Читать книгу Mystik im Alltag - Leonard van Grippe - Страница 31
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1. Feind
Die ungläubigen Feinde und die Märtyrer des eigenen Glaubens bilden ein unzertrennliches Paar und hängen zusammen wie Polizisten und Verbrecher, wie Feuerwehrleute und Brandstifter. Dass der fanatische Moralapostel bei einem Bordellbesuch ertappt wird, ist eher die Regel als die Ausnahme. Äußerlich wird als Feind bekämpft, was innerlich nicht oder noch nicht bewältigt ist. Solange dieser psychologische Zusammenhang nicht erkannt wird, gehen die Scheingefechte gegen die äußeren Feinde munter weiter und sie können durchaus tödlich enden.
Je mehr Ideologie, desto mehr Feinde, Ungläubige und Heiden, die bekämpft oder bekehrt werden müssen. Wird der Feind zu übermächtig, bleibt immer noch die Spontanwandlung zum Märtyrer, der vornehmsten Art des Suizids. Alle großen Weltreligionen haben sich zu Ideologien mit gesellschaftlicher und sozialer Bedeutung entwickelt, jedoch ist ihr Kerngeschäft – die Spiritualität – im Kampf mit dem Feind weitgehend auf der Strecke geblieben.
2. Flucht
Flucht ist die beliebteste Strategie, um einer schwierigen Lebenssituation zu entgehen, die konfrontierend ist und als unangenehm bis unerträglich empfunden wird. Statt eine solche Situation anzunehmen, zu reflektieren und adäquat darauf zu reagieren, wird die Flucht ergriffen vor der eigenen Betroffenheit, vor all den schrecklichen Bildern. Flucht als willkommenes Ausweichmanöver: Flucht in die Arbeit, ins Kloster, in die Hilfsorganisationen, in die Betriebsamkeit, in die Drogen, in den Sport. Je größer die Betroffenheit, desto dringlicher und vehementer die Flucht. Fliehen scheint das Einfachste dieser Welt zu sein, aber sie zahlt sich nie aus, weil die Flüchtenden von dem, dem sie unbedingt entrinnen möchten, früher oder später eingeholt werden. Weder Sterben noch Tod lassen sich abschütteln, glücklicherweise!
Flucht in eine religiöse Gemeinschaft oder Sekte kann eine sehr wirkungsvolle Methode sein, um paradoxerweise dem spirituellen Wachstum selbst zu entkommen, denn dort, wo echte Gottsuche vermutet wird, gibt es selten differenzierte Hinterfragungen. Ein perfekter Hort – allerdings nur bis zur unausweichlichen, nächsten Krise (siehe S. 108).
3. Fortschritt
Zu Beginn einer spirituellen Reise sind Suchende häufig geradezu euphorisiert. Endlich ist gefunden, was so lange gesucht wurde: eine Gemeinschaft, der geduldige Lehrer, die enormen Einsichten, die Freundschaften. All dies wirkt sich auf das Wohlbefinden und meist auch auf die Gesundheit der Suchenden äußerst positiv aus.
Eine verzwickte Yoga-Asana oder die große Form im Tai Chi richtig auszuführen, ein kompliziertes Ritual zu beherrschen, Begriffe in Sanskrit oder korrekt Japanisch zu rezitieren, die Bhagavad Gita im Original zu lesen oder die alten Patriarchen zu zitieren, im Lotussitz stundenlang und unbeweglich zu verharren – all das sind tolle Fortschritte und doch nur äußerlich!
Menschen haben außerordentliche Fähigkeiten, abstruse Dinge mit großem Aufwand zur Perfektion zu bringen. Daran hängen Ruhm und Applaus, doch die Enttäuschungen sind stets vorprogrammiert. Körperliche Beschwerden und mentale Verletzungen lassen die Ziele oft schnell in weite Ferne rücken, die Praxis erweist sich meist als mühevoller als ursprünglich angenommen und bald sind die bejahrten Gefährten und frühere Vorbilder nicht mehr so beeindruckend wie einst.
Die erste Krise ist im Anzug. Soll die Praxis intensiviert werden, was vielleicht neue Fortschritte ermöglicht? Soll die ganze Übung grundsätzlich in Frage gestellt oder noch besser gänzlich abgebrochen werden?
Das sind die existenziellen Fragen jeder tieferen spirituellen Krise. Léonard möchte betonen, dass die Früchte eines spirituellen Weges sich in der Häufigkeit und Dauer der mystischen Erlebnisse äußern, alles andere gehört in die Kategorie Geplänkel und hat mit echtem Fortschritt wenig zu tun.
4. Frau
Als Mann über die Spiritualität von Frauen schreiben, scheint nicht nur vermessen, sondern auch brisant. Léonard weiß das und legt deshalb nur seine rein subjektiven Erfahrungen aus langjährigen Beziehungen zu weiblichen Wesen dar, sei es die Mutter, die Schwestern, Partnerinnen, Ehefrauen, Freundinnen oder Bekannte.
Erstaunlicherweise wird weltweit nur von wenigen erwachten Frauen berichtet: etwa von Chiyono, der buddhistischen Nonne mit dem auslaufenden Wasserkübel »Kein Wasser, kein Mond«, von Ringetsu mit der Pracht der gefrorenen Kirschblüten oder von Meera, der königlichen Tänzerin. In unserem Kulturkreis sind dies etwa Hildegard von Bingen und Teresa von Avila.
Ist die Aufzählung unvollständig? In jüngerer Zeit hat Léonard einige Meisterinnen und Lehrerinnen besucht. Diese sind Irina Tweedie{39}, Anette Kaiser{40}, Pyar{41} und andere Satsang-Lehrende{42}. Sie sind – verglichen mit bekannt gewordenen Erleuchteten oder gegenwärtig auftretenden Gurus und Meistern – eine verschwindende Minderheit. Und dies, obwohl Frauen in vielen spirituellen Bewegungen eine ansehnliche Mehrheit bilden. Frauen wurden und werden auch heute in vielen religiösen und spirituellen Bewegungen ausgebeutet, unterdrückt, diskriminiert oder gar ausgeschlossen. Häufig sind sie gerade mal geduldet, die höheren Weihen freilich bleiben den Männern vorbehalten.
Die existenzielle Frage nach der weiblichen Erleuchtung konnte Léonard kaum ergründen, denn nur wenige der im ersten Abschnitt genannten Frauen wollten sich zu diesem Thema äußern. Doch scheint es Léonard eine durchaus interessante Frage, ob Erleuchtung eine genderspezifische Thematik sei und Frauen weniger häufig erleuchtet werden als Männer. Was könnten die Gründe sein? Vielleicht zeigen Frauen wenig Interesse an spirituellen Karrieren aus ähnlichen Gründen, weshalb viele auch Anstellungen in höheren Führungspositionen meiden? Erkennen sie, die selber neues Leben auf die Erde bringen können, womöglich viel deutlicher, wie begrenzt und vergänglich irdischer Ruhm schlussendlich ist? Vielleicht ist Erwachen ja gleichwohl genderneutral. Männer, gefangen in ihrer üblichen Extrovertiertheit, sind einfach erpicht, den neuen Bewusstseinszustand postwendend und lautstark der ganzen Welt zu verkünden.
Der männliche Mind scheint viel extremere geistige Höhenflüge in wissenschaftlicher, philosophischer oder religiöser Hinsicht anzustreben. Das weibliche Geschlecht hingegen mutet ihm deutlich erdverbundener an, auch wenn ihm die weibliche Gefühlswelt auch heute noch häufig sehr rätselhaft erscheint. Ihre Verbundenheit mit den Gefühlen, die natürliche Körperlichkeit – akzentuiert durch den Fruchtbarkeitszyklus und ihr Potenzial zum Gebären – prädestinieren sie geradezu für mystische Erfahrungen. Vielleicht hindert die bei Frauen oft zu beobachtende Verankerung in sich selbst das Entstehen eines ausreichenden Drucks, um Suchen in Finden zu verwandeln.
Es ist jedenfalls ein nicht seltenes Phänomen, das Léonard bei sich selbst und auch bei Mitlernenden beobachtet hat, dass den mittelmäßig Begabten, angetrieben von größerem Eifer und Ausdauer, der angestrebte Durchbruch eher gelingt als den wirklich Talentierten.
5. Freiheit
Nur die Auflösung des Egos führt zu wahrer Freiheit. So schlicht und ergreifend ist die Wahrheit. In einem sogenannten freiheitlichen Staat zu wohnen, bedeutet noch lange nicht, dass seine Bürger frei wären. Sie mögen vielleicht frei sein, materielle Güter anzuhäufen, in ferne Länder zu reisen oder persönliche Macht auszuüben. Doch schlussendlich geht es allein um die innere Freiheit, die Befreiung aus dem Irrgarten der Verwirrung. Echte Freiheit entsteht aus dem Versiegen der unbewussten Gedanken und Gefühlen, egal ob im Gefängnis oder am Südseestrand.
Diese Freiheit lässt sich erreichen, indem sich der geneigte Lesende einer echten, tiefen Suche verschreibt und diese Suche nicht zum Selbstzweck verkommen lässt. Ausnahmsweise scheint Gnade es zuzulassen, dass diese ultimative Freiheit auch durch das Lesen des richtigen Buches zum richtigen Zeitpunkt erreicht werden kann.{43}
6. Friede
»Friede sei mit Euch« oder »Die Macht sei mit Euch«, das sind schöne, fromme Wünsche. Friede ist im spirituellen Bereich nicht der Gegensatz zu Krieg und keine äußere Norm, sondern die Abwesenheit von Aggressivität. Friede äußert sich als eine innere Ruhe, als Gelassenheit. Die Unterdrückung eigener Aggressionen führt nicht zu innerem Frieden, sondern naturgemäß zu Verspannung und über längere Zeitdauer meist zu körperlichen Symptomen und Krankheit. Friede kann genauso wenig geübt werden wie Liebe oder Mitgefühl, er ist vielmehr eine natürliche Folge der Bewusstseinsentwicklung. Es ist genau diese Entfaltung des Bewusstseins, die – unterstützt und gefördert durch wirkungsvolle Übungen und Praktiken – in wahren Suchenden Gelassenheit, inneren Frieden, Mitgefühl, Weisheit, emotionale Intelligenz, Glück und Liebe erweckt und entwickelt. Keinesfalls kann dieser Prozess umgekehrt werden, auch wenn noch so viele religiöse, esoterische oder psychologische Strömungen dies suggerieren.