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Der 21. September 2001 war ein Freitag. Es war der 264. Tag des Jahres. Gerhard Schröder war Bundeskanzler, Johannes Rau Bundespräsident, der FC Bayern München deutscher Meister. Die afghanischen Taliban weigerten sich, bin Laden an die USA auszuliefern, und das Oktoberfest wurde tags darauf erstmals seit 1950 ohne das traditionelle »Ozapft is« eröffnet. Die No Angels standen mit »There Must Be An Angel« auf Platz eins der Top Ten und der Wochenendkrimi »Im Fadenkreuz« begann tags darauf um 20:15 Uhr auf ZDF.

21. September 2001

Auffing (Oberbayern)

Roja Özen

Traudels roter Fingernagel bohrte sich in die Luft. Roja stand an der Tafel und zeigte auf sie, ohne ihren Namen zu nennen.

»Redest du daheim islamisch?«

Roja schaute zu ihrem Lehrer. Der nickte ihr aufmunternd zu. Noch bevor Roja antworten konnte, platzte Vroni dazwischen: »Geht deine Mama eigentlich mit ihrem Kopftuch unter die Dusche?«

Die Klasse johlte. Roja hätte gern zu ihrem Lehrer geschaut, starrte auf Vroni, die sich durch ihre gebleichten Locken fuhr, der Ärmel des ausgeleierten Wollpullis bebte vor Lachen. Es gongte. Roja drehte sich um, ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen, ihr Blick fiel auf den Jesus am Kreuz, der über ihr an der Wand hing. Gestern hatte ihre Religionslehrerin erzählt, dass er durstig am Kreuz gehangen habe. Worauf ihm ein römischer Soldat einen essiggetränkten Schwamm gab, auf einen Ysopzweig gespießt, von dem Jesus trank.

Schritte stürmten hinter ihr aus dem Klassenzimmer. Ein kühler Windzug strich über ihren Hals.

»Roja … Roja!« Ihr Lehrer stand neben ihr. Sie flüsterte ein »Ja«, versuchte, sich vom Bild des Jesus am Kreuz zu lösen. Sie hörte das Rascheln von Papier und sah ihrem Lehrer in die Augen.

»Fabio ist immer noch krank. Wärst du so lieb und würdest ihm bitte die Hausaufgaben bringen?«

Eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper, in ihren Kopf, weckte sie.

»Natürlich.«

Sie griff nach den Blättern. Das Papier war seltsam kalt. An ihrem Platz schob sie es vorsichtig in ihren Rucksack. Der zippende Reißverschluss hallte von den Plakaten an den Wänden wider.

Roja musste sich beeilen, um rechtzeitig zu ihrem Friseurtermin zu kommen. Eine blonde Strähne musste sein. Da konnte Dayê sagen, was sie wollte.

Es bimmelte, als sie die Tür des Friseurs öffnete. Die Besitzerin sah kurz zu ihr herüber, begrüßte sie mit einem dürren »Griasde« und wandte sich wieder den Locken der grauhaarigen Frau zu. Gerade hatten sie sich noch angeregt unterhalten. Die Friseuse schob der Frau die Maschine, die aussah wie ein riesiger Sturzhelm, über den Kopf. Normalerweise empfing sie die Friseuse mit einem Lächeln, heute hingen ihre Mundwinkel nach unten.

Roja zog ihre Jacke aus und schob sie über einen Kleiderbügel an der Garderobe. Vorsichtig linste sie zur Friseuse hinüber, bevor sie sich auf den Stuhl setzte. Sie reagierte nicht, schaute in den Fernseher. Dort stand ein Mann vor einem Volksfestzelt und erzählte, dass das Oktoberfest nicht wie gewohnt eröffnet werden konnte. Aus Respekt. Respekt, dachte Roja, was für ein komisches Wort. Dann wurde ein anderer Mann eingeblendet, mit einem langen Bart und einem Turban, der eine Tarnjacke trug.

Als die Friseuse endlich bei Roja war, befestigte sie den Umhang und das Papierband fest um Rojas Hals. Sicherheitshalber griff Roja nach dem Asthmaspray in ihrer Hosentasche. Kalt, vom kühlen Septembertag. Wollte sie es nicht loslassen, musste sie sich verbiegen. Trotzdem versuchte sie sich aufrecht hinzusetzen, wie sie es die letzten Jahre in der Schule getan hatte, um nicht aufzufallen. Das Spiegelbild der Friseuse stand vor ihr, bewaffnet mit Schere und Kamm, als würde sie auf etwas warten.

Roja spürte das Foto in ihrer Hosentasche, die abgerissenen Ränder. Wie eine Eintrittskarte wartete es darauf, vorgezeigt zu werden.

Normalerweise fragte die Friseuse, wie es ihrem Vater, ihrer Mutter ging, wie die Ausbildung ihres Bruders zum Maschinenschlosser lief. Stattdessen fragte sie: »Wie soll ichs schneiden?«

Die Friseuse umklammerte Schere und Kamm, stierte in den Spiegel und damit auf Roja.

Roja musste an die Geschichte denken, die ihr der Märchenonkel aus seinem Heimatdorf, seiner Kindheit in Kurdistan erzählt hatte. Einmal im Jahr bewaffnete sich das Dorf. Sogar die Kinder trugen Keulen auf den Schultern oder Steinschleudern in den Händen. Im Gürtel des Onkels steckte ein verrosteter Dolch, den er auf der Straße gefunden hatte, und dessen Spitze auf sein aufgeschürftes Knie zeigte. Die Männer ritten zu der Stelle, wo sich die Eindringlinge versteckt hielten. Die Hufe der Pferde schlugen auf den harten Steinboden. Der Onkel wartete mit den anderen Kindern aus dem Dorf am Ortsrand, den Dolch gezogen. Die Rufe und Trommeln der Männer hallten von den roten Bergen wider, kamen näher. Kurze Zeit später preschten ein Rudel Schweine und ihre Ferkel auf sie zu. Die Streifen der Frischlinge schossen durch die Sonne. Schüsse ertönten, die Schweine stürzten quiekend zu Boden, über ihnen eine Staubwolke. Ein Ferkel rannte direkt in die Arme des Onkels. Er packte es und hob das bibbernde Tier hoch. Die Männer forderten ihn auf, das Ferkel loszulassen, wagten aber nicht, ihm das unreine Tier zu entreißen. Der Onkel ließ sich nicht davon abbringen, es nach Hause zu tragen. Dort sperrte er es in das Gehege zu seinen drei Hundewelpen. Obwohl seine Mutter nach dem Abendessen immer noch wetterte und zeterte, schmuggelte er, als sich die Nacht über das Tal legte, Fleisch und Brot in seinen Jackentaschen hinüber ins Hundegehege. Dort fand er das Ferkel, ausgeblutet, mit fleischigen Wunden am Hals, tot.

Roja verließ den Laden, war erleichtert, als sich die Tür hinter ihr schloss. Der Wind wehte eine abgeschnittene Locke davon, die dem Föhn der Friseuse entwischt war. In jedem Schaufenster betrachtete sich Roja, in jedem Autofenster und zuletzt in einem Rückspiegel leuchtete die blonde Strähne inmitten ihrer schwarzen Lockenpracht. Das Ferkel im Hundestall, dachte sie. Sie stieß gegen einen entgegenkommenden Mann, der sie wütend anschnaubte.

Fabio wohnte mit seinen Eltern in einem Reihenhaus in Auffing. Vom Friseur aus waren es drei Berge, bis man zu ihm gelangte. Das Haus war nur von einer Seite erreichbar. Über einen Berg, vorbei an Bungalowgärten und Thujenhecken auf der einen Seite und Vorgärten und Küchenfenstern von Reihenhäusern auf der anderen Seite. Roja drückte auf den Knopf neben dem Messingschild »Stingl« und ein kurzer Klingelton erklang. Die Tür ging auf, Fabios Mutter trat unter das Vordach.

»Grüß Gott, Frau Stingl«, sagte Roja.

Fabios Mutter glotzte aus wässrigen Augen durch sie hindurch. Sie umklammerte ein schwarzes Kästchen, das neben der weißen Schürze glänzte.

»Griasde, Roja«, stieß sie hervor und hielt das Kästchen vor ihren Bauch. Weil Roja dem vernebelten Blick nicht mehr standhielt, sah sie an der Hausmauer hoch. Hinter dem Fenster strahlte Fabio bleich zu ihr hinunter. Roja setzte den Fuß in seine Richtung, hob die Hand, ließ sie fallen, lächelte. Zögerlich hob er die Hand.

»Kann ich dir helfen?«, erschreckte sie eine Männerstimme. Fabios Papa hetzte den Berg hinauf. Die Ledertasche in seiner Hand baumelte hin und her. Roja riss ihren Rucksack von den Schultern und stammelte: »Ich bringe Fabio die Hausaufgaben.«

»Das ist aber nett.« Spucke landete auf ihrer Nase. Sie wagte nicht, sie abzuwischen. Wagte nicht, zu Fabio hochzusehen. Wartete darauf, hereingebeten zu werden. Stattdessen sagte Fabios Papa. »Wenn er wieder gesund ist, könnt ihr ja mal zusammen spielen.«

Zusammen spielen?, dachte Roja.

Ein dumpfer Knall ließ sie zusammenzucken. Sie schauten nach oben, zu Fabios Fenster. Sein Gesicht war verschwunden. Der Vogel hatte einen Fleck hinterlassen, an Roja vorbei stürzte er zu Boden. In ihrem Hals steckte ein Stein.

Zu Hause zog sie sich zurück in das Zimmer, das sie gemeinsam mit Serhat bewohnte. Mutter steckte den Kopf herein und fragte, ob sie noch etwas essen mochte.

Roja schüttelte den Kopf und sagte: »Ich muss noch Hausaufgaben machen«, woraufhin ihre Mutter die Tür schloss.

Sie ließ sich auf das Bett fallen, umklammerte das Kissen, zog ihre Knie an, und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, starrte sie von Serhats Seite Muhammad Ali in Shorts und Kämpferpose an. Neben ihr lief eine Spinne über die Raufasertapete. Roja beobachtete die dürren Beine, wie sie sich über die weißen Hügel bewegten. Hob die Hand. Und erschlug sie. Die zermatschte Spinne hinterließ einen bläulichen Fleck auf der weißen Wand. Der Stein in ihrem Hals zersprang. Tränen rollten aus ihren Augen. Sie wischte sich übers Gesicht.

Es klopfte. Mutter kam herein, gab ihr einen Abschiedskuss, ging putzen; ohne Kopftuch. Erschrocken sah ihr Roja hinterher.

Da war Rojas Stein im Hals zurück. Ich muss Fabio sehen!

Wütend schnappte sie sich Mutters Kopftuch, das auf der Holzkommode lag. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe, in ihre Jacke. Hetzte durch die Dämmerung zu Fabio.

In Fabios Zimmer brannte noch Licht, genau wie in der Küche darunter. In der Küche war niemand zu sehen. Roja sammelte Kieselsteine und warf sie an Fabios Fenster. Nichts geschah.

Sie suchte den Boden nach einem größeren Stein ab. Stattdessen fand sie den toten Spatz, der heute Nachmittag gegen das Fenster geflogen war. Neben dem toten Vogel lag ein kantiger Stein. Roja hob ihn auf. Nahm Anlauf. Und warf. Fabio stand vor ihr. Es klirrte, die Fensterscheibe zerbarst. Erstaunt starrte er sie an. »Roja?« Dann jagte sie davon.

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