachmann, Botschafter.«
»Gut, Dorjan. Lasst uns das Formelle hinter uns bringen. Ich brauche wirklich dringend ein Bett.«
»Natürlich, Botschafter. Einen Moment.«
Der Besucher winkte ab.
»Und lassen wir das mit dem Botschafter.«
Dorjan ging an ein hohes Regal. Diverse teils zerfledderte Bücher türmten sich darin auf. Sein Besucher hingegen schritt gemächlich vor den brennenden Kamin und wärmte sich die Hände.
»Was treibt Euch bei diesem Wetter noch durch die Nacht?«
Naragh seufzte.
»Die Pflicht, Dorjan, nichts als die Pflicht. Sagt, das Gasthaus auf der anderen Seite des Platzes ist auch nachts geöffnet?«
»Jirina schläft inzwischen vermutlich, aber klopft nur kräftig«, antwortete der Wachsoldat, während seine Augen auf eine Reihe besonders gebraucht aussehender Bücher gerichtet waren. Mit einem kleinen Lächeln über die Schulter fuhr er fort: »Aber geht in Deckung, wenn sie öffnet. Sie ist immer etwas ungehalten, wenn sie jemand aus dem Schlaf holt.«
Schließlich wurde Dorjan fündig, nahm ein Buch aus dem Regal und schlug es auf seinem Schreibtisch auf. Er blätterte zur vorerst letzten Seite und fuhr die Reihen hinunter.
»Dachte ich's mir doch. Sechs Tage, seit euer Amtsbruder Hajoka hier war.«
»Ach Hajoka, schau an. Gut, irgendetwas Wichtiges seitdem?«
Dorjan nahm eine Schreibfeder und trug Datum und seinen Namen unter dem letzten Eintrag ein.
»Nicht wirklich, nein. Joan, der Holzfäller, ist seit zwei Wochen mit der Pacht hinterher.« Sogleich hob der Wachmann abwehrend die Hände. »Aber das wird sich die Tage klären, also kein Grund für Euch, einzugreifen.«
Als er fertig war, drehte Dorjan das Buch um und schob es Naragh entgegen, der sich nur widerwillig vom prasselnden Feuer entfernte.
»Setzt Euer Zeichen.«
Während Dorjan eine Schublade öffnete und einen weiteren Wälzer hervorholte, nahm Naragh ebenfalls eine Feder und begann, etwas neben die Aufzeichnungen des Wachsoldaten zu kritzeln. Anschließend drehte er das Buch zurück.
»Und Euren Ring, bitte.«
Für einen Moment legte der Besucher seine flache Hand auf den Tisch und präsentierte das im Ring eingravierte Symbol. Dorjan betrachtete das Schmuckstück und blätterte in dem anderen Buch herum.
Naragh ließ seinen Blick durch die Wachstube schweifen. Neben dem Schreibtisch und zwei Regalen sowie einer größeren Karte der Region an der Wand gab es nur eine Sitzbank und einen kleinen Beistelltisch neben der Tür. Kein Gerümpel, kein Schmutz, wenn man von dem mit halbfeuchtem Schlamm verdreckten Holzfußboden einmal absah. Im hinteren Bereich waren mit Metallstreben zwei Gefängniszellen eingebaut.
Und erst jetzt sah er, dass sie wider seiner Erwartung nicht leer waren. In der kleineren von beiden, mit hochgezogenen Füßen auf einer Pritsche sitzend, blickte ihn ein Menschenjunge forschend an.
Ilmerun, einen Tag zuvor
»… und es war der große General Joran, der trotz aller Widerstände auf den klaren Sieg der Menschen verzichtete und so den Weg für eine langfristige Einigung der Völker ebnete.«
Meister Illustran schritt die Reihen seiner Schüler langsam und hoch erhobenen Hauptes ab, während seine Reibeisenstimme den gesamten Raum erfüllte.
»Und dieses historische Ereignis wird sich in ein paar Monaten das wievielte Mal in Folge jähren?«
Stille.
Scharf blickte der Meister in die Runde.
»Jay.«
Der Junge, vor dem er stehen geblieben war, hatte dunkelbraunes Haar und trug ein einfaches, wenn auch aus teurem Stoff geschnittenes Hemd. Er schien aus irgendeinem tiefen Gedanken gerissen zu werden und fuhr hoch.
»Äh …«
»Falsch.«
Ein Prusten ertönte aus der vorderen Reihe.
»Worüber lachst du jetzt? Über die Unkenntnis?«, wies der Meister den Übeltäter zurecht.
Schweigend, mit zusammengepressten Lippen, schüttelte der Angesprochene den Kopf.
Murmelnd ging der Meister zurück nach vorne.
»Da kann man auch nicht mehr drüber lachen. So wie ich das sehe, habt ihr alle keine Ahnung.«
Er hob den Zeigefinger, als er neu ansetzte.
»Einhundertfünfzehn Jahre ist dieses bedeutende Ereignis nun her.«
In der Klasse von Meister Illustran saßen vierundzwanzig jüngere Schülerinnen und Schüler, die seinen Ausführungen wie gewohnt mal mehr, mal weniger aufmerksam folgten. In den vorderen Reihen waren die Menschen platziert, und auf den hinteren Bänken – wegen ihrer größeren Statur – saßen die Tiranenkinder, sodass ein außenstehender Zuschauer deutlich einen auffälligen Farbwechsel von beigebraun zu blaugrau hätte sehen können.
Milina, eines der Tiranenmädchen, hob die Hand. Mit einem stummen Händewedeln forderte Meister Illustran sie auf zu sprechen.
»Sie sagten, diese letzte Schlacht fand bei Linkran statt. Aber wo liegt das?«
Mit Schwung bewegte sich der Meister zu einer an der Wand eingerahmten Karte des Kontinents.
Der Fokus des Plans lag auf dem Reich der Mitte, ihrer Heimat. Darüber war deutlich das Tiranenland Karnor abgebildet, ebenso wie die beiden nur von Menschen besiedelten südlichen Staaten Desteral und Huwaik. Meister Illustrans Finger stürzte geradezu auf einen Punkt nahe der Grenze zum Land Karnor.
»Hier. Linkran war eine kleine Siedlung nahe der Nordgrenze. Heute sind dort allerdings nur noch verfallene Hütten. Das ist, was ich meine«, fuhr er an seine Schützlinge gewandt fort. »Genau das ist die Aufmerksamkeit, die ich mir gerne die gesamte Zeit über …«
Ein Gong ertönte von außerhalb und ließ ihn innehalten. Einige Atemzüge lang starrte der Meister aus einem Fenster auf den grasbewachsenen Vorhof der Schule.
»Gut. Macht, dass ihr nach Hause kommt.«
Als bereits das Rumpeln der aufstehenden Meute den Raum erfüllte, fügte er hinzu: »Und morgen erwarte ich deutlich mehr geistige Aktivität, verstanden? Jeder Trottel kann halbgare Fragen stellen und sich beteiligen, auch alle hier im Kurs.«
Jay, dreizehn Jahre alt und der jüngere Sohn des Stadthalters von Ilmerun, trat gemächlich aus dem alten Schulgebäude auf den begrünten Vorhof. Noch während er die paar ausgetretenen Stufen vor dem Portal hinabstieg, sah er seinen Bruder Olja auf dem Hof mit ein paar Mitschülern sprechen. Olja, ein Jahr älter als Jay und das Muster für gutes Benehmen und Fleiß der gesamten Jugend von Ilmerun, entdeckte ihn und winkte. Der Jüngere stiefelte quer über die Wiese zu ihm herüber, vorbei an einigen Mitschülern, die sich angeregt über etwas unterhielten, das er nicht richtig verstehen konnte. Etwas weiter weg sah er einen Tiranen- und zwei Menschenjungen, die im Schatten einer alten Buche um ein kleines Spielzeug rangelten. Schließlich schnappte sich der Tiranenjunge den hölzernen Gegenstand und hielt ihn außer Reichweite der anderen, was diese mit lautem Gezeter über Ungerechtigkeit quittierten.
»Mann, Jay. Wie ich höre, warst du heute wieder voll dabei?«, schalt ihn sein Bruder mit einem nachlässigen Kopfschütteln.
Dieser winkte ab.
»Jaja, ich konnt‘ mich vor Spannung kaum wachhalten. Bin sozusagen vor Interesse auf die Tischplatte gefallen.«
Schon war das Thema für ihn erledigt. »Hey, hast du Lust, noch zur Küste zu reiten?«
Sein Bruder schien offensichtlich seine Probleme mit diesem Vorschlag zu haben.
»Du weißt, dass Pa heute Abend hohen Besuch aus Tenkun hat, oder?«
»Wir müssen ja nicht lange. Wir waren nur schon ewig nicht mehr dort, und der Tag heute ist wie gemacht dafür.«
Zur Untermalung seiner Argumentation breitete Jay die Arme aus und atmete unnötig stark ein und aus.
»Ja, wie gemacht dafür. Bis auf die Tatsache, dass wir pünktlich zum Abendessen zurück sein müssen«, klärte ihn Olja noch einmal auf.
Spöttisch erwiderte Jay: »Dann musst du eben mal schneller sein.«
»Weißt du, Jay, ich sag es dir auch gerne zum hundertsten Mal. Ich würde mir wirklich wünschen, dass du und Pa ein besseres Verhältnis hättet. Aber wenn du immer nur machst, wonach dir gerade der Sinn steht …«
»Ist klar, alles meine Schuld, ich weiß schon«, blockte der Jüngere entschieden ab.
»Nein, es ist nur …« Olja wandte sein Gesicht zum Himmel. Diese Gespräche hatten sie schon zu oft geführt. Nicht selten waren sie darin geendet, dass einer von ihnen zornig weggegangen war, Türen zugeknallt oder ähnlich dem Ärger Luft gemacht hatte. Doch entgegen ihrer unterschiedlichen Einstellung zu vielem waren sie meist unzertrennlich. Und längst nicht immer hob der ältere Bruder mahnend den Zeigefinger, wenn sich die Möglichkeit für irgendeinen Schabernack bot.
»Weißt du, was? Okay«, korrigierte er sich selbst. »Aber dann lass uns jetzt direkt los. Und nebenbei: Beim letzten Ausritt hab ich dich abgehängt.«
Damit machte sich Olja auf in Richtung der Ställe. Jay eilte hinterher.
»Das hat aber nicht gezählt!«
Ilmerun war eine kleine, verträumte Stadt, die ihren Namen dem dichten Wald verdankte, aus dem sie auf einem sanften Hügel wie auf einem Thron sitzend herausragte. Der Ilmery Forst war das mit Abstand größte Waldgebiet des Reiches. Es erstreckte sich von der nördlichen Westküste bis über die Stadt Tenkun hinaus ins Landesinnere. Reisende, die ihn vollständig durchqueren wollten, mussten mit mindestens zwei Tagesreisen rechnen. Und das auch nur, wenn sie ähnlich begabt im Reiten waren wie Jay.
Die beiden Söhne von Rojan, dem Stadthalter von Ilmerun, waren kaum aus dem Tor der Ringmauer geritten, da begann Jay, Tempo aufzubauen, wenn auch vorerst bedacht. Olja legte nach und holte ihn mühelos ein. Zur Küste war es nicht weit, der Weg jedoch nicht so ausladend und flach wie die Hauptstraße nach Tenkun, welche sie an einer Kreuzung nach rechts in Richtung Westen verließen. Waren auf der Hauptstraße zeitweise Händler und andere Reisende unterwegs, war hier selten eine Seele auszumachen, denn bis auf den direktesten Weg ans Meer bot dieser Pfad kein weiteres Ziel. Als er merkte, dass Olja kein Problem mit seiner Reisegeschwindigkeit hatte, ließ Jay sein junges Pferd Dipo noch einen Satz zulegen. Im rasenden Galopp stob er an Baumstämmen vorbei, die sich bald nur noch schemenhaft vor seinem Auge abbildeten und hinter ihm verschwanden. Olja legte ebenfalls zu, begann aber bald, nach Jay zu rufen, dass es jetzt auch gut sei.
»Nein, provozieren sollte man Jay nie«, fuhr es dem älteren Bruder durch den Kopf. Jay aber nahm ihn gar nicht mehr wahr oder ignorierte ihn einfach und gab sich stattdessen vollends seinem Galoppfieber hin.
Mit einem Mal, einige Vögel aufscheuchend, sprang Dipo aus dem Wald heraus und stampfte durch weißen Sand. Er wurde langsamer, und Jay blickte sich um. Hinter ihm türmten sich, wie zu einer einzigen natürlichen Mauer errichtet, die Bäume des Ilmery auf. Vor ihm hingegen lag in völliger Ruhe und endloser Weite der westliche Ozean. Hufgetrappel hinter ihm kündigte Oljas Ankunft an. Gestresst blickte dieser ihn an.
»Dass du immer gleich so übertreiben musst.«
Jay ließ sich ein freches Grinsen nicht nehmen.
»Ich hab dir doch gesagt, Dipo und ich sind schneller.«
* * *
»Weißt du, Jay, Pa hat gesagt, ich darf zum Anfang des nächsten Jahres mit auf den Landesmarkt in Cantur kommen.«
Jay stocherte mit einem Finger im weichen Sand herum.
Sie hatten sich nach kurzer Abkühlung der Füße im Wasser an der Abbruchkante einer höheren Düne mit Blick auf das offene Meer niedergelassen.
»Schön«, lautete Jays knappe Antwort.
»Soll ich sagen, dass du auch gerne mitkommen würdest?«
»Will ich nicht.«
»Ach, komm schon. Jeder will dort wenigstens einmal hin.«
»Ich will nicht, dass du für mich bettelst, Olo. Freut mich für dich, ehrlich, aber ich hab keine Lust, nur von Pa geduldet zu werden.«
Olja seufzte.
»Soll das jetzt immer so weitergehen? Mich macht das wirklich traurig. Und Ma auch.«
Da wurde Jay gereizter.
»Ach, Ma auch? Dann könnte sie ja vielleicht auch mal was sagen, wenn ich für irgendwelche Nichtigkeiten angebrüllt und in meinem Zimmer eingesperrt werde!«
Diplomatisch überging Olja die Anmerkung seines Bruders.
»Pa hat eben viele Pflichten einzuhalten und erwartet das auch von seinen Kindern.«
Jay schwieg eine Weile, während sein Blick zuerst über das Meer ging und schließlich den Himmel entlangflog, der nach wie vor beinahe wolkenlos im Spätnachmittagsblau leuchtete. Mit seiner rechten Hand grub er abwesend im nach unten feuchtkühler werdenden Sand herum, bis sein Zeigefinger auf etwas Hartes stieß. Vorsichtig legte er das Objekt frei, welches sich als der leere Panzer eines Krebses entpuppte. Mit der Fingerkuppe rieb er den restlichen Sand von der leicht orangefarbenen Außenseite ab.
»Glaubst du, dass es nach dem Tod weitergeht?«, fragte er unvermittelt in die Stille. »Dass es ein Leben danach gibt?«
Olja folgte dem nachdenklichen Blick seines Brudes auf den kaum handtellergroßen Panzer, wusste aber nicht so recht, was er antworten sollte.
»Du stellst vielleicht Fragen.«
Jay zuckte mit den Schultern. »Ich frag mich das öfter. Oder: Warum leben wir und so was alles. Gibt es im Himmel noch andere als uns?«
Darauf musste auch Olja erst einmal mit den Schultern zucken.
»Tja, wissen tut das wohl niemand. Aber wenn du schon so fragst, ich kann mir durchaus vorstellen, dass es ein Leben danach gibt. Oder zumindest irgendetwas in die Richtung.«
Er machte eine Pause, in der er seine Aussage noch einmal zu überdenken schien. Jay legte unterdessen die leere Krebsschale zurück in die kleine Sandgrube und deckte sie behutsam zu. Nachdenklich ergänzte Olja schließlich: »Es ist schwer vorstellbar, dass man dann einfach … weg ist. Aber wie gesagt, wissen tut das ja doch niemand, da halt ich es lieber ganz wie Meister Illustran. Stell nur die Fragen, die man auch beantworten kann.«
Zufrieden schien Jay damit nicht zu sein.
»Und wer legt das fest? Es muss doch eine Antwort auf diese Sachen geben.«
»Genauso gut könntest du fragen, wer dir zwei Augen und eine Nase verpasst hat«, antwortete sein Bruder versuchsweise belustigt.
»Warum nicht?«
Olja legte den Kopf schief und blickte forschend in das Gesicht seines jüngeren Bruders.
»Wenn du im Unterricht nur halb so viele Fragen stellen würdest, weißt du?«
Erneut schwiegen sie vor sich hin und folgten den schwachen Wellen des Wassers.
»Eigentlich ist es nicht der Ärger«, knüpfte Jay plötzlich wieder an ihr voriges Thema an. »Mit Pa, meine ich. Ich habe nur das Gefühl, dass ich bloß unnötiger Ballast bin. Wann geht’s denn schon mal um mein Leben, was ich erlebt habe oder erreichen möchte?«
»Du bist nicht mal annähernd so etwas wie Ballast, Tupa. Und hey, ich weiß, was du einmal erreichen wirst: Was du möchtest. Ich bin mir sicher, du wirst einmal Teil von etwas Großem sein. Werden wir bestimmt beide.«
Damit schubste er Jay zur Seite, dem darauf tatsächlich ein kleines Lachen entfuhr. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, lagen seine Gedanken schon wieder in der Ferne.
Am Horizont, unweit der bereits tiefstehenden Sonne, zog ein großer Segler in Richtung Süden. Vermutlich war er auf dem Weg nach Grandun. Zumindest war Jay sich recht sicher, dass es eine größere Stadt mit einem wichtigen Hafen war.
»Irgendwann möchte ich mal zur See fahren«, ließ er seinem nächsten Gedanken verträumt freien Lauf.
Olja folgte seinem Blick. »Hm, warum nicht? Man könnte …«
In dem Moment durchfuhr den Älteren ein Ruck.
»Mist, wie spät ist es?«
Jay zog unwissend die Schultern hoch. Olja hingegen sprang auf.
»Wir müssen zurück! Los!«
Er sprang auf sein Pferd und blickte Jay auffordernd an. Der eilte nun auch zu Dipo, und im gleichen Galopp, wie sie angereist waren, fegten sie zurück durch den Ilmery.
Als sie ihre Heimatstadt erreichten, begann es bereits, dämmerig zu werden.
In zügigem Trab ritten sie weiter die breite Straße zum Marktplatz hinauf, vorbei an Handels- und einfachen Wohnhäusern, von denen die meisten die für Ilmerun typischen rot gedeckten Dächer besaßen. Hinter dem Platz, den ein größerer dekorativer Brunnen zierte, waren es nur noch ein paar Schritte bis zu den Stallungen des oberen Rings.
Nachdem sie zu Fuß den größten Teil ihres restlichen Heimweges langgeeilt waren, schnaufte Olja.
»Wieso wusste ich … dass genau das passiert?«
Jay, dem ebenfalls die Puste ausging, machte eine wegwerfende Geste.
»Jaja, passiert eben. Ich glaube, du hast die geringeren Probleme.«
»Das ist doch jetzt völlig egal. Dass wir heute pünktlich sind, war für Pa sehr wichtig.«
Jay versuchte noch einmal, das Tempo anzuziehen.
»Dann mach schneller. Mit etwas Glück schaffen wir‘s sogar noch.«
Der Stadthalter wohnte mit seiner Familie in einem großen Herrenhaus auf einer Anhöhe im oberen Ring der Stadt. Vor dem ausladenden Gebäude erstreckte sich ein langer, umzäunter Garten mit diversen stämmigen Laubbäumen und saftig grünem Gras. Am Eingangsportal stand ein Tiran in Wachuniform, dessen Augen die beiden Brüder vom Zaungatter an der Straße bis zum Haus kopfschüttelnd verfolgten.
»Ich fürchte, alles Rennen nützt nichts, Jungs. Das Abendmahl hat bereits begonnen!«, rief er ihnen zu, noch bevor sie die Treppe erreicht hatten.
Jay fluchte.
»So ein Mist! Wie lange schon?«
»Nicht allzu lange. Aber ich würd' den Kopf einziehen, wenn ihr eintretet.«
Resigniert wandte sich Jay an Olja.
»Tut mir leid, in Ordnung?«
»Schon okay. Ist ja nicht so, als wär ich gezwungen worden.«
»Jetzt macht doch, dass ihr reinkommt!«, fuhr der Hauswächter dazwischen. »Da könnt ihr immer noch euer Leid bekunden.«
Die Brüder nickten und setzten sich wieder in Bewegung.
»Danke und bis später, Hebdan!«, rief Jay über die Schulter.
Im Eingangsbereich des Hauses wären sie beinahe mit einem Bediensteten zusammengestoßen, der ein glücklicherweise leeres Tablett in die Küche bringen wollte. Es war Norring, der alte Butler, die treueste Seele des Hauses und neben seiner Berufung zudem den beiden Söhnen des Stadthalters als Lehrer für Sitte und Ordnung zugeteilt. Schon immer hatte Jay den alten Norring sehr gemocht, obwohl er in Sachen Erziehung keine lockere Einstellung duldete. Er war ein strenger, oft kühler Mann, der aber immer fair blieb und dem die beiden Kinder deutlich spürbar und gleichermaßen am Herzen lagen. Seiner offenbar unendlichen Ausdauer wegen hatte er es sogar vollbracht, dem sonst eher widerspenstig lernenden Jay gehobene Tischmanieren und Umgangsformen beizubringen, wenngleich dieser das auch manchmal vergaß.
»Junge Herren.« Seine barsche Stimme hallte von den Wänden der Eingangshalle wider. »Um neunzehn Uhr ist das Mahl angesetzt. Seit über zwanzig Jahren, mit erstaunlich wenigen Ausnahmen. Wenn es kein Anfall früh einsetzender Altersschwäche ist, dann will mir somit keine Entschuldigung für das verspätete Eintreffen eurerseits einfallen.«
Olja machte sich gerade.
»Verzeihung, Norring. Wir wollten nicht unhöflich sein.« In keiner Weise zufriedengestellt wies der Butler streng mit gestrecktem Arm zur Tür des Speisezimmers.
»Aber ein bisschen plötzlich, die Herren.«
An Norring vorbei rannten sie zu der schweren Tür, hinter der das Mahl bereits in vollem Gange war, atmeten einmal tief durch und klopften.
Von drinnen ertönte kein Laut.
Die Brüder blickten sich kurz an, bevor Olja vorsichtig die Klinke herunterdrückte und sich vor Jay in den Raum schob.
Am Tisch – der, wenn man es ausreizen wollte, Platz für sechzehn Leute bot – saßen ihre Eltern und blickten sie vom Kopfende her stumm an. Neben ihnen saß ein Mann mit ernster, aber nicht unbedingt abweisender Miene, der Jay vage bekannt vorkam. Er hatte wildes schwarzes Haar, was ihn zusammen mit seinem durch und durch Autorität ausstrahlenden Gesicht unnahbar und mächtig wirken ließ. Wenn er richtig lag, war das der Stadthalter von Tenkun. Nein, nicht Stadthalter. Der Stadtfürst, verbesserte er sich. Was auch immer das genau hieß. Er schloss, dass die Frau neben ihm seine Gattin war. Wer die Tiranin und der andere jüngere Mensch waren, wusste er nicht.
Olja setzte entschlossen an.
»Es tut uns aufrichtig leid, dass wir zu spät kommen, Vater. Das entspricht in keiner Weise dem, was sich gehört und ist eine klare Ausnahme.«
Jay war geradezu beeindruckt ob der ehrlichen Reue, die in dieser ausführlichen Entschuldigung steckte. Da ihm nicht wirklich etwas Gescheites einfiel, was er hätte hinzufügen können, nickte er einfach und bemühte sich, eine betroffene Miene aufzusetzen.
Er versuchte, die Gesichtsausdrücke zu lesen, denen er ausgesetzt war. Seine Mutter Junara schaute eindeutig enttäuscht. Die Gäste schienen eher in Erwartung der Reaktion des Hausherren zu sein, wohingegen sein Vater den Mund zu einem flachen Strich zusammengepresst hatte und ihm zwei schier endlose Sekunden lang eindringlich in die Augen starrte. Für einen Moment noch war es still, dann holte Rojan Luft und drehte den Kopf zu Olja.
»Ich akzeptiere deine Entschuldigung, mein Sohn.«
»Ach, die Kinder von heute«, ging der Stadtfürst Tenkuns wie verwandelt mit einem kleinen Lächeln dazwischen.
Harthor hieß er, fiel Jay nun wieder ein. Seine Gattin nickte zustimmend und pflichtete bei: »In der Tat, da muss ich nachher dringend noch eine Geschichte erzählen.«
Auf einen energischen Wink ihrer Mutter hin spurteten die Kinder zu den freien Plätzen direkt neben ihr. Für den Rest des auffallend ausgedehnten Abendessens übten sich die Brüder bis auf wenige Ausnahmen in Stillschweigen und Unauffälligkeit.
Als auch der letzte Gang verzehrt war, begaben sich die Erwachsenen in die Bibliothek, und Jay ahnte bereits, was ihn später am Abend noch erwarten würde. Die von Zeit zu Zeit herüberfunkelnden, bösen Blicke seines Vaters waren ihm keineswegs entgangen.
»Sieh mich gefälligst an!«
Jay versuchte aufzublicken. Er konnte seine Tränen kaum zurückhalten. Er biss die Zähne zusammen und brachte keinen Ton heraus. Die letzte halbe Stunde hatte sein Vater damit zugebracht, ihn, der auf seiner Bettkante kauerte, mit einem Tobsuchtsanfall nach dem nächsten zurechtzuweisen. Immer wieder war er dabei mehrfach im Zimmer auf und ab gegangen, um anschließend jedes Mal ein Stück näher an Jay heranzutreten.
»Sag mal, hast du's Zuhören endgültig verlernt?«
Im Türrahmen hinter ihnen erschien Olja, der vorsichtig einwarf: »Vater, es war nicht nur seine …«
Halb über die Schulter blaffte Rojan in Richtung der Tür: »Verschwinde, Olja! Sofort.«
Der wiederum blickte noch kurz zu seinem Bruder, senkte den Blick und gehorchte dann.
Als Jay nach wie vor nicht zu seinem Vater aufsah, drückte dieser ihn einfach an der Stirn nach hinten. Er schob einen Zeigefinger zwischen ihre Gesichter und durchdrang Jay mit seinen dunkelbraunen Augen.
»Bürschchen, unterm Strich ist mir völlig egal, was du tust oder nicht tust. Aber solltest du noch einmal unangenehm auffallen oder mich auf diese Art und Weise blamieren, wirst du mich kennenlernen. Du wirst dich in Zukunft benehmen, als hättest du so etwas wie Anstand im Leib. Haben wir uns verstanden?«
Jay war einfach nicht in der Lage zu antworten. Er spürte genau, wie er in einen Heulkrampf ausbrechen würde, wenn er auch nur die Zähne auseinandernahm. Als eine Antwort seines Sohnes weiterhin ausblieb, hob Rojan die Hand und holte aus. Doch dann durchfuhr ihn ein Ruck. Er hielt inne, ballte die Faust und öffnete sie wieder, bevor sein Arm sich langsam senkte. Stattdessen richtete er sich auf, schritt zur Tür und schlug sie ohne weiteren Kommentar hinter sich zu.
Jay warf den Kopf in sein Kissen und gab dem Druck der angestauten Tränen nach.
* * *
In der folgenden Nacht kam Jay kaum zur Ruhe. Er lag in seinem Bett und starrte ins Nichts. Durch einen Spalt seiner Vorhänge schien helles Mondlicht in sein Zimmer und hinterließ einen breiten, leuchtenden Strich auf dem Fußboden. Er wusste nicht, wie lange er bereits auf diese Weise dort lag und sich von Zeit zu Zeit umherwälzte, nur um festzustellen, dass ihm jede Liegeposition missfiel. Es hätte vermutlich noch ewig so weitergehen können, wäre nicht plötzlich ein eigenartiges Geräusch von außen durch seine Tür gedrungen. Oder war es doch nichts? Jay schloss die Augen.
Da.
Ganz in der Ferne, kaum zu hören, vernahm er ein dumpfes Pochen. Jedes Rascheln seiner Bettdecke war lauter, sodass er angespannt und fast atemlos in die Dunkelheit lauschte. Dann war alles wieder still.
Jay mahnte sich, realistisch zu bleiben und sich nicht in Phantastereien zu verlaufen. Einfach die Augen schließen und schlafen, das musste doch möglich sein.
Doch gerade, als er sich wieder in sein Kissen hatte zurückfallen lassen, vernahm er plötzlich ein Klicken. Nicht dumpf und weit weg, nein, ganz in der Nähe. Als käme es vom Flur draußen.
Weitere Klickgeräusche erreichten sein Ohr.
Zielstrebiger, als ihm zumute war, stand Jay auf und ging zu seiner Tür. Er öffnete sie und blickte in den Gang hinaus. Auf dem Korridor – erhellt durch den Mondschein, der sich seinen Weg durchs Fenster an dessen Ende bahnte – war niemand zu sehen. Nur sein Bruder und er hatten hier ihre Zimmer, die Eltern schliefen auf der anderen Seite des Stockwerks. Er blickte schräg hinüber zu Oljas Tür und sah, dass sie einen Spaltbreit offenstand.
Auf Zehenspitzen schlich Jay über den harten Teppichboden und flüsterte schließlich in das Zimmer seines Bruders hinein.
»Olo?«
Nichts.
»Bist du wach?«
Mit einem Mal – Jay überlegte gerade, ob er hineingehen sollte – wurde die Tür des Zimmers aufgerissen. Doch es war nicht Olja, der an der Tür stand. Jays Herz setzte einen Schlag aus. Vor ihm stand eine große Gestalt, vermummt in dunkle Kleidung, die beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllte. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte die Gestalt vor ihm, dann trat sie auf ihn zu und schlug ihn zur Seite, noch bevor Jay einen klaren Gedanken fassen konnte. Der Junge flog der Länge nach auf den Fußboden. Sofort drehte er sich um und sah, dass ein zweiter, ebenso großer Kerl aus dem Raum eilte, der etwas Größeres in den Armen trug.
»Einbrecher!«, zuckte es durch Jays Gedanken. Er begann, nach Hilfe zu schreien, was die Kehle hergab. Die Eindringlinge, bis eben noch auf leisen Sohlen, verzichteten auf jede Vorsicht, und er hörte sie deutlich die letzten Stufen der Treppe in die Haupthalle hinunterpoltern. Noch auf allen vieren nahm er Anlauf und rannte hinterher. Am oberen Treppengeländer konnte er gerade noch erkennen, wie die beiden Gestalten im Erdgeschoss in das Bibliothekszimmer eilten. Jetzt endlich hörte er weitere Türen. Sein Vater rannte von der anderen Seite des Flurs herbei und fluchte.
»Zum Donnerwetter, was ist hier los?«
Jay hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf und hastete nach unten.
»In der Bibliothek! Einbrecher!«
Doch als er die kalten Stufen überwunden hatte und in die Bibliothek raste, musste er feststellen, dass außer einem offenen Fenster nichts mehr zu sehen war. Hastig stürzte er durch den Raum. Er warf sich beinahe gegen den Fenstersims und steckte den Kopf nach draußen. Doch außer den stämmigen Bäumen, die rund um das Grundstück wuchsen, war nichts zu sehen oder zu hören.
Der Junge schloss die Augen.
Seit einer halben Ewigkeit saß Jay bereits auf seiner Bettkante, den Kopf in den Händen vergraben. Er war weg. Olja war weg. Der Gedanke bohrte sich in Jays Kopf und wollte nicht wieder weichen. Die Einbrecher hatten keinerlei Interesse an Wertsachen oder anderem Zeug gehabt. Sie waren mitten in der Nacht in das Haus eingedrungen, nur um ihm seinen Bruder wegzunehmen. Die einzige Person, mit der sein Leben wirklich Freude gemacht hatte.
Rojan war der erste gewesen, der Oljas Zimmer betreten hatte, nur um endgültig zu begreifen, was passiert war. Währenddessen war durch das Eingangsportal des Hauses Hebdan, der diensthabende Hauswächter, getreten, im Zustand halber Benommenheit. Es stellte sich heraus, dass zwei komplett in Schwarz vermummte Tiranen ihm hinter einer Hausecke aufgelauert hatten, als er gerade seine Patrouille machte. Einer der beiden hatte ihm irgendetwas unter die Nase gehalten, woraufhin er augenblicklich bewusstlos geworden war. Rojan hatte Hebdan, den Jay stets als wachsam und freundlich kannte und der den beiden Brüdern immer wie ein guter Freund gewesen war, über lange Zeit wüst beschimpft und als vollkommen unfähig betitelt. Was danach passiert war, wusste er nicht, denn der Vater hatte Jay in sein Zimmer gezerrt und für den Rest der Nacht dort eingeschlossen. Nur als dieser die Tür bereits verriegelt hatte, war Jay der Meinung gewesen, ihn im Weggehen leise etwas wie 'dich nicht holen' sagen gehört zu haben.
Und so saß er dort und kämpfte mit seinen Gefühlen. Ein besonders furchtbarer Gedanke jedoch bahnte sich immer wieder den Weg vorbei an allen anderen.
Er ist nicht tot, sagte er sich immer wieder. Nein, er kommt wieder. Er wird wiederkommen.
Es durfte nicht anders sein.