Читать книгу Gran Canaria all inclusive - Leonie Bach - Страница 4
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ОглавлениеVictoria klappt ihr Notebook auf. Ein Fiepen, dann empfängt der kleine Computer sie mit elektronischen Harfenklängen. Scheußlich, findet Victoria, denn sie hält sich einiges auf ihren Musikgeschmack zugute. Sie ist immerhin die Tochter des berühmten Dirigenten Christopher Wohlzogen.
Lustlos starrt sie auf den Bildschirm.
Eigentlich sollte sie jetzt die Texte für ihre abendliche Sendung vorbereiten, Kultur vor Mitternacht, auf Radio K. Eigentlich sollte sie sich tiefsinnige Gedanken über ein sehr modernes Tanzensemble machen. Victoria ist davon überzeugt, daß ihre tiefsinnigen Gedanken die einzig richtigen sind.
Ihre anderen Gedanken gehen niemanden etwas an, wäre auch peinlich, findet sie. Ihre Herkunft verpflichtet schließlich zur Ernsthaftigkeit Eigentlich sollte sie also arbeiten.
Aber uneigentlich geht in ihrem Kopf etwas anderes vor.
Sie wirft einen Blick auf die Tischuhr, die hinter ihr auf dem Klavier tickt. Halb drei, genug Zeit. Sie nimmt einen Schluck Milchkaffee, dann klickt sie mit der Maustaste den Dateiordner »Purer Unsinn« an.
Hinter dieser Bezeichnung versteckt sie ihr kleines Geheimnis. Es ist ein Tagebuch, das niemand zu Gesicht bekommen soll. Weil es eine Victoria zeigt, die keinen etwas angeht. Die unfrisierte Victoria. Keiner kennt sie so, außer vielleicht ihre Freundin Stefanie, aber die ist eine treue Seele, der man alles anvertrauen kann.
Stefanie ist die Wetterfee von Radio K. und hat den Kopf immer in den Wolken. Deshalb ist sie ihr, also Victoria, zu großem Dank verpflichtet, findet Victoria. Sie holt die leichtgläubige Steffi immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vor allem, wenn es um Männer geht. Victoria hält nicht allzuviel von Steffis Männern und Männern im allgemeinen.
Sie legt die Hände auf die Tastatur und tippt leichthändig los, so als spiele sie Klavier. Dabei spielt sie nur selten Klavier, weil ihr Vater natürlich recht hat: Sie ist nicht gut genug, war sie nie. Und jetzt ist es zu spät, das zu ändern. Denn jetzt ist sie eine reife, gebildete, geschmackssichere Frau, die ihre Grenzen und Begabungen genau kennt, glaubt Victoria. Und das ist gut so – eigentlich.
3. April
Meine Güte! Ich werde vierzig.
Na ja, fast. Seit gestern bin ich jedenfalls sechsunddreißig und der Meinung, daß eine Frau sich ihren lebensgefährlichsten Gegnern – Tod und Hautalterung – rechtzeitig stellen muß. Wenn ich mich im Bad am Handtuchhalter vorbei ganz nah an den Waschbeckenspiegel heranschlängele, sehen die Falten auf meiner Stirn so tief aus wie der pazifische Marianengraben.
Stefanie meint, das liegt an den 90-Watt-Birnen über dem Spiegel, aber sie neigt dazu, sich die Welt genau wie die Männer schönzureden.
Zum Geburtstag habe ich mir jedenfalls drei Gesichtscremes gekauft: eine für Feuchtigkeit, eine für Straffheit, eine für – nein, Quatsch – gegen Falten, außerdem Gels gegen Augenringe, Lotion gegen Zellulitis und ein straffendes Fluid gegen das drohende Doppelkinn.
Von dem wußte ich vor meinem Besuch in der Drogerie noch gar nichts. Die Verkäuferin bei Douglas hat ihre Sache wirklich gut gemacht, normalerweise belüge ich mich selbst am besten.
Das Zeugs für oder gegen das Doppelkinn habe ich allerdings meinem Ficus verordnet, der krummastig und mit staubigen Blättern vor sich hin vegetiert. Jetzt vegetiert er weiter, glänzt aber wie ein frisch gecremter Kinderpo. Wäre er keines der seltenen Geschenke von Papa, hätte ich ihn längst stilvoll im Müll begraben. Ich und Pflanzen, das ist ein trostloses Kapitel.
Mister Dad hat sich gratulationstechnisch noch nicht gemeldet, nur seine monatliche Überweisung kommt pünktlich.
Wahrscheinlich ist er im Streß oder auf Tournee, oder was weiß ich. Leider seit Monaten nichts Genaues. Dafür wird sein Geschenk dieses Jahr wahrscheinlich gewaltig ausfallen, obwohl mir ein paar warme Worte lieber wären, als ein neues Auto wie beim letzten Mal . . . Bin ich peinlich: Fast vierzig und sentimental wie ein Disney-Trickfilm.
Das muß ich von meiner Mutter haben, der man ihre sechzig wirklich nicht anmerkt, seelisch würde ich sie auf höchstens neuneinhalb schätzen.
Kompromißlos charmant wie immer hat sie mir gegen meine Faltenphobie einen Gutschein für einen Laserchirurgen angeboten. Ich nehme an, bei dem bekommt sie bereits Mengenrabatt, denn dank Schönheitschirurgie sieht sie aus wie eine frühe Fünfzigerin und benimmt sich wie die späte Schlampe Blanche Devereaux von den Golden Girls.
Sie – also Mutter – hat mich außerdem in ihr Haus auf Gran Canaria eingeladen. Wahrscheinlich zum Karussellfahren in Playa del Ingles oder zum Karaoke-Singen in ihrer Lieblingshotelbar. Nein danke. Keine Ahnung, was sie an diesem kulturlosen Lummerland für Langeweiler bloß findet. Außerdem ist Sonne wirklich der Faltenmacher Nummer eins.
Das letzte Weihnachtsfest bei Mama hat mir jedenfalls gereicht. Ich sage nur Miß-Sexy-Sixtie-Wahl und Limbo-Dancing. Meine Mutter ist einfach unmöglich. Und sowieso: Gran Canaria in den Osterferien kommt auf meiner Wunschliste direkt nach Schneeschaufeln in Sibirien im Januar.
Mit Stefanie habe ich zur Feier meines Birthdays gestern eine Shopping-Orgie unternommen: Aber diesmal nix Jil Sander, sondern H&M, Kookai und Mango. Steffi, dem Schaf, war es peinlich, zwischen all den kreischenden Teens in Klumpfuß-Schuhen an den Kleiderstangen zu wühlen. Dabei war das nur meine ganz private Schocktherapie gegen Alterssorgen.
Eine Viertelstunde H&M und der einzige Gedanke, zu dem ein reifer Mensch noch fähig ist, lautet: Nie mehr fünfzehn – Gott sei Dank, jung sein ist doch öde. Stefanie sieht das natürlich anders und findet, wir seien selber noch blutjung. Gut, daß Steffi mich hat, mich, die gute alte . . . Iiih. Vierzig!
Die meisten Menschen, die ich in diesem Alter kenne, sind verheiratet, geschieden, langweilig, fett und mehrfach drogenabhängig (Alkohol, Zigaretten, Süßkram, Knabberkram, Lindenstraße), oder sie sind alles auf einmal. Mit mir nicht. Bis jetzt habe ich Heirat und ähnlich dickmachenden Unsinn – etwa Kinderkriegen – konsequent vermieden.
Ich trinke nicht, rauche nicht und finde Obst wirklich leckerer als Süßigkeiten, abgesehen von Pralinen mit Kokos-Mango-Füllung und Kinderschokolade. (Meine Güte, heute ist der Tag der peinlichen Geständnisse!)
Das mit der großen Liebe sehe ich ebenfalls nüchtern. Es handelt sich dabei lediglich um eine der größten Kulturlügen der Menschheitsgeschichte. Warum sonst scheitert in deutschen Großstädten jede zweite Ehe? Zuviel positive Alternativen. Meine Versuche in diese Richtung habe ich Anfang Dreißig mit zerbeultem Herzen und wegen Gefahr der Vollverblödung eingestellt. Mich verläßt keiner mehr.
Da lobe ich mir meinen Ludwig, fünfundvierzig, noch fast komplett behaart, kultiviert, leidenschaftlicher Koch und Inhaber einer eigenen Wohnung. Mehr Mann braucht Frau nicht. Für gelegentliche Städtetrips, Museums-, Konzert- & Restaurantbesuche ist Ludwig einfach die Bettbesetzung – uups, Freudscher Tippfehler. Also: Ludwig ist nicht meine Bett-, aber die Bestbesetzung in Sachen kulturelle Freizeitgestaltung und angemessene Anbetung meiner Person.
Der Sache mit dem Bett messe ich nicht mehr soviel Bedeutung zu. Ausgelassen hab’ ich nichts – außer vielleicht die Nummer mit dem Honigpuder, den Handschellen und dem Federpinsel. Kann ja noch kommen, aber mal ehrlich: Sex ist doch letztlich nur ein Austausch von Körperflüssigkeiten. Das beherrscht jeder Depp ohne Gebrauchsanweisung.
Wahrscheinlich sogar unser neuer Sendeleiter Pflügner, der Radio K. auf Vordermann bringen soll. Der macht mir doch glatt Avancen:
»Kaum zu glauben, daß eine so kluge, unabhängige Frau wie Sie auch noch so schöne Beine hat. Ich sag’s ja immer, gegen euch neue Frauen haben wir Männer überhaupt keine Chance, außer Kapitulation. Haben Sie Lust, mal etwas mit mir zu trinken?«
Nur wenn er sieh ein Glas Blausäure bestellt.
Männliche Feministen waren mir schon immer suspekt. Außerdem steht meine Sendung bei Radio K. garantiert auf der Abschußliste: Kultur vor Mitternacht – wer legt darauf schon Wert? Außer mir.
Vielleicht will Pflügner mich verführen, emotional abhängig machen, dann fallenlassen und in den Selbstmord treiben? Kündigung ohne Sozialplan sozusagen. Mit mir nicht, solange ich Victoria Wohlzogen heiße, kann der mir gar nix, dieser Analphabet. Papa gehört schließlich ein Teil des Senders.
Apropos Analphabeten. Die liebe Stefanie scheint auch vernünftiger zu werden, was Kerle angeht. Seit ich sie Weihnachten auf Gran Canaria von einer Affäre mit dem Swimmingpoolreiniger meiner Mutter abgehalten habe, hat sie keine neuen Anzeichen von Verliebtheit gezeigt. Ihr Hang zum Küchenpersonal ist shocking.
Wenn sie mich nicht hätte, wäre sie wahrscheinlich schon lange verheiratet – etwa mit dem Friteusenkoch in unserer Senderkantine. So einer braucht Stefanie nur ein Lächeln und einen Klacks Mayonnaise zu den Pommes zu spendieren, schon ist es um sie geschehen. Keinen Funken Stolz, die Gute. Ein Glück, daß ich ihr Vorbild bin. Okay, das klingt arrogant, aber ich kann mir das leisten.
Traumkerle sind gentechnisch einfach noch nicht machbar, und vom Himmel fallen sie bestimmt nicht, soviel weiß ich nach beinahe vierzig Jahren Erdenleben.
Weia! Gut, daß niemand diesen Bekenntnisschrott einer (alternden) Kulturmoderatorin zu lesen bekommt.
Victoria Wohlzogen klickt mit der Maustaste auf »Speichern«, schließt das Dokument »Purer Unsinn« und schaltet ihr Notebook aus. Fürs erste ist diese unbestimmte Angst vor der Zahl vierzig gebannt. Man darf sich selber nicht zu ernst nehmen. Man darf überhaupt nichts zu ernst nehmen, außer der Kunst. Seufzend schaut sie auf die Uhr.
Gleich drei. Zeit, in den Sender zu fahren, um mit dem Cutter den letzten Beitrag zu schneiden, die Moderation und das Interview vorzubereiten.
Heute ist sie mit Kultur vor Mitternacht live dran, muß ein Gespräch mit dem Choreographen von der New York Dance Company führen. Nicht gerade ein Quotenhit, aber was kann man machen, wenn die Masse keinen Sinn für echte Kultur hat? Halbgefüllte Konzertsäle und stille, weil leere Museen sind ihr ohnehin lieber als überfüllte Kulturstätten. Victorias Lebensmotto lautet: Mache nie den Fehler, andere für klüger zu halten als dich selber.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelt.
Vati, denkt sie. Schließlich ist ihr Erzeuger noch den Geburtstagsanruf schuldig. Sie reißt den Hörer von der Gabel, sagt mit Mädchenstimme »Hallo«. Blöde, wie ihr Herz dabei flattert, aber na ja, er meldet sich so selten aus New York. Er meldet sich überhaupt unregelmäßig, eben nach Lust und Laune. Seine Kunst geht vor.
Der Anrufer am anderen Ende klingt irritiert, diese gehauchte, sehr feminine Tonlage ist ihm bei Frau Wohlzogen fremd: »Eh, hallo, mit wem spreche ich denn da?«
»Ach Sie sind’s«, antwortet Victoria gelangweilt und wechselt die Stimmlage um ein paar Etagen nach unten.
»Frau Wohlzogen? Ich habe Ihre Stimme erst gar nicht erkannt. Ich hoffe, ich habe Sie nicht unter der Dusche weggelockt? Oder aus dem Bett geklingelt? Ihr von der Kultur habt ja ein wahres Lotterleben. Abends in die Oper, Premierenfeiern und Champagner zum Frühstück, haha.« Anzügliches Räuspern.
So ein Volltrottel, Victoria erspart sich alle Höflichkeiten. »Was gibt’s denn Dringendes, Herr Pflügner?« Hoffentlich keine erneuten Annäherungsversuche.
»Nun, eh. Ich habe hier gerade die wöchentlichen Einschaltquoten von Radio K. vorliegen. Sehr interessant. Sehr interessant.«
»Ach ja?« Victoria legt all die Überheblichkeit in ihre Stimme, zu der sie fähig ist. Sie ist dazu mehr als fähig, sie ist hochtalentiert, wenn es um Überheblichkeit geht.
Pflügner bricht der Schweiß aus. Das kann man sogar hören. »Nun, ehem. Ja. Sehr interessant. Und ich nehme an Sie wissen, daß Kröger junior sich auch sehr für die Zahlen interessiert. Präzise gesagt, denke ich, daß er möglicherweise enttäuscht sein wird.«
Präzise gesagt, willst du mir drohen, denkt Victoria. Kröger junior ist der Sohn vom Haupteigner des Privatsenders, einem Zeitungsverleger, der die Radiostation mal eben so dazugekauft hat – für Sohnemann Kröger, damit er was zu tun hat und bei den wichtigen Geschäften nicht dazwischenquengelt.
Pflügner erwähnt Sohnemann, um sich mehr Autorität zu verleihen und Junior die Buhmannrolle zuzuschieben. Victoria tut ihm nicht den Gefallen, erschrocken aufzuseufzen oder verlegen zu stammeln. Junior ist ihr schnurzpiepe. Sie schweigt ganz einfach in den Hörer.
Pflügner räuspert sich wieder. »Wie Sie sich denken können, sieht es bei Kultur vor Mitternacht nicht ganz rosig aus.«
Soll das ein Scherz sein? Rosig? Schlammfarben, düster grau wird es da aussehen. Hält dieser Kerl sie für so blöd wie sie blond ist? Kultur ist das letzte Tabu der Massenmedien. Über Hölderlins späte Lyrik oder Brahms Klavierkonzerte spricht man nicht in Funk und Fernsehen, weil es die Leute verschreckt – anders als Pädophile, Peitschensex oder Potenzprobleme.
»Herr Pflügner, Kultursendungen werden nicht als Chartbreaker eingeplant«, erklärt Victoria von oben herab. »Sie dienen der Imagepflege eines Senders. Außerdem ist auch Radio K. per Rundfunkgesetz zu einer gewissen Anzahl von Wortbeiträgen mit Bildungscharakter verpflichtet, deshalb . . .«
Hastig unterbricht Pflügner die Kulturchefin. »Sicher, sicher. Aber, wenn ich mir zum Beispiel den Laufplan Ihrer heutigen Sendung so ansehe: Interview zum Thema ›Problemorientierter Kammertanz‹, also, ich bitte Sie, klingt das nicht wirklich ein bißchen, eh, zäh?«
Ein bißchen? Victoria lächelt sarkastisch. Der Mann ist gut, das ist Hardcore-Kultur, nichts für Leute, die sich mit den Vorschlägen der »Gong«-Bestsellerliste zufriedengeben und ihre Klassik-CDs bei Tchibo kaufen – im Doppelpack für nur 14,95 und einer Tasse Kaffee gratis dazu.
»Herr Pflügner, als Sie die Sendeleitung übernommen haben, muß Ihnen doch klar gewesen sein, daß ich für eine Minderheit zuständig bin. Meine Sendung ist ein Reservat für eine aussterbende Gattung. Sie haben natürlich ein Interesse an den Mehrheiten, an immer mehr Mehrheiten. Für mich gilt das Gegenteil.«
»Frau Wohlzogen, Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie sich selber abschaffen wollen?« Der Mann klingt doch tatsächlich erleichtert. Na warte.
»Nein. Je populärer sich die Kultursendungen anderer Medien geben, um so kompromißloser werde ich unpopuläre Kultur anbieten, und am Ende hat Radio K. die einzige waschechte Kultursendung, die es in der privaten Radiolandschaft überhaupt noch gibt, klar? Fazit: Wir tun was für die Kultur und unser Image. Was anderes interessiert mich nicht.«
Braucht sie auch nicht zu interessieren, denkt Pflügner frustriert. Schließlich wird Victoria Wohlzogen einmal ein hübsches Vermögen von ihrem Vater, dem Dirigenten und Plattenmillionär Christopher Wohlzogen erben, der außerdem einen Anteil von fünfundzwanzig Prozent an Radio K. besitzt. Der Papa kann sehr großzügig sein, wenn es um seine Prinzessin geht.
Es ist wahrhaftig kein Kunststück, mit so jemandem im Rücken kompromißlose Kulturprogramme zu machen, denkt Pflügner. Sagt er aber nicht. Ihm liegt nämlich was an Victoria. Schließlich geht eine Millionenerbin und 25prozentige Radiobesitzertochter nicht alle Tage bei ihm aus und ein. Noch dazu auf hübschen Beinen und gänzlich unverheiratet. Da muß man seinen Sozialneid bezähmen.
»Sie haben vollkommen recht, Frau Wohlzogen. Vollkommen. Das werde ich natürlich auch Kröger sagen. Ganz klar. Ganz klar. So was rentiert sich nur à la longue. Klar. Ich rufe auch aus einem anderen Grund an. Vergessen wir die Quoten. Es gibt da Wichtigeres.«
Was denn, fragt sich Victoria entnervt, Zoten statt Quoten?
»Ich habe aus meiner alten Redaktion einen brandheißen Tip bekommen. Von jemandem, der vielleicht gern zu uns rüberwechseln will. Kleiner Deal. Er hat mir gesteckt, daß der spannendste Sachbuchautor der letzten fünf Jahre nach Deutschland kommt. Und zwar direkt hierher. Der berühmte Unbekannte landet in unserer Stadt. Sein Name ist, Moment. . .« Papierrascheln am anderen Ende.
Victoria geht aufgeregt dazwischen: »Sie meinen doch nicht etwa Rensle? Elias Rensle?«
Pflügner ist ein bißchen enttäuscht über Victorias Treffsicherheit, aber immerhin, sie klingt beglückt, ein Punkt für ihn.
»Ja genau, dieser Rensle kommt. Hierher.«
»Woher?«
»Das ist unklar. Aber soviel wußte mein Informant: Rensle lebt zur Zeit auf einer der Kanarischen Inseln. Auf welcher wird ja wohl rauszufinden sein.«
»Gran Canaria«, sagt Victoria trocken und mit kaum unterdrückter Enttäuschung.
»Wie?«
»Gran Canaria. Verflucht, soweit war ich auch schon einmal. Deswegen bin ich doch Weihnachten hingeflogen, aber keiner konnte mir weiterhelfen. Rensle spielt auch da den Einsiedlerkrebs. Keiner der Inselpromis, nicht mal Justus Frantz, hat ihn je zu Gesicht bekommen.«
»Justus, Justus Frantz? Sie kennen den berühmten Justus Frantz? Also, diesen Frantz vom Schleswig-Holstein-Musikfestival, den Justus da?« fragt Pflügner ehrfürchtig und so aufgeregt, daß ihm die Grammatik aus der Reihe tanzt.
»Ja, den Justus da. Er hat eine Finca auf Gran Canaria, Bekannter meiner Mutter.«
»Ja, aber dann machen Sie doch mit dem mal ein Interview. Das würde doch schon reichen. Ich meine, also, der ist doch populär und Kultur, oder? Da hätten wir völlig nebenbei ein bißchen Quote. Nur wegen Kröger junior, versteht sich.«
»Ich bin Journalistin, ich interviewe grundsätzlich keine Bekannten meines Vaters oder meiner Mutter. Das ist kreuzblöde Vetternwirtschaft.«
Und in einem Sender arbeiten, der zum Viertel dem eigenen Herrn Papa gehört, was ist das? fragt sich Pflügner, sagt es aber nicht.
Victoria redet weiter: »Zurück zu Rensle. Wann kommt er?«
»Heute oder morgen, ganz genau wußte mein Informant das nicht.«
Victoria klappt ihr Notebook auf, klickt auf Internetverbindung, ruft die Flughafenseite auf.
»Scheiße«, flucht sie herzhaft.
»Wie?« So ein Wort klingt aus Victorias Mund exotisch wie Kisuaheli.
»Heute sind schon zwei Flieger aus Gran Canaria gelandet. Einer kommt noch um sechzehn Uhr, der letzte gegen zwanzig Uhr dreißig. Hören Sie, sagen Sie Ihrer Sekretärin, sie soll mein Interview mit dem Tanzchef absagen. Senden Sie heute irgendeine Konserve . . .«
»Ja, aber was denn?«
»Wie wär’s mit einer Konzertaufnahme von dem Justus dem Frantz da? Der ist doch populär und Kultur.«
»Eh ja?«
»Ja, ein musikalischer Quotenkönig, fast so gut wie die Hitparade. Ich muß jetzt los, zum Flughafen.«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, wie dieser Rensle aussieht? Keiner kennt ihn. Es gibt nicht einmal ein Foto.«
»Ein Genie erkenne ich auf den ersten Blick, so wahr ich Victoria Wohlzogen heiße. Genie ist mir schließlich nicht fremd. Denken Sie an meinen Vater.«
Pflügner hängt seufzend ein. Papa Wohlzogen, verdammt, darin genau liegt das Problem mit dieser Kulturprinzessin, der Name macht sie hochnäsig und praktisch unkontrollierbar, aber auch so reizvoll.