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»Meine Damen und Herren, wir beginnen jetzt mit unserem Landeanflug. Bitte klappen Sie die Tischchen vor sich wieder nach oben, und richten Sie die Sitzlehnen senkrecht auf. Wenn das Nichtraucherzeichen aufleuchtet, stellen Sie bitte das Rauchen ein.«

Als das Fahrwerk ausgefahren wird, weckt Sanchez seinen Freund mit einem Rippenstoß und Vorwürfen. »Du hast die ganze Zeit geschlafen, und jetzte bin ich eine ganz grausame Trauerknödel.«

Markus Elsner streckt sich, gähnt, wirft einen flüchtigen Blick aus dem Flugzeugfenster. Die Maschine sinkt hinab in einen deutschen Frühlingsabend. Die Straßen gleichen leuchtenden Schlangen, als winzige Glitzerpunkte schnüren Autos darauf entlang. Nachtblau ist die Luft. Ganz hübscher Himmel ausnahmsweise, die Temperatur ist ungewöhnlich mild, zwanzig Grad hat Kapitän Schuhmacher versprochen. Ein prachtvoller Frühjahrsauftakt. Trotzdem ist Elsner Gran Canaria lieber.

»Was soll ich machen heute abend, allein, ohne dich?« fragt ein zerknirschter Sanchez.

»Allein? Stefanie wird bei dir sein.«

»Und Victoria. Ich schwöre dir! Sie läßt ihr kostbare Freundin keine Sekunde allein mit die Schwimmpoolputzer.«

»Dann kannst du ja schon mal Stefanies Badezimmer fliesen.«

»Du bist herzelos.«

Ein deutlicher Ruck. Sitze und Gepäckklappen vibrieren. Die Maschine ist gelandet, saust mit jaulenden Turbinen über die Piste, wird vom Rückschub abgefangen. Wie immer klicken die ersten Sicherheitsgurte, während der Purser noch näselnd darum bittet, angeschnallt sitzenzubleiben, bis das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat.

Kopfschüttelnd betrachtet Elsner die Strelizien-Ge-binde, die die heimkehrenden Touristen aus den Gepäckfächern zerren. Ein typisches Kanaren-Mitbringsel, dabei stammt die orangefarbene Papageiblume überhaupt nicht von dort. Eine Schande, wie wenige dieser Urlauber sich für das echte Gran Canaria interessieren.

In Gedanken mischt sich die Stimme seines Freundes in seine Gedanken: »Du biste eine Snob. Du siehst die Menschen nur als Schädlinge.«

Elsner zuckt die Achseln. Ja, er ist ein Snob. Hauptsache, die Menschen lassen ihn und die Natur weitgehend in Ruhe. Sanchez drängt auf den Gang, hievt Elsners Rucksack und dessen Notebook nach unten, reicht beides an Markus weiter.

»Da hast du, ich bin nämlich deine Freund und Helfer, obwohl du bist eine Verräter.« Sie reihen sich in die Schlange ein, die sich gebildet hat. Ungeduldiges Tütenknistern, hektische Taschensuche, alles wartet darauf, daß der Terminalfinger eingeklinkt und der Ausstieg geöffnet wird. Babys holen versäumte Kreischanfälle nach.

»Nun mach mal ’nen Punkt, Sanchez, wenn hier jemand einen Grund hat, sauer zu sein, dann bin ich das. Hätte ich gewußt, daß du nur wegen dieser Stefanie mit nach Deutschland kommst, wäre ich gleich alleine geflogen. Ich habe wirklich keine Zeit für kindische Verwechslungskomödien, klar?«

»Das mußt gerade sagen du.«

»Ich bin nur wegen der Forschungsgelder da, wenn die Sache durch ist, verschwinde ich wieder, basta.«

Die Schlange setzt sich in Bewegung, von hinten wird gedrängelt. Endlich wieder deutschen Boden betreten − alle freuen sich darauf, alle außer Elsner. Sanchez bemerkt es. Kleinlaut versucht er einzulenken: »Bist du so ein saurer Topf wegen mir? Bitte, du mußt mitkommen zu Stefanie.«

»Ich bin nicht sauertöpfisch, aber den Abend mit Stefanie wirst du ohne mich überstehen müssen.«

Sanchez runzelt verzweifelt die Brauen. Elsner lächelt aufmunternd. Lächeln steht ihm gut, es bringt seine eisgrauen Augen zum Leuchten.

Victoria lächelt nicht. Sie steht neben ihrer Freundin Stefanie in der Ankunftshalle. Gemeinsam warten sie auf Sanchez und einen Freund, von dem Steffi nicht viel weiß und der Victoria noch weniger interessiert als Sanchez. Sie wartet nur aus einem Grund mit. Stefanie hat behauptet, daß Sanchez den geheimnisvollen Rensle kennt.

»Und du flunkerst auch wirklich nicht?« fragt Victoria noch einmal, während die elektronischen Schiebetüren auseinandergleiten und die ersten Urlaubsheimkehrer sichtbar werden. Stefanie hüpft aufgeregt hin und her, beachtet sie nicht.

»Sanchez kennt Rensle?« hakt Victoria streng nach.

»Aber ja, klar.«

»Und woher?«

»Was weiß ich. Er wird wohl seinen Pool reinigen, oder er hat ihm das Haus gebaut. Er ist nämlich nicht nur Swimmingpoolreiniger, sondern auch Bauarbeiter.«

»Na toll. Und er kann mich Rensle vorstellen?«

»Mm, ich glaube schon, obwohl du wirklich nicht nett zu Sanchez warst. Aber wenn ich ganz lieb bitte und du dich ausnahmsweise benimmst, besteht Hoffnung.«

Victoria verdreht die Augen, sagt nichts.

»Schon gut, er wird ihn dir vorstellen. Ich meine, wenn dieser Rensle überhaupt in der Maschine ist. Oh, da ist er, da ist Sanchez, am Gepäckband.« Sie krallt sich aufgeregt in Victorias Arm. »HUHU. Er hat mich noch nicht gesehen. HUHU!«

»Stefanie«, mahnt Victoria und schüttelt die Hand der Freundin ab. Die reckt aufgeregt den Hals, das Blut ist ihr in die Wangen gestiegen, ihre Augen glänzen, sie winkt ausladend mit beiden Händen, als müsse sie ein Flugzeug einweisen. Victoria erkennt, daß ihre Strafpredigt von vorhin nichts, aber auch gar nichts genutzt hat.

Dabei hat sie gepredigt, seit Stefanie ihr im Airport-Treff juchzend erzählt hat, sie sei gekommen, um Sanchez und dessen Freund abzuholen. Und wie Victoria gepredigt hat, ohne Erbarmen, voll christlicher Strenge:

»Ich habe dir deine Affäre mit dem Postboten verziehen, den Wachmann vom Asylantenschiff und sogar diesen Frittenkoch aus der Kantine, aber jetzt ist Schluß. Woher zum Teufel hast du bloß diesen fatalen Hang zum Personal? Denk doch nur, wie erbärmlich dieser Sancho Pansa ist, ein Putzmann, der kaum Deutsch spricht.«

»Er heißt Sanchez, ist gelernter Bauarbeiter und sehr süß. Er kommt auf Montage nach Deutschland und will mir nebenbei das Bad fliesen. So was hat noch nie ein Mann für mich gemacht. Und nur, weil er bei mir wohnen darf.«

»Nur? Er darf bei dir wohnen? Hast du den Verstand verloren? Erinnere dich doch mal an seinen öligen Blick, Typ schmachtendes Eichhörnchen. Dein Bad fliesen, da lache ich ja. Mit dem stimmt doch was nicht. Der ist nicht echt. Der lügt, ich kenne mich mit Männern aus. Vielleicht ist das ein ganz gefährlicher amoklaufender, perverser Sittenstrolch.«

Erstaunlicherweise hat die sanfte Stefanie an dieser Stelle gekontert, entschlossen ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt und in die Seiten gestemmt. »Ein amoklaufender Sittenstrolch, der vorher drei Monate lang dreimal die Woche mit seinem Opfer telefoniert?«

»Drei Monate, dreimal die Woche? Davon weiß ich ja gar nichts. Und du willst meine beste Freundin sein? Was ist denn los mit dir? So kenne ich dich überhaupt nicht, du bist doch sonst so ehrlich, daß es an Dummheit grenzt.«

»Vicky.«

»Nenn mich nicht so, ich hasse das, Verräterin.«

»Also gut, Victoria. Es ist Zeit für die ganze Wahrheit. Ich glaube, Sanchez ist derjenige welcher. Ich war diesmal ganz vorsichtig. Ich habe mich an deine Anweisungen gehalten und war sehr distanziert, kein Wort von Liebe. Aber er war trotzdem so süß. Du müßtest nur mal seinen Akzent hören, und wie er unsere Sprichwörter durcheinanderbringt.«

»Du findest Sprachfehler also sexy. Ich halte ihn schlichtweg für strunzdumm. Denk an den lispelnden Frittenkoch, der war auch für drei Wochen dein Favorit, bis er zum erstenmal Salzstreuer gesagt hat.«

»Victoria, ich bin mir diesmal ganz sicher. Es ist Liebe, und da kann man nichts gegen machen. Sogar du nicht.«

Victoria reißt die Brauen hoch, stöhnt übertrieben.

»Liebe? Noch vor zweihundert Jahren hat kein kultivierter Mensch von Welt dieses Wort in den Mund genommen.«

»Shakespeare war also ein Dorftrottel?«

Seufzend hat Victoria sich die Proteste der Gegenseite angehört.

»Stefanie, werde nicht poetisch. DER KERL, VON DEM WIR HIER REDEN, IST FLIESENLEGER. Wer liebt denn Fliesenleger? Außer Frauen, die keine Wahl haben und einen Versorger brauchen.«

Vergebliche Liebesmüh. Stefanie hat resolut – wenn auch übertönt von »Bing-Bongs« und »Sicherheitshinweisen« – weiter Argumente für die Liebe und für Fliesenleger vorgebracht.

»Ich bin eben nicht so gebildet, kultiviert und bildschön wie du. Ich bin eine mäßig begabte Wetteransagerin bei einer privaten Rundfunkstation, der kaum einer zuhört.«

»Schon vergessen? Ich arbeite beim gleichen Sender, und dir hören mehr Menschen zu als mir«, wirft Victoria ein. »Du hast eine abgeschlossene Schauspielausbildung von der Folkwangschule.«

»Die mir nichts gebracht hat, außer einer akzentfreien Aussprache und einer Menge Flausen bezüglich meiner Talente. Ein Fliesenleger ist genau das richtige für mich, nämlich bodenständig«, endet Stefanie beinahe trotzig, dabei liegt Trotz ihr nicht, ebensowenig wie Lügen und Streit. Vor allem, weil Vicky sie wirklich vor dem einen oder anderen Deppen bewahrt hat.

Trotzdem: Als die Landung des Condorfluges 137 aus Las Palmas per Lautsprecher verkündet worden ist, ist sie direkt losgerannt, Victoria hinterher. Unter einem Bildschirmgerät, auf dem die angekommenen Flüge aufgelistet sind, hat sie Stefanie eingeholt.

»Stefanie, ich habe nichts gegen Fliesenleger. Ich gestehe, daß ich mir hin und wieder auch gerne muskulöse Bauarbeiter anschaue, die mit nacktem Oberkörper auf Gerüsten herumklettern. Aber da sollen sie gefälligst bleiben. Ich bin für artgerechte Haltung.«

»Sag mal, was machst du eigentlich hier, außer mich zu beleidigen?« Stefanie startet entnervt, aber erfolgreich ein Ablenkungsmanöver. Victoria hat ihr von Rensle erzählt, und Stefanie hat eine letzte Notlüge erfunden. Die, daß Sanchez den Autor kennt. Sie hat sogar was gemurmelt von »gut befreundet«. Und deshalb warten sie nun beide – beinahe – einträchtig auf Sanchez.

Wieder gleiten die Schiebetüren auseinander. Stefanie jankert wie ein Welpe, der zu lange vom Muttertier getrennt war. Sie hat nur noch Augen für Sanchez.

Victorias erster Blick fällt auf den großen, wettergegerbten Mann neben ihm. Sein Haar ist dunkel, aber von ersten grauen Strähnen durchzogen, die Augen sind schmal geschnitten, die schwarzen Pupillen zeichnen sich deutlich von einer sehr hellen Iris ab, ähnlich wie in den Augen eines Huskies. Wie außergewöhnlich, schießt es Victoria für einen Sekundenbruchteil durch den Kopf, als er kurz zu ihr hinschaut. Er ist gar nicht wettergegerbt, stellt sie überrascht fest. Er hat nur ein paar Narben, ziemlich attraktive Narben. Pah, er ist ein arroganter Flegel.

Vielleicht liegt ihr erster Eindruck nur daran, daß seine Augen so stechend wirken. Aber nein, entscheidet Victoria auf den zweiten Blick: Er ist arrogant. Beleidigend arrogant.

Und das in dem Aufzug: verwaschene Combathosen, Leinenschuhe, die vor zehn Jahren zum erstenmal unmodern waren, und ein peinliches Bekenner-T-Shirt mit Greenpeacelogo. Victoria schüttelt sich innerlich. Der sieht aus wie einer der letzten Überlebenden der Ökobewegung, so ein Gutmensch, der immer alles richtiger als andere macht. Konnte sie nie leiden, hat wenig mit Kultur und viel mit schäbiger Kleidung zu tun.

Aber der Gipfel ist der verächtliche Blick, mit dem der Kerl ihre Freundin Stefanie bedenkt, die losstürzt, um Sanchez zu umarmen.

Victoria atmet tief ein, preßt die Lippen aufeinander. Der Mann, der das Recht hat, ihre Stefanie zu verachten – egal wie naiv die in Sachen Liebe ist –, muß noch geboren werden. Sie strafft die Schultern und tritt auf Sanchez, Stefanie und den Unbekannten zu.

»Ich bin Victoria Wohlzogen«, sagt sie in Sanchez’ Richtung, schaut aber Markus Elsner an. Der wendet ihr das Gesicht zu, taxiert sie in Sekundenschnelle, lächelt geringschätzig. Victorias Augen sprühen Funken. Starr fixiert sie seine Narben, öffnet den Mund, als wolle sie etwas dazu sagen, schüttelt beinahe unmerklich den Kopf, schweigt. Das wäre zu billig, außerdem sind diese Narben wirklich sexy, und das weiß dieser überhebliche Kerl bestimmt.

Markus Elsner entschließt sich, die feindselige Blondine nicht zu mögen. Daß eine Frau ihn seiner Narben wegen bemitleidet, mag angehen, daß diese Frau ihn dafür so offensichtlich abstoßend findet und sich kaum zurückhalten kann, ihm das ins Gesicht zu schleudern, ist unerträglich. Dabei legt sie – rein äußerlich – großen Wert auf zurückhaltende Eleganz. Aber wohl kaum auf spontane Herzlichkeit, dazu ist sie sich zu vornehm. Kalt erwidert er Victorias Blicke. Eine Kampfansage.

»Ach, es iste so schön zu sein bei gute Freunde«, meldet sich Sanchez zu Wort. Er klingt verlegen, denn nach einer heftigen Umarmung wissen Stefanie und er nicht recht weiter. Es war ihre erste, etwas ungelenke Umarmung.

Sanchez würde sie gerne wiederholen und die Haltungsnote verbessern, aber dabei stört ein großes Publikum. Da stören erst recht Freunde, die auf Anhieb eine gründliche Abneigung gegeneinander gefaßt haben. Das ist mehr als sichtbar.

»Ehem, ja«, sagt Stefanie ebenfalls verlegen, »das ist also meine beste Freundin. Victoria Wohlzogen. Aber ihr, also ich meine du, Sanchez, und Victoria, also ihr, ihr kennt euch ja eigentlich schon, sozusagen.«

Sie bricht ab, noch lächerlicher will sie sich nicht machen. Am liebsten würde sie Victoria einen ordentlichen Stoß in den Rücken geben, damit sie endlich die Hand in Sanchez’ Richtung ausstreckt. Aber die Freundin streicht mit ihrer Hand energisch ihr Kostüm glatt, so als verursache Elsners Blick unschöne Knitterfalten.

In diesem Moment klingelt Victorias Handy. Sie bittet nicht mal um Verzeihung, während sie es aus dem Seitenfach ihrer Notebooktasche zieht und auf Empfang drückt.

»Hallo?« meldet sie sich frostig und passend zu ihrem feindseligen Gesicht, wechselt aber mit dem nächsten Satz Stimmlage und Mimik so gründlich, daß sich ihr drei Augenpaare zuwenden.

Sanchez ist überrascht, Elsner schaut interessiert, Stefanie erkennt besorgt den flatternden Tonfall, in dem ihre Freundin ein »Hi, du bist es« in den Hörer haucht. »Wie schön, daß du mich endlich mal wieder anrufst. Das sollte kein Vorwurf sein, entschuldige.«

Victoria scheint alles um sich herum zu vergessen. Ganz weich werden ihre Züge, die Konturen ihrer Wut verschwimmen. Sie sieht mit einemmal sehr jung aus und sehr verletzlich, wie Elsner verblüfft feststellt.

Die harschen Linien neben ihren Mundwinkeln verwandeln sich in Lachgrübchen. Seltsame Person. Telefoniert sie mit ihrem Liebhaber? Muß ja ein toller Typ sein. Mister Superlover oder einer, der weiß, wie man den Nordpol abtaut. Nordpol? Wie kommt er darauf? Ganz einfach. Ihn fröstelt, als er bemerkt, wieviel Sehnsucht nach unbedingter Nähe in Victorias Stimme mitschwingt. Das kann nicht gutgehen, so was. Fast tut sie ihm leid.

Victoria schmilzt am Telefon vor sich hin. »Es ist wirklich so lieb, daß du anrufst. Ich dachte schon, du hättest es vergessen. Ich habe so darauf gewartet, daß du. . .«

Mein Gott, denkt Elsner, sie ertrinkt gleich. Das ist zuviel, viel zuviel Gefühl. Er muß an ein süßklebriges Violinsolo denken, so was paßt nicht zu dieser Frau, wie kann sie sich so gehenlassen. Da war ihm die Pose des eiskalten Engels von vorhin erheblich lieber.

Ein »Wie?« von Vicky reißt ihn aus seinen Gedanken. Das Wie bohrt sich spitz und starr wie ein Eiszapfen in die Perforation des Handy. Victorias Stimme klirrt. Die Wärme in ihrem Gesicht ist wie abgedreht. Sie redet nur noch mechanisch, fast tonlos weiter und wird wieder zu der, die sie vor dem Anruf war.

Eine energische, funktionstüchtige, aber abweisende Frau, deren Schutzschild die Selbstironie und deren Waffe beißender Zynismus ist. »Na ja, ich dachte du, rufst wegen meines Geburtstags an . . . Ja, gestern . . . Wie alt? So alt, daß ich’s selber vergessen möchte. Ich bin jetzt . . .«

Sie unterbricht sich abrupt, sieht mit gerunzelter Stirn ihre drei Zuhörer an. Sanchez und Stefanie schauen zu Boden, wenden sich ab. Elsner hingegen hebt fragend die rechte Augenbraue, mustert Victoria. Ihre Lachgrübchen verwandeln sich wieder in harsche Mundwinkel.

»Ich bin, eh, ein bißchen über dreißig geworden und. . . jaja, du hattest keine Zeit, verstehe schon. Mir läuft sie ja jetzt auch immer schneller davon . . . Eine Überraschung?«

Victoria wendet Elsner den Rücken zu, ein kindlicher Kiekser verirrt sich in ihre Kehle. »Eine Überraschung? Für mich! O toll. Du hast also doch an mich gedacht. Du bist toll. Was ist es denn?«

Elsner schüttelt den Kopf, was tut sie sich da nur an. Das muß doch weh tun. In ihrem Alter läuft man nicht mehr mit einem gläsernen Herzen durch die Gegend. So was ist zerbrechlich, und ein Glassplitter in der Brust eine verdammt schmerzhafte Angelegenheit.

Sie sagt plötzlich nichts mehr, aber ihr Rücken spricht Bände. Sanchez und Stefanie merken nichts, sie üben Umarmungen. Elsner sieht, wie Victoria einknickt, ihre Schultern fallen nach vorne, so als habe ihr jemand einen Fausthieb verpaßt oder als sei ihr Herz tatsächlich zersprungen. Am anderen Ende der Leitung scheint ein Experte in Sachen »Wie verletze ich Frauen gründlich« am Werk zu sein.

Victoria hält den Hörer so fest, als habe sie Angst umzufallen. Sie lauscht, zwei, drei Minuten.

Mit einer Stimme, mit der man die Zeit ansagen könnte, antwortet sie endlich: »Gratuliere. Jaja, darüber müssen wir dann mal reden. Natürlich brauchst du dafür dein ganzes Geld . . . Ich bin doch erwachsen . . . Darauf habe ich nie spekuliert, du weißt, ich liebe . . . okay, du mußt weiter, deine Arbeit, aber . . .« Kurze Pause.

»Vater, bist du noch dran?«

Nicht mehr dran, das sieht man an ihrem Rücken. Ziemlich verzweifelter Rücken. Die ganze Victoria ist jetzt aus Glas.

Wäre sie ein Kind, Elsner würde sie bei den Schultern fassen, zu sich hindrehen und in die Arme nehmen. Sehr vorsichtig, versteht sich. Aber Victoria ist kein Kind, sondern eine junge Frau, die ihn vor wenigen Minuten mit ihren Blicken zur Hölle jagen wollte.

Wie schmal sie jetzt ist, vorhin und von vorne sah sie ganz anders aus, mit den gestrafften Schultern und dem angriffslustigen Kinn.

Elsner steht ein wenig hilflos da. Es geschieht nicht oft, daß Menschen in der Öffentlichkeit so plötzlich und nachhaltig ihr Innenleben offenbaren. Er räuspert sich.

»Schlechte Nachrichten?« fragt er und ärgert sich über den heiklen Klang seiner Stimme, wirkt wie peinlich berührt, dabei ist ihm nichts peinlich. Im Gegenteil. Aber so was kann er eben nicht, schon gar nicht bei Frauen, die gegen Tränen ankämpfen.

Victoria zuckt kurz zusammen, sammelt sich und dreht sich zu ihm um. Sie schafft es nicht, ihr Gesicht in eine unbewegte Maske zu verwandeln. Zorn und Traurigkeit kämpfen noch um die Oberhand. Als sie Elsners fragende Miene sieht, siegt die Wut.

»Das war ein Privatgespräch, Sie Torfkopf. Ich nehme an, Sie sind der Freund von unserem Sancho Pansa. Der belauscht auch gern Frauengespräche am Pool meiner Mutter. Nettes Paar, Sie zwei.«

Elsner zuckt zurück, als habe sie ihn geohrfeigt. Unfaßbar, diese Wohlzogen. Von wegen Kind. Von wegen zerbrechlich. Die ist so zerbrechlich wie ein Panzer. Er richtet sich leicht auf.‹ Es sieht aus, als lehne er sich bequem in sich selbst zurück.

Aha, selbstverliebte Gorillapose, denkt Victoria.

Der Gorilla spricht mit warnendem Unterton: »Falls Sie mit Sancho Pansa Sanchez meinen, dann haben Sie recht. Ich bin sein Freund und heiße nicht Don Quijote.«

Oho, sie hat einen Gorilla beleidigt. Victoria sieht, wie sich das Greenpeace-T-Shirt über seiner Brust spannt. Noch ein Bauarbeiter oder Fliesenleger also. Bestenfalls. Vielleicht ist es auch einer von diesen deutschen Aussteigerlümmeln, die auf den Kanaren abhängen.

Ja, das haut hin, und seinen Freund Sancho Pansa hält dieser Gorilla für einen Eingeborenen mit großem Herzen, dessen Gastfreundschaft man schamlos ausnutzen kann. Pfui. Sie guckt angewidert.

Elsner setzt im Gegenzug eine betont höfliche Miene auf. »Wie nett, daß Sie sich hierher bemüht haben, um Sanchez abzuholen. Anscheinend hat es Sie viel Überwindung gekostet. Mein Name ist übrigens Elsner. Markus Elsner«, sagt ihr Gegenüber mit spöttischem Unterton.

»Wegen Ihnen bin ich bestimmt nicht hier«, antwortet Victoria knapp. Sie erinnert sich an ihren Auftrag und zupft Stefanie am Ärmel. Sie muß ziemlich heftig zupfen, denn der Rest von Stefanie ist in festen Händen, in Sanchez’ Händen.

»Stefanie!« Victoria zupft nicht mehr, jetzt reißt sie. Ihre Freundin gibt nach, löst sich von Sanchez.

»Könntest du dein kanarisches Souvenir endlich mal wegen Rensle fragen, bevor der letzte Passagier durch den Zoll ist?« zischt Victoria. Stefanie beißt sich auf die Lippen.

»Rensle?« mischt Sanchez sich erstaunt und erfreut ein. Das »Souvenir« hat er gnädig überhört oder nicht mitbekommen. »Sie meinen Elias Rensle?«

Stefanie reißt erstaunt die Augen auf, weil ihre Notlüge der Wahrheit entspricht. Victoria nickt noch erstaunter. Dieser völlig unbedeutende Fliesenleger kennt tatsächlich den berühmten Autor. Nicht zu fassen. Sie bemüht sich um ein Lächeln, streckt die Hand aus. »Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt. Sie erinnern sich an mich? Wir haben uns mal getroffen. Am Pool meiner Mutter, Weihnachten. Wissen Sie noch?«

Sanchez breitet die Arme aus. »Als ob ich könnte vergessen! Keine Mann könnte vergessen soviel Dreck – in die Pool natürlich – und Sie, das ist nackte Tatsache.« Victoria runzelt die Stirn.

»Machen Sie sich nichts daraus, er bringt gern deutsche Redewendungen durcheinander«, bemerkt Markus Elsner und wirft dem Freund einen warnenden, fast drohenden Blick zu.

»Sie wollen also, eh, kennenlernen Rensle?« fragt Sanchez.

»Ja, so schnell es geht. War er in Ihrem Flieger?«

»Hast du ihn gesehen, hombre?« Fragend wendet Sanchez sich an Elsner.

»Nein«, sagt der fast barsch, dreht sich weg und schiebt den Gepäcktrolley Richtung Ausgang. Sanchez und Stefanie schließen sich ihm an. Victoria wirft einen letzten Blick auf die Schiebetür. Die bleibt geschlossen, alle von Bord. Heute kommt kein Flieger mehr aus Gran Canaria. Zögernd folgt Victoria den anderen. Hoffentlich hat sie Rensle nicht übersehen.

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