Читать книгу Die Schatten von Mernor - Leonard N. Meyer - Страница 9

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2 Jay allein

Rojan hatte indes nicht die Absicht, seinen Sohn am nächsten Tag aus seinem Zimmer zu lassen. Als sich am Morgen die Tür zu Jays Gemach mit einem verheißungsvollen Geräusch öffnete, blickte er in das Gesicht von Menjin, einem der Hausdiener. In einer Hand balancierte er geschult ein Tablett mit Brötchen, einigen Belägen sowie Tee.

»Frühstück hier oben?«, fragte Jay, der inzwischen aufrecht auf der Bettkante hockte, skeptisch. Irgendetwas gefiel ihm an dieser grundsätzlich sehr zuvorkommenden Geste überhaupt nicht.

»Junger Herr, Euer Vater hat die strikte Order gegeben, dass Ihr Euer Gemach heute nicht verlassen dürft«, kündigte der Diener formvollendet an.

Jays Augen weiteten sich.

»Ich soll den ganzen Tag hier drinbleiben? Warum? Was soll ich denn hier machen?« Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.

Der Diener trat herein und stellte das Tablett auf den freien Tisch am Fenster. Während er in eine Tasse Tee aus einer weißen Kanne eingoss, antwortete er: »Euer Vater sagt, es diene Eurer eigenen Sicherheit.«

Verzweifelt suchte Jay nach schlagfertigen Argumenten, warum dies ein Ding der Unmöglichkeit war, auch wenn er wusste, dass er dem Diener damit nicht zu kommen brauchte.

»Ich muss in die Schule!», brachte er schließlich entrüstet hervor und merkte sogleich selbst, wie lächerlich das klang, wenn es aus seinem Munde kam. Trotzdem war der Arrest eine maßlose Ungerechtigkeit.

Menjin war schon wieder auf dem Weg nach draußen, als er mit einem Hauch Mitgefühl in der Stimme sagte:

»Es tut auch mir leid, junger Jay. Aber denkt an das, was Eurem Bruder passiert ist. Ihr möchtet doch auch nicht, dass Euch dasselbe widerfährt. «

»Ich will meinen Vater oder meine Mutter sprechen!«, verlangte Jay, und seine Stimme wurde lauter.

»Eure Eltern sind derzeit nicht im Haus. Sie sind zur Stadtwache. Wenn Ihr etwas benötigt, könnt Ihr selbstverständlich jederzeit läuten.«

Für einen kurzen Moment überlegte Jay, einfach an Menjin vorbei aus dem Zimmer zu rennen, entschied sich aber vorerst doch dagegen.

Und so schloss der Diener die Tür wieder. Jay hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Den halben Tag hatte Jay damit zugebracht, auf seinem Bett zu liegen und aus dem Fenster in den klaren blauen Himmel zu blicken. Er kam sich vor wie ein eingesperrter Verbrecher. Allerdings musste er einräumen, dass diese wohl mit weniger Komfort zurechtkommen mussten, als ihm zur Verfügung stand. Er bezweifelte auch, dass echte Gefängniszellen ein privates Bad mit Heißwasser und Wanne besaßen. Und doch war er der Meinung, dass er sich – allein aufgrund der Tatsache, dass er nicht frei war, zu gehen – durchaus ähnlich fühlte. Dabei hätte er durchaus die Möglichkeit gehabt zu fliehen, denn niemand wusste, dass er hinter seinem Kleiderschrank eine kleine Notlösung für diese Fälle versteckte. Etwas anderes als noch mehr Ärger hätte er jedoch nicht gehabt, wenn er nun aus seinem Zimmer ausgebüchst wäre.

Was ihn hingegen beinahe in den Wahnsinn trieb, war die Handlungsunfähigkeit. Das Gefühl, nichts tun zu können, um seinem Bruder zu helfen. Wo mochte er jetzt nur sein? Der immer wiederkehrende Gedanke, dass er Olja vielleicht nie mehr zu Gesicht bekommen würde, sorgte jedes Mal für ein schmerzvolles Ziehen in seiner Magengrube, das sich bis hinauf in den Hals arbeitete.

Gegen Nachmittag öffnete sich seine Tür ein weiteres Mal. Es war Norring, der eintrat und den Jungen mit einer Mischung aus Besorgnis und makelloser Würde musterte. Von ihm erfuhr Jay zumindest, dass es bisher keine Lösegeldforderung oder Ähnliches für seinen Bruder gab, und dass Hebdan sich auf Anweisung seines Vaters vor dem Stadtgericht verantworten musste. Jay fühlte mit ihm. Wenngleich der Tiran mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als mitschuldig verurteilt werden würde, so musste das verlorene Vertrauen seines Herren doch ein schwerer Schlag für den gutmütigen Wächter sein.

»Norring, wann darf ich denn endlich wieder nach draußen?«, fragte Jay nun beinahe flehentlich.

»Tut mir leid, junger Herr, aber das entzieht sich meiner Kenntnis«, entgegnete der Butler mit seiner typisch ausschweifenden Ausdrucksweise. »Euer Vater legt größten Wert darauf, dass er Euch in Sicherheit wissen kann, bis die Fälle der entführten Kinder aufgeklärt sind.«

Da wurde Jay hellhörig.

»Der entführten Kinder? Es gibt mehrere?«

Er war sich nicht sicher, ob Norring dies hatte verraten wollen, denn der alte Butler blickte ihm nachdenklich ins Gesicht. Er wollte anscheinend ergründen, ob er Jay mehr erzählen sollte oder durfte. Noch nie hatte Jay in den immer Pflichtbewusstsein ausstrahlenden Augen Niedergeschlagenheit oder gar Trauer gesehen, doch nun war er sich sicher, sie dort deutlich zu erkennen.

Schließlich holte Norring Luft.

»Euer Vater erwähnte drei weitere Entführungen in der letzten Nacht.«

»Drei weitere Entführungen«, hallte es in Jays Kopf nach. Wie war das möglich? Was wollte jemand nur damit bezwecken? Und warum musste es ausgerechnet Olja sein?

»Ihr habt schon wieder nicht das Brotmesser benutzt!«, riss ihn die nun zurechtweisende Stimme Norrings wieder aus seinen Gedanken, während sein Erzieher das benutzte Geschirr einsammelte. »Nur weil Ihr nicht in Gesellschaft speist, ist das noch lange kein Grund, die Manieren abzulegen, junger Herr.«

Jay senkte den Kopf.

»Verzeihung, Norring.«

Es war Abend geworden. Jay atmete tief durch, während er vom Fenstersims aus auf die roten Dächer der Stadt blickte. Über den Baumwipfeln des Ilmery näherte sich die Sonne dem Horizont und ließ den Himmel in leuchtendem Gold erscheinen.

Jay richtete sich auf und streckte seinen Rücken durch. Er musste bereits mehrere Stunden ohne große Regung hier gesessen haben. Als er spürte, wie sich schon wieder diese unerträgliche Hilflosigkeit in ihm breitmachte, ballte er die Fäuste. Es war einfach nicht länger hinnehmbar, dass er nicht nur seit einer halben Ewigkeit eingesperrt war, sondern dass sich weder sein Vater noch seine Mutter den ganzen Tag über auch nur einmal hatten blicken lassen. So stakste er hinüber zu seinem Kleiderschrank und begann, die Rückseite an der Wand entlangzutasten, bis er sein kleines Geheimversteck gefunden hatte. Schließlich zog er einen Schlüssel für sein Zimmer hervor, den er vor gut einem Jahr der Dienerschaft entwendet hatte. Bisher hatte niemand das Fehlen bemerkt oder zumindest darauf hingewiesen, und so war dieses kleine Stück Metall sein eigener privater Notausgang aus seinem Schlafzimmer, sollte er von den 'Erziehungsmethoden' seines Vaters einmal genug haben. Er setzte sich auf die Bettkante und schlüpfte in seine Schuhe. Gerade als er den Schlüssel in das Schloss seiner Tür stecken wollte, hörte er, wie jemand selbiges von außen tat. Er zuckte zusammen, packte hektisch den Schlüssel in seine Hosentasche und eilte zu seinem Schreibtisch. Langsam wurde die Tür geöffnet und seine Mutter lugte hinein. Zunächst erstaunt, dann vorwurfsvoll blickte Jay ihr entgegen. In der Hand hielt sie einen Teller mit allerlei Gebäck.

»Wie geht es dir?«, fragte sie, während sie eintrat.

»Alles bestens«, entgegnete Jay pampig. »Mein Hintern ist platt gesessen, wenn es dich interessiert.« Dann blickte er zu Boden. »Entschudigung.«

»Jay, mir gefällt das alles auch nicht. Aber wir wollen nicht noch einen Sohn entführt sehen, verstehst du?«

Sie sagte es mit Fassung, doch ihre Miene spiegelte deutlich wider, wieviel Mühe sie dies kostete. Behutsam stelle sie ihren Teller auf den Tisch am Fenster. Beiläufig warf Jay einen Blick darauf und musste sich eingestehen, dass dies zumindest eine nette sowie leckere Geste war.

»Aber wie lang soll ich denn hier oben bleiben?«

»Dein Vater und ich denken, sollte es keine weiteren Entführungen mehr geben, kannst du dich bald zumindest wieder auf dem Grundstück bewegen.«

»Ich will mich aber nicht nur auf dem blöden Grundstück bewegen. Ich will endlich wieder nach draußen.«

Junara blickte aus dem Fenster. Leiser fuhr Jay fort: »Norring sagte etwas von drei weiteren Kindern. Aber es sind noch mehr, oder?«

Seine Mutter nickte. Mit einer Hand streichelte sie ihm über den Schopf. »Versuch zu verstehen, dass es dort draußen gerade sehr gefährlich ist, Jay.«

Dann wandte sie sich vom Ausblick in den Abendhimmel ab und schritt wieder zur Tür.

Als sie bereits auf der Schwelle stand drehte sie sich noch einmal um.

»Ich hab dich lieb.«

Jay lächelte schwach.

»Ich dich auch, Ma.«

Genau wie die gestrige war auch die angebrochene Nacht sternenklar. Die beiden Monde Lui und Xia, die am Himmel langsam ihre Bahnen zogen, ließen die Welt in einem kalten, weißblauen Licht erglimmen. Vermutlich hätte Jay schlafen sollen, doch an Müdigkeit war überhaupt nicht zu denken. Noch immer in den Klamotten des Tages lag er auf seinem Bett und spielte die Vorgänge der letzten Nacht wieder und wieder durch. Was war genau passiert? Wer waren die Entführer? Und was zum Henker wollten sie von seinem Bruder und den anderen, wenn es nicht um Lösegeld ging? Schon wieder begann dieses schmerzvolle Ziehen in seiner Magengrube, das Jay inzwischen hassen gelernt hatte. Doch er hatte das Gefühl, dass er besser damit leben konnte, wenn er versuchte, produktiv zu werden. Ihm wurde klar: Unter keinen Umständen wollte er den Verlust seines Bruders einfach trauernd hinnehmen. Er atmete tief durch und sammelte seine Gedanken. Die Entführer waren Tiranen durchschnittlicher Statur, so viel war klar. Und sie waren durch ein Fenster in die Bibliothek eingestiegen und dort ebenfalls wieder entflohen. Das war alles, was er gesehen hatte. Aber was half ihm das?

Da kam ihm ein Einfall. Woher hatten die Eindringlinge eigentlich gewusst, wo genau Olja zu finden gewesen war? Oder war das nur ein Zufall gewesen, und genauso gut hätte er es sein können, der wohin auch immer verschleppt worden wäre? Und wieso die Flucht durch die Bibliothek? Von innen war das Eingangsportal einfach zu öffnen, auch wenn es nachts von außen verschlossen war. Er merkte, wie ihm schwindlig wurde, je länger er über all diese Dinge nachdachte. Trotzdem versuchte er, sich in die Rolle der Entführer zu versetzen, wie sie vorgegangen sein mochten, was sie dachten, wie man etwas so Grausames mit sich vereinbaren konnte. Vielleicht brachte ihn das auf eine Spur zu Olja. Doch er musste schnell feststellen, dass er nicht wirklich in der Lage war, sich in die Gedankenwelt von Verbrechern einzufühlen.

Jay kam die Idee, den Hergang genauer nachvollziehen zu können, wenn er selbst es einmal in der Realität durchspielen würde. Warum eigentlich nicht? Ohne weiter Für und Wider abzuwiegen, stand er auf und sammelte seine Schuhe ein.

Auf dem Gang herrschte Stille. Jay durchfuhr ein kalter Schauer, als er auf die geschlossene Tür zu Oljas Zimmer schielte. Hier war das Verbrechen geschehen, aber begonnen hatte es nicht hier. Auf den leisesten Sohlen, die ihm möglich waren, bahnte er sich seinen Weg zur großen Treppe, ging die Stufen hinab, huschte zur Tür des Bibliothekszimmers und legte die Hand auf die Türklinke.

Langsam, ganz langsam drückte Jay die Klinke herunter, die ein kurzes Quietschen von sich gab, das ihm in der Totenstille wie der Schrei des größten Greifvogels vorkam. Dann endlich stand er auf dem leisen, dunklen Teppichboden des Bibliothekszimmers. Ihm war, als würde er sein Herz in den Ohren pochen hören. Es übertönte die erdrückende Stille zwischen den Bücherregalen. Er lehnte die Tür hinter sich an und durchschritt den Raum bis zum Fenster, an dem die Entführer ihren Einstieg gefunden hatten. Davor machte er halt, drehte sich um und versuchte sich vorzustellen, ein Fremder in diesem Haus zu sein.

Dieses Gedankenspiel hatte Jay sich einfacher vorgestellt, denn natürlich wusste er, wo es da hinten durch die Tür ging, wie viele Regale es in der kleinen Bibliothek gab, ja meistens sogar, welche Buchrücken ihn dort erwarten würden. Tatsächlich war vieles jedoch, wie ihm klar wurde, auch von außen zu erkennen. Immerhin war er als Einbrecher ja gerade in den Raum links vom Eingang eingestiegen, und durch die hohen Fenster war zumindest bei entsprechendem Licht auch von Weitem deutlich zu erkennen, was sich dort drin befand. Konnte er daraus schließen, dass ihr Haus bereits zuvor beobachtet worden sein musste?

So schlich er, immer aufmerksam um sich schauend, erst an einem hohen Bücherregal im Raum und anschließend an der Sitzecke im vorderen Bereich vorbei zur Tür, öffnete sie abermals und blickte in die Eingangshalle. Natürlich lagen die Gemächer der Familie und möglicher Gäste die große Treppe hinauf, schlussfolgerte er.

Während er noch weiter versuchte, den Hergang des Einbruchs nachzuvollziehen, riss ihn plötzlich ein Geräusch aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen. Ein lautes Klopfen, wie auf Holz, das aus dem hinteren Teil der Eingangshalle drang. Dort führte ein kleinerer Flur zum Arbeitszimmer seines Vaters sowie in den Garten hinter dem Haus. Jay stockte der Atem. »Sie sind zurückgekommen!«, fuhr es ihm durch den Kopf. Er unterdrückte seine Furcht mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Natürlich kamen diese Leute nicht direkt am nächsten Tag zurück. Oder?

Wie die Motte zum Licht begab der Junge sich zum vermeintlichen Ursprung des Klopfens und meinte, nun auch einen flackernden Lichtschein unter der Tür zum Arbeitszimmer zu erkennen.

Vorsichtig kniete er sich auf den Boden, versuchte, möglichst leise zu atmen und lugte unter der Türklinke durchs Schlüsselloch.

Am breiten Schreibtisch, der ihm seit vielen Jahren als Arbeitsplatz diente, Feder und Tinte bei sich, saß sein Vater in seinem dunkelbraunen Nachtgewand und schrieb etwas in ein riesiges Buch. Daneben stand eine einzige Kerze, die gerade genug Licht spendete. Nach einer Weile legte Rojan die Feder beiseite und begann, vor sich hinzumurmeln. Dabei schaute er leicht zur Seite, als würde er mit jemanden sprechen, den der Junge durch das Schlüsselloch nicht sehen konnte.

Jay musste sich etwas anders positionieren. Seine Knie begannen zu schmerzen. Unglücklicherweise stieß er dabei jedoch mit dem Kopf gegen die Türklinke, die den Stoß unter lautem Poltern abfing. Ihm entfuhr ein kurzes Ächzen. Er fasste sich an den Kopf und verfluchte sich selbst für seine Tollpatschigkeit. Von drinnen vernahm er sogleich ein unheilverheißendes Rumpeln. Zeit für einen geordneten Rückzug.

Durch den kurzen Nebenflur in die Eingangshalle hechtend hörte er, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Er sauste zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal, doch da hörte er bereits den erwarteten wütenden Ruf.

»Jay! Bist du das?«

Er blickte über das Geländer nach unten. Dort stand sein Vater in schemenhafter Gestalt und starrte zu ihm herauf. Ohne eine Erwiderung rannte Jay in Richtung seines Zimmers. Doch etwas ließ ihn für einen Moment innehalten. Eine Eingebung. Er blickte hinüber zur anderen Seite des Flurs und rannte seinem Impuls folgend stattdessen in Oljas Zimmer. Drinnen lehnte er die Tür an und spähte vorsichtig durch den kleinen Spalt auf den Gang, wo gerade sein Vater erschien und die Tür zu Jays Gemach mit Schwung öffnete.

»Jetzt reicht es mir mit dir, Junge!«, herrschte Rojan in den Raum hinein. Seine Silhouette verließ den Korridor. »Wie bist du aus deinem Zimmer …« Im Kopf des Jungen formierte sich nur noch ein einziger Gedanke: weg hier.

Jay rannte hinaus. Er hatte kaum einen Fuß auf den Teppich im Korridor gesetzt, da überkam ihn ein weiterer Gedanke. Auf die andere Seite des Flurs hechtend, zog er seinen Zimmerschlüssel hervor, knallte die Tür zu und schloss seinen Vater ein. Er riss den Schlüssel wieder heraus und machte, dass er die Treppe hinunter kam. »Ich bin so was von erledigt«, dachte er. In der Halle warf er sich förmlich gegen das träge Eingangsportal, das sich für seinen Geschmack gerade viel zu langsam öffnete. Doch dann war er draußen. Am Fuße des Eingangs stand ein Wächter, der sich überrascht umdrehte und im selben Moment sein Schwert zog.

»Was zum … Jay, seid Ihr das?«

Doch Jay hatte weder Zeit noch eine geeignete Erklärung für den Wachsoldaten übrig, und so sprang er die Stufen hinab und preschte an dem überrumpelten Mann vorbei.

»Alles in Ordnung!«, rief er, ohne weiter darüber nachzudenken, über die Schulter, während er durch den Vorgarten rannte und schließlich das breite Tor am Zaun erreichte.

* * *

Auf den Straßen von Ilmerun war keine Seele mehr unterwegs. Lediglich Patrouillen der Stadtwache kreuzten in größeren Abständen durch alle Viertel, um den ruhigen Schlaf der Ilmeruner zu gewährleisten. Sie hätten Jay mit absoluter Sicherheit direkt eingesammelt und an den Haaren zurückgeschleift oder in eine Arrestzelle gesteckt, wo er am nächsten Morgen von seinem persönlichen Scharfrichter, seinem Vater, abgeholt worden wäre. Von daher hielt er sich bedeckt in den Schatten kleinerer Gassen und arbeitete sich vorsichtig in Richtung der Stallungen vor. So ganz wusste er nicht, was er jetzt machen sollte. Um allerdings seiner drohenden Verzweiflung entgegenzuwirken, hatte er den Entschluss gefasst, Dipo im Stall einen Besuch abzustatten.

Leider musste er sehr schnell einsehen, dass am Schloss der Stallpforte kein Weg vorbeiführte. An einem kleinen, hochgelegenen Fenster um die Ecke hatte er mehr Glück. Er schob eine Obstkiste, die unweit von ihm stand, an die Stallwand und hängte sich an den Fensterrahmen.

Beim ersten Anlauf rutschte er direkt wieder ab und wäre beinahe mit der Kiste zusammen umgefallen und im Dreck gelandet. Ungeduldig rieb er sich die klammen Hände an seiner Hose trocken und versuchte es ein zweites Mal. Diesmal glückte es, und er plumpste unsanft auf der anderen Seite ins Stroh.

Finsternis begrüßte ihn. Jay tastete sich vorwärts, die Umrisse seiner Umgebung nur erahnend, bis er vor der Box von Dipo zum Stehen kam. Ein Schnaufen begrüßte ihn, als er sich daran machte, die Box zu betreten. An seinem Ohr vorbei schob sich ein großer Pferdekopf. Jay erkannte die zwei weißen Flecken auf der Stirn seines Kameraden und war zum ersten Mal seit längerem in der Lage, zu lächeln.

Damit hätte man meinen können, der nächtlichen Abenteuer sei vorerst Genüge getan, doch Jay hatte bereits einen weiteren Einfall. Verwegen, riskant, ja, vielleicht auch ein bisschen bescheuert. Aber tiefer im Arger zu stecken als er es sowieso schon tat, war ja fast nicht möglich. In Gedanken hörte er Olja, der ihm ins Gewissen reden wollte. Der ihn davor warnen wollte, noch mehr Unfug anzustellen.

»Pech, Olo«, dachte Jay trotzig und unterdrückte die neu aufflammende Trauer. »Was hast du mich hier auch allein gelassen?«

Blind tastete er sich an den Wänden des Stalls entlang und fand sein Sattelzeug. Wie damit umzugehen war, wusste er. Das Ganze im Stockdunkeln zu bewerkstelligen, war allerdings eine ganz andere Herausforderung.

Der zweite Teil seines Plans war jedoch noch wesentlich waghalsiger. Als Dipo bereit war, postierte sich Jay am Fenster, durch das er sich Zugang verschafft hatte, und spitzte die Ohren. Einige Zeit wartete er auf diese Weise, bis er von Weitem Schritte vernahm. Zuerst leise, dann deutlicher, vermischt mit gedämpften Stimmen.

Wieder begann Jays Puls zu rasen. Noch bestand die Möglichkeit, alles zu vergessen und einfach nach Hause zurückzukehren.

Aber seine Entscheidung war gefallen. Jetzt musste sein Plan nur noch funktionieren. Er stand auf und begann, mit aller Kraft gegen die hölzerne Wand zu schlagen.

»Hilfe! Lasst mich raus!«

Von draußen vernahm er jetzt lautere Stimmen. Eine von ihnen, eine Frauenstimme, richtete sich an ihn.

»Hallo? Ist da jemand drin?«

»Ja. Ich wurde eingesperrt!«

»Einge…«

Die Stimme stoppte und beriet sich mit zwei anderen, wesentlich tieferen.

»Eingesperrt? Wie konnte das passieren, wie ist Euer Name?«

»Jay…flinn. Jeflinn heiß ich!« In Gedanken verpasste Jay sich eine zurechtweisende Ohrfeige. »Ich habe keine Ahnung was passiert ist. Ich bin hier drin aufgewacht und das Tor war verschlossen!«

Eine weitere Pause setzte ein, bevor die Stimme antwortete: »In Ordnung, wartet einen Moment.« Er hörte, wie sich die Wachsoldaten entfernten. Eine Zeit lang geschah nichts, dann hörte er die Frau erneut und dazu die aufgebrachte Stimme eines Mannes, des Stallmeisters. Irgendetwas von wegen ‘er hätte ja auch keine Ahnung, wie das passieren konnte.’ Ein Lichtschimmer leuchtete zwischen den Torflügeln auf und Jay hörte, wie sich jemand am Schloss zu schaffen machte.

Die Wachen postierten sich neben dem Stallmeister, der mit schnellen Fingern das Schloss öffnete. Die Leiterin der Patrouille zog die Pforte auf.

»Gut, dann könnt Ihr nun herauskommen!«

Das ließ sich Jay nicht zweimal sagen. Er drückte die Beine an Dipo, und dieser galoppierte unter lautem Wiehern los. Die Wachen und der Stallmeister schrien auf und sprangen aus dem Weg. Der Braune aber preschte durch die Pforte auf die offene Straße.

Hinter sich hörte Jay die Soldaten rufen, verstand jedoch kein Wort mehr. Er legte sich flach auf Dipo, der in wehendem Tempo die Hauptstraße erreichte.

Jay erwachte innerlich, als der kühle Wind an seinen Ohren vorbeipfiff. Schon bald war das Stadttor in Sicht. Die Wachen dort begaben sich in Position und legten die Lanzen über Kreuz, um ihm zu verdeutlichen, dass er stehenbleiben sollte. Auch wenn sie es im schlechten Licht vermutlich nicht sahen, starrte Jay ihnen unentwegt in die Gesichter und versuchte, seine Entschlossenheit nach außen zu kehren. Doch so nahe Dipo den Soldaten auch kam, diese machten keine Anstalten, auszuweichen. Im Gegenteil – als der Zusammenstoß nur noch wenige Sekunden entfernt war, begannen sie ihre Lanzen auf das herangaloppierende Pferd zu richten. Jay zwang sich, die Augen offenzuhalten und war einmal mehr dankbar für das furchtlose Gemüt seines vierbeinigen Freundes, der ohne Scheu weiterstob. Ohne Scheu mitten in die auf ihn gerichteten Waffen.

»Was tust du hier?«, schoss es dem Jungen durch den Sinn. Wenn Dipo nun ohne zu bremsen in die Soldaten hineinliefe, was würde dann mit seinem Freund oder den Männern dort passieren? Im nächsten Moment jedoch, kaum mehr als ein paar Schritte entfernt von den Torwächtern, durchfuhr diese endlich eine panische Regung. Sie warfen sich aus der Bahn, nicht einen Moment zu früh. Jays Weg war frei.

* * *

Im Dunkeln des Ilmery wurde Dipo langsamer. Die Monde erleuchteten immer wieder Teile des Weges, doch die Orientierung stellte sich als schwierig heraus. Wenn Xia, der größere der beiden Monde, in Gänze leuchtend hoch am Himmel stand, konnte es nachts hell genug sein, dass selbst im dichten Ilmery eine Reise problemlos möglich war. Doch diese Nächte waren selten, und die jetzige zählte nicht dazu. So war ihm bereits langsam mulmig geworden, als er nach einer ganzen Weile immer noch nicht die ihm bekannte Kreuzung zur Küste passiert hatte. Seiner Empfindung nach hätte er sie schon lange erreicht haben müssen, als er sie endlich in der Ferne erkannte. In der Nacht war der Weg zur Küste riskant, ganz gleich, wie oft er ihn zuvor bereits geritten war. Die Hauptstraße weiter entlang hingegen würde er irgendwann das Dorf Talis erreichen. So glaubte er zumindest. Zeit seines Lebens hatte er nur Ilmerun und die nähere Umgebung gesehen. Wieder überkam ihn Ratlosigkeit. Was sollte er jetzt tun? Eine leise innere Stimme versuchte ihn zum Umkehren zu bewegen. Demonstrativ presste er die Lippen zusammen, rückte sich auf seinem Sattel zurecht und lenkte Dipo weiter die Hauptstraße entlang. Wenn er es recht überdachte, wollte er schon immer einmal nach Talis geritten sein.

Einige Zeit trabte er auf diese Weise weiter durch den Wald. Leider begannen erst kleine, dann immer größere Wolken unter den Monden vorbeizuziehen, und schon bald vernahm er fernes Donnergrollen.

Und je weiter die Distanz zwischen Ilmerun und ihm wurde, desto mehr stieg etwas in ihm in bisher unbekannter Art und Weise auf.

Angst.

Gerade als sein Widerstand, nicht nach Hause zurückzukehren, vollständig zu zerbröckeln drohte, er in Betracht zog, seinen Eltern einfach alles zu erklären und die Konsequenzen über sich ergehen zu lassen, war es für ihn zu spät.

Er hörte es erst im letzten Moment. Das Surren, welches die Entscheidung über den weiteren Verlauf seiner Nacht in andere Hände legte. Als er einen schweren Baum, dessen Wurzeln den Boden auf einer Seite des Weges angehoben hatten, überwand, flog etwas in einer blitzschnellen Bewegung von der Seite auf ihn zu. Was es auch war – kaum hatte es ihn berührt, spürte er, wie es sich um ihn herumwickelte und seine Arme fest an seinen Oberkörper drückte.

Bevor er sich befreien konnte, hörte er Hufgetrappel, und drei Reiter begannen ihn einzukreisen.

Dipo wieherte und trampelte unruhig auf dem Boden.

Eine kräftige, herausfordernde Stimme wandte sich an Jay.

»Nanu, wen haben wir denn da? Sind wir nicht noch etwas zu jung, um hier nachts umherzureisen?«

Jay erkannte die Uniformen der Reiter. Wachsoldaten. Das beruhigte ihn etwas, hatte er doch mit Wegelagerern, Halsabschneidern und anderem Gesindel gerechnet.

»Ich bin nur auf der Durchreise, lasst mich weiterziehen«, versuchte er möglichst autoritär von sich zu geben.

Dieser Aufforderung gedachten die drei Gestalten keineswegs nachzukommen.

»Das war keine Antwort auf meine Frage, Söhnchen. Knaben wie du haben bei Nacht hier draußen nichts verloren. Und ehrliche Knaben wissen das sehr gut. Du wirst jetzt ohne Widerstand mitkommen, haben wir uns verstanden?«

Jay seufzte innerlich. Gehorsam war noch nie seine Stärke gewesen.

* * *

Naragh traute seinen Augen kaum, aber in einer der Zellen der Wachstube saß ein kleiner Junge mit schmutziger Kleidung und zerzaustem Haar. Bei näherer Betrachtung stellte sich sein verdrecktes Wams aber keineswegs als billig gefertigt heraus.

»Nanu, so jung und schon strafbar gemacht?«, fragte er mit belustigtem Unterton, während Dorjan, der diensthabende Wachmann, noch mit dem Abgleich seiner Bücher beschäftigt war.

Der Junge blickte ihn an, ließ seinen Mund aber verschlossen. Stattdessen klärte Dorjan den Botschafter auf.

»Die Nachtwache hat ihn auf der Hauptstraße in Richtung Ilmerun abgefangen. Kam wohl mit einem ziemlich ordentlichen Gaul dahergeritten.«

Damit der Junge ihn auch genau verstand, fuhr der Soldat mit deutlicher Stimme fort: »Würd mich nicht wundern, wenn er den irgendwo hat mitgehen lassen. Seit er hier ist, hat er jedenfalls kein Wort mehr gesprochen.«

Bei dieser Beschuldigung meinte Naragh, im Gesicht des Jungen Entrüstung zu lesen. Irgendwie konnte oder wollte er das nicht so recht glauben, aber da sich der Knabe weiter in Schweigen hüllte, würde dieses Rätsel wohl vorerst nicht aufgeklärt werden.

»Wir bringen ihn nach Tenkun«, fuhr Dorjan fort. »Dann ist er das Problem des Richters. Soll der doch herausfinden, was mit ihm ist und wo er herkommt.«

»Ich bin kein Dieb«, hörten die beiden Männer die etwas vertrocknete Stimme aus der Arrestzelle.

Dorjan hob die Augenbrauen und neigte sich um die Ecke, damit er den Jungen sehen konnte.

»Ach, die Zunge ist ja doch noch drin.«

Bockig zog der Knabe die Füße auf seiner Pritsche etwas näher an sich heran und hüllte sich erneut in Schweigen.

Naragh schüttelte den Kopf.

»Na gut, sei es drum.«

Auch Dorjan schien das Interesse schon wieder zu verlieren, dafür war er nun fertig mit seinem Buchabgleich.

»Gut, Botschafter. Alles registriert und in Ordnung.«

»Dann noch eine angenehme Schicht, Dorjan. Viel ist von der Nacht ja nicht mehr übrig.«

»Gute Nacht und gute Weiterreise, Botschafter.«

Dieser ließ ein Gähnen verlauten, verließ die Wachstube und stiefelte müde durch den abflauenden Regen über den Dorfplatz zum Gasthaus. Dorjan hatte nicht übertrieben, stellte er fest. Die Wirtin hatte ein wahrhaft feuriges Temperament.

Die Schatten von Mernor

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