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II.

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Eine halbe Stunde, nachdem Hanna das Redaktionsgebäude verlassen, hielt ihr Wagen vor einem grossen, weissen Gebäudekomplex draussen in einer Villenvorstadt. Dieses Haus schien den ganzen Zauber des Frühlings hier gleichsam eingefangen zu haben. Eine grüne Birke beugte sich über die Eingangspforte. Auf dem Rasen blühte es gelb und lila von Krokus. Weiterhin nach dem Garten zu sah man Blumenbeete blau, weiss und rötlich aufleuchten, überall war Werden und Blühen.

Geheimrat Schrombeck, Besitzer des Parksanatoriums und der grossen Klinik, gab auf die gärtnerische Ausgestaltung seines Anstaltsparks mehr, als sparsame Kollegen seiner Fakultät verstanden. Aber Schrombeck kannte nicht nur die Körper seiner Patienten. Er kannte ebensogut ihre Seelen. Er wusste, wie gerade leidende Menschen von ihrem eigenen Elend abgelenkt und zur Schönheit der Natur hingeführt werden müssen, um wenigstens zeitweise zu vergessen. Er hatte überhaupt so seine eigene Art der Menschenbehandlung. Er beschränkte sich nicht auf die täglichen, offiziellen Chefvisiten, bei denen er, gefolgt von einem Schwarm von Assistenten und Schwestern, durch tadellos vorbereitete Räume zu tadellos zurechtgemachten Patienten ging. Er erschien zu den unerwartetsten Zeiten in den Klinikzimmern, im Laboratorium, in allen Räumen genau so, wie im Park der Anstalt. Er wusste genau, dass er auf diese Weise vieles zu sehen bekam, was ihm sonst vielleicht verborgen geblieben wäre. Ein witziger Patient hatte dem vergötterten Professor den Namen: „Harun Al Raschid“ gegeben. Schrombeck hatte herzlich darüber gelacht und bezeichnet sich selbst gelegentlich gleichfalls so. Auch heute mittag ging der Geheimrat, nachdem er mit der Visite durch war, noch einmal in den Park.

Hier und dort tauchte seine elastische, hohe Gestalt in dem weissen Arztkittel auf, einmal bei einem Liegestuhl stehenbleibend, um ein paar freundliche Worte mit einem Patienten zu sprechen, dann einer der Schwestern zunickend, die mit beladenem Tablett, Geräten oder Zeitungen durch den Park eilten. Und wo Schrombeck erschien, mit seinem scharfgeschnittenen, leicht angegrauten Gelehrtenkopf und den jugendlichen, hellen Augen, da ging es wie eine Welle von Mut und Gesundung durch den kranken Menschen.

„Na, also, Herr Schröder —“, er blieb einen Augenblick stehen, nickte einem älteren Manne zu, der mühsam an zwei Stöcken den Weg entlanghumpelte, „das geht ja schon wieder mit dem Laufen. Und wer hat mir noch vor acht Tagen erzählt, dass er überhaupt nicht mehr in die schöne Welt hinaus könnte? Sehen Sie, was man ernstlich will, das erreicht man auch!“

„Das hab’ ich mir auch gedacht, Herr Geheimrat!“ sagte eine energische Stimme hinter Schrombeck. „Der Arzt vom Dienst hat Stein und Bein geschworen, dass Sie schon längst über alle Berge wären. Aber ich hab’ geschworen, dass ich Sie noch erwischen müsste. Und ich hab’ Sie erwischt!“ Hanna Sturm stand vor dem erstaunten Schrombeck.

„Der Kollege vom Dienst ist ein Esel“, erklärte Schrombeck überzeugt, „aber verraten Sie’s ihm nicht, Stürmchen. Allmählich könnte er schon kapiert haben, dass Sie trotz unserer ewigen Kabbelei die einzige Frau sind, von der ich mich gern erwischen lasse!“

Unwillkürlich musste sie lachen.

„Was möchten Sie also von mir wissen?“

„Das Neueste, Herr Geheimrat, immer das Neueste. Also in diesem Falle Ihre neueste Behandlungsmethode der schmerz- und narbenlosen Transplantation.“

„Ach so, das wollen Sie? Ich glaubte schon, Sie wollten etwas über mein neues Drüsenpräparat wissen. Aber das kann ich sogar Ihrem Reporterspürsinn nicht ausliefern. Das ist nämlich das Neueste!“

„Und auch mir werden Sie es nicht sagen?“

„Nein, auch Ihnen nicht.“ In aller Liebenswürdigkeit lag etwas Bestimmtes. „Sie wissen, ich gehöre nicht zu den Medizinern, die von einigen erfolgreichen Versuchen auf ein endgültiges Resultat schliessen. Ich bin nicht eitel genug, um mich dauernd in der Presse wiederfinden zu wollen.“

„Oder zu eitel“, stellte Hanna Sturm fest.

„Ein guter Menschenkenner sind Sie. Muss man Ihnen lassen. Ihnen kann man nichts vormachen. Gnade dem Mann, der Ihnen einmal in die Hände fällt.“ Es sollte scherzhaft klingen, aber ein bitterer Unterton war deutlich herauszuhören.

Hanna Sturm schwieg. Eine plötzliche Stille lag zwischen den beiden Menschen. Gerade wollte Schrombeck etwas sagen, da wandte er sein Gesicht gespannt dem Laboratoriumseingang zu. Von dort aus kam ein Assistenzarzt sehr eilig über den grünen Rasen ihnen entgegen. Von weitem hob er schon die Hand. Nun hörte man auch, wie er „Herr Geheimrat, Herr Geheimrat!“ rief.

„Aha, da brennt’s schon wieder einmal“, seufzte Schrombeck. „Na sehen Sie, Stürmchen, mit meinem Privatkolleg Ihnen gegenüber ist’s schon wieder aus. Ja, was gibt’s denn, Kollege?“ fragte er, als Dr. Winkler heran war.

„Herr Geheimrat, eben ist eine Patientin eingeliefert worden, schwere Brandwunden nach einer Explosion. Man wird operieren müssen. Oberarzt Schmidts ist bereits fort.“

„Ich komme schon. Also auf Wiedersehen, Fräulein Sturm.“

„Kann ich nicht mit?“ fragte Hanna Sturm. „Vielleicht, dass da etwas für mich ist.“

„Immer wissensdurstig? Na also, kommen Sie mit! Vielleicht ist es wirklich etwas, was Sie interessieren könnte.“

Hanna Sturm ging neben den beiden dem Hauseingang zu. Der Assistent erläuterte schon den Fall. Der Polizeibericht, den man mit der Patientin zusammen erhalten hatte, lautete wie folgt:

„Ein junges Mädchen hat durch Reinigen von Handschuhen mit Benzin in der Nähe einer Flamme eine Explosion durch Benzingase hervorgerufen und dadurch schwere Verbrennungen im Gesicht, an den Händen und Oberarm davongetragen.“

Der Assistent gab die ungefähre Grösse der Verbrennungsfläche an.

„Sechs Zoll?“ fragte Schrombeck. „Da werden wir wohl ohne Transplantation schwer auskommen. Sehen Sie, Fräulein Sturm, da hätten Sie gleich den Fall in praxi. Wollen Sie Näheres hören? Sie sind ja eine halbe Kollegin — haben wohl Ihre medizinischen Studien noch nicht vergessen.“

„Gern“, sagte Hanna Sturm heiss. Wenn sie in die ärztliche Atmosphäre kam, war es ihr immer noch eine vertraute Luft. Sie hatte damals das Studium aufgegeben, weil die Journalistik sie unrettbar anzog. Sicher war sie da auch besser am Platze. Aber ihre alte Liebe zur Medizin lebte doch noch in ihr. Sie sah Schrombeck von der Seite an, sah sein angespanntes, klares Arztgesicht — die gesammelte Energie in den klaren Augen — so musste ein Arzt aussehen, zu dem man Vertrauen haben konnte.

„In welchem Zustande ist die Patientin?“ erkundigte sich Schrombeck.

„In denkbar schlechtestem Ernährungszustande, Herr Geheimrat, sieht aus, als ob sie seit Monaten kaum gegessen hätte. Selbstverständlich habe ich ihr sofort eine tüchtige Spritze gegeben, sie fühlt im Augenblick nichts.“

„Sechs Zoll Verbrennungsfläche“, dachte Hanna Sturm. Sie stellte sich das vor. Schon als Kind hatte sie vor nichts eine so rasende Furcht empfunden, wie vor Verbrennen.

Vielleicht hing das mit einem Bild aus einem Kinderbuch zusammen, auf dem sie ein brennendes Mädchen gesehen, vielleicht auch damit, dass sie selbst einmal mit Kleid und Händen an den Weihnachtsbaum geraten war. Es blieb ihre einzige Erinnerung aus ihrer frühesten Jugendzeit. Sie konnte damals zwei Jahre alt gewesen sein. Aber immer wieder tauchte bei dem Wort „Feuer“, bei dem Anblick eines Brandes, ja bei jeder Gedankenverbindung diese furchtbare Erinnerung in ihr auf — der wahnwitzige Schmerz, das helle Lohen, die Schreie der Eltern, bis alles in einem wimmernden Dunkel der Bewusstlosigkeit unterging.

Sie war sehr blass, als sie jetzt Geheimrat Schrombeck durch die Korridore folgte. Vor der Tür eines Krankenzimmers hielten die Ärzte an und Schrombeck meinte:

„Wenn Sie hier warten wollen, Fräulein Sturm? Ich kann Sie natürlich nicht mit hineinnehmen. Wenn es zur Transplantation kommen sollte, werde ich Ihnen Nachricht geben.“

Er nickte ihr kurz zu. Eilig ging er mit dem Assistenten in das Krankenzimmer: durch den Türspalt konnte Hanna Sturm gerade noch das Bild eines grünlich blassen, leblosen Gesichts in sich aufnehmen, das aus dicken Bandagen und dem Weiss der Bahre geisterhaft hervorschaute.

Woher kannte sie dies Gesicht? Sie musste es schon einmal gesehen haben. Aber wann?

Der grosse, langgestreckte Operationssaal lag nach dem Park zu. Zahlreiche hohe Fenster mit matten Glasscheiben liessen Helligkeit bis in den letzten Winkel fallen, unterstützt von starkkerzigen elektrischen Birnen und Scheinwerfern. Der ganze Raum blitzte und funkelte von Glas, Porzellan und Nickel. Alles strahlte in Weiss. Die Wände waren abwaschbar, die Operationsgeräte lagen zu Dutzenden hinter Glas oder wurden in den grossen Nickelkesseln, die man durch Elektrizität erhitzte, im kochenden Wasser steril gemacht. Schneeweiss gekleidete Assistenzärzte und Operationsschwestern waren in anhaltender Tätigkeit. Wattevorräte wurden sortiert, Verbandszeug herausgegeben, Instrumente vorbereitet. Alles arbeitete fieberhaft. Wenn der Chef selbst operierte, war sein Personal, das für ihn durchs Feuer ging, mit noch stärkerem Arbeitseifer bei der Sache als sonst, wo es sich schon keine Ruhe gönnte.

„Zunächst möchte ich die Patientin doch noch einmal sprechen, sobald sie wieder erwacht ist“, meinte der Geheimrat nachdenklich, als er wieder auf den Gang heraustrat und auf Hanna zuging. „Wenn sie nicht allzu schwach ist, können wir sie vielleicht mit ihrer eigenen Haut ausflicken. Das wäre natürlich das angenehmste. Wenn man es nicht riskieren kann, ja, dann muss man sehen, wer für das arme Wurm seine Haut zu Markte tragen will!“ schloss er mit dem Versuche, den Ernst der Situation abzubiegen. „Vielleicht hat die Kleine irgendwelche Menschen, die sich dafür opfern. Sonst ist sie entstellt auf Lebenszeit, wäre schade um das schöne junge Geschöpf.“

„Entstellt auf Lebenszeit?“ Es ging wieder wie ein Schauer durch Hanna Sturm.

„Missen Sie, wer das arme Ding ist, Geheimrat?“

„Journalistenneugier?“

Schrombeck war im Augenblick beinahe etwas ärgerlich auf seine Freundin Hanna Sturm. „Wollen Sie vielleicht ein stimmungsvolles Essay aus der Sache machen? Für ewig entstellt, oder so?“

Mit blitzenden Augen sah ihn die Journalistin an:

„Auch in meinem Beruf kann man Privatmensch sein, Herr Geheimrat, das scheinen Sie immer noch nicht begriffen zu haben.“

„Nein, Sie haben mir bisher dazu wirklich keine Veranlassung gegeben.“

„Ich dachte nur, ob man für das arme Mädel irgend etwas tun könnte?“

„Im Augenblick nichts, es sei denn, Sie hätten ein paar Quadratzentimeter eigene Haut übrig, — Ihre würde übrigens im Ton schön passen“, Schrombeck schaute sehr genau auf Hannas gepflegte, weisse Hände.

„Kollege, wie heisst doch die Patientin da drinnen?“ fragte er den jungen Assistenzarzt, der jetzt aus dem Zimmer der Verunglückten herauskam.

„Hagen, Herr Geheimrat.“

„Vorname?“ fragte Hanna atemlos, „vielleicht Marlene?“

Der Assistenzarzt sah Hanna Sturm erstaunt an. „Ich glaube ja, gnädiges Fräulein, kennen Sie sie denn?“

„Nein, nein“, Hanna rief es beinahe unhöflich, „mir war nur, als hätte ich den Namen schon einmal gehört. — Herr Geheimrat, ich darf mich heute noch einmal erkundigen, was aus der Patientin geworden ist? Wann denken Sie die Operation vorzunehmen?“

„Sobald als möglich; denn man darf bei einer Hautverpflanzung nicht zögern. Aber zwei Stunden dürften doch noch darüber hingehen. Erstens muss ich die Verunglückte untersuchen, zweitens muss ich, wenn irgend möglich, ihre Einwilligung resp. die ihrer Angehörigen haben und — last not least — den gütigen Spender. Nun auf Wiedersehen, ich habe noch allerhand zu tun.“

„Ich auch!“ war Hanna Sturms Antwort.

Schrombeck sah ihr noch einen Augenblick nach, wie sie da mit ihrem sportlich entschiedenen Schritt durch den sonnenhellen Korridor ging. Dem Gange nach hätte man sie für einen Jungen halten können. Auch im Wesen hatte sie dies knappe, selbstsichere, männliche. Typ der modernen Berufsfrau, stellte er bei sich fest, prachtvoller Kamerad vielleicht, wenn nicht die Selbständigkeit und der unerschütterliche Wille zur Selbstgeltung in der Ehe störend sein könnten für einen Mann mit ausgeprägtem Willen. Wäre sie nur ein wenig weiblicher, ein wenig schmiegsamer gewesen, diese prachtvolle Hanna Sturm. Aber für einen Mann wie er war so eine Frau wohl indiskutabel. Es würde Kampf und immer wieder Kampf geben. Schade — er fühlte, er war doch noch nicht ganz über diese Liebe hinweg. — Der junge Dr. Winkler sah seinen Chef von der Seite an — da hatte er ihn doch schon zum zweiten Male gefragt, ob man bei der Patientin aus 56 heute die Fäden ziehen, oder noch ein paar Tage warten sollte. Aber der Chef schien heute mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache zu sein.

Hanna Sturm fuhr inzwischen in rasendem Tempo vom Krankenhause in Zehlendorf über die Kronprinzenallee, Roseneck, der inneren Stadt zu. In einer eleganten Strasse des Westens hatte Justizrat Lerch seine Büroräume.

„Herr Justizrat ist jetzt stark beschäftigt!“ erklärte der junge Mann in der ersten Kanzlei auf Hannas Frage.

„Bitte, bringen Sie ihm meine Karte, vielleicht ist er dennoch zu sprechen.“

Der junge Kanzlist zuckte die Achseln und ging. Erstaunt kehrte er gleich darauf zurück; denn der Justizrat hatte nach einem kurzen Blick auf diese Karte entschieden:

„Ich lasse Fräulein Sturm bitten.“

„Wissen Sie, wer das ist?“ fragte der kleine Kanzlist den Registrator, der gerade mit einem Aktenbündel aus der Registratur kam, „Sturm heisst sie.“

„Mensch“, meinte der Registrator und schaute über seine Brillengläser Hanna Sturms Gestalt nach, „das ist doch die bekannte Journalistin, die hat doch vor einem Jahr in dem Schiebungsprozess Klapper und Genossen den Haupttäter entdeckt. Die Kriminaler sollen schön geschimpft haben, dass ihnen ein Frauenzimmer bei der Entdeckung zuvorgekommen ist. Ein fixer Kerl, die Sturm“, schloss er anerkennend und schoss mit seinem Aktenbündel weiter.

Justizrat Lerch erhob sich lebhaft. Er ging mit ausgestreckten Händen Hanna Sturm entgegen.

„Störe ich Sie sehr, Herr Justizrat?“

Hanna sah den Aktenberg neben seinem Schreibtisch und seine verarbeitete Miene.

„Solche Störung, liebes Fräulein Sturm, lasse ich mir gern gefallen. Wie geht es Ihnen? Worin kann ich Ihnen helfen? Oder sind Sie es wieder einmal, die mir helfen will?“ fragte er lächelnd in Anspielung auf die Sache „Klapper und Genossen“.

„Nein, Herr Justizrat. Diesmal habe ich etwas von Ihnen zu erbitten.“

„Und das wäre? Aber nehmen Sie doch Platz.

„Lieber Herr Justizrat, ich habe soeben etwas erlebt, was mich tief erschüttert hat.“

Sie erzählte kurz von der Einlieferung der Patientin ins Krankenhaus, von Geheimrat Schrombeck und den knappen Tatsachen, welche der Polizeibericht für das Krankenhaus mitgegeben.

„Denken Sie, es handelt sich um Marlene Hagen. Sie haben sie doch seinerzeit verteidigt, Herr Justizrat?“

„Du lieber Gott, das arme Mädel. Hat auch nichts wie Unglück. Dabei bin ich der festen Überzeugung, dass sie unschuldig gewesen ist.“

„Derselben Meinung war ich damals auch. Leider habe ich ja den Prozess nur aus den Zeitungen verfolgen können. Ich war ja damals, wie Sie wissen, auf meiner südamerikanischen Redaktionsreise. Sonst hätte ich mich in den Fall schon hineingekniet. Das steht fest.“

„An Ihnen ist auch ein Kriminalkommissar verlorengegangen, Fräulein Sturm.“

„Mein Gott, wie viele Berufe wollen Sie denn noch für mich reklamieren, Herr Justizrat? Schrombeck wirft mir immer noch etwas von meiner Fahnenflucht vor der Medizin vor. Aber nun zu der kleinen Hagen. Es muss da etwas geschehen. Sie scheint in jämmerlichen Verhältnissen zu sein. Schrombecks Untersuchung hat völlige Unterernährung ergeben. Doppelt schlimm bei ihrem Zustande jetzt.“

Lerch war ehrlich erschüttert. Selten war ihm ein Fall aus seiner Praxis so nahegegangen wie der Marlene Hagens.

„Aber warum sie sich nicht ein einziges Mal mehr an mich gewandt hat, ich hab’ ihr doch ausdrücklich gesagt, sowie sie in Not ist — scheint ein sehr stolzes Kerlchen zu sein.“

„Darum muss man eingreifen, auch ohne dass sie was dazu tut, Herr Justizrat. Und das möchte ich.“

„Es ist doch merkwürdig, Fräulein Sturm, wie die Dinge zusammenkommen. Wissen Sie, dass ich selbst der kleinen Hagen damals geraten habe, sich an Sie zu wenden? Ich habe ihr sogar Ihre Adresse in Rio gegeben. Sie sollte Ihnen schreiben. Denn Sie haben bisher immer noch einen Rat gewusst, besonders für so ein armes Menschenkind.“

„Der Brief ist nie angekommen.“

„Vermutlich nie geschrieben worden. Fräulein Hagen hatte eine geradezu panische Angst vor allem, was Zeitung und Zeitungsleute hiess. Sie witterte darin nur eine Zurschaustellung ihres schweren Schicksals.“

„Wenn ich an Marlene Hagens Stelle gewesen wäre, hätte ich vermutlich damals das gleiche Misstrauen gegen eine Journalistin gehabt.“

Hanna Sturm musste plötzlich an das Gespräch heute morgen mit Geheimrat Schrombeck denken. Etwas bitter war ihr aber doch zumute, warum traute man ihr nur Sensationsinteresse und kein rein menschliches zu?

„Also wollen wir dieser kleinen Hagen einmal beweisen, dass wir doch bessere Manschen sind als sie denkt“, meinte sie leicht lächelnd. „Ich kam, um Sie nach der Adresse der Armen zu fragen, vielleicht, dass sie aus Ihren Akten noch zu ermitteln ist. Dann würde ich mir den Weg über das Einwohnermeldeamt sparen.“

Lerch griff nach dem Telephonhörer und gab die Anfrage nach Marlenes Wohnung an seine Kanzlei durch. „Wenn sie noch dort ist“, meinte er zwischendurch zu Hanna Sturm, „ich habe sie damals in eine leidliche Pension zu einer Frau Reschke gebracht. Eben sagt man mir durch, dass bei uns keine Wohnungsänderung bekannt geworden sei. Wollen wir mal anrufen?“

„Lieber fahre ich selbst hin, Herr Justizrat. Bitte, wie lautet die Adresse? Lützowstrasse 24?“ Sie notierte eifrig. „Ehe wir Anschluss bekommen, bin ich auch schon da; ich habe nämlich den Wagen unten.“

„Und mit wieviel Strafmandaten? Gut, dass Sie den armen Anwälten durch Ihr rasendes Fahren auch mal was zu verdienen geben“, neckte Lerch, Hanna Sturm zur Tür begleitend. „Und wenn Sie etwas über die kleine Hagen erfahren haben, bitte, geben Sie mir Nachricht, ich beteilige mich auch an der Hilfsaktion, wenn es mir möglich ist.“

Herzen im Kampf

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