Читать книгу Herzen im Kampf - Liane Sanden - Страница 8
V.
ОглавлениеDieser Flug an der Seite Walter Jansens war wirklich ein geradezu überirdisches Erlebnis gewesen.
Marlene fand sich aus ihrer Träumerei wieder zur Gegenwart zurück. Mit Tränen in den Augen schaute sie dem Flugzeug nach, das sich jetzt höher und höher schraubte und nun in westlicher Richtung verschwand. Wenn Walter Jansen ahnen würde, wer hier unten seinem kühnen Fluge gefolgt war! Vielleicht wäre sie heute neben ihm gewesen als Kameradin, als die glückseligste Frau an seiner Seite. Sie hatte wohl gefühlt, warum er sie damals mit herausgenommen hatte, warum er sie beinahe leidenschaftlich gebeten, mit zu fliegen. Er wollte, auch sie sollte kennenlernen, was ihm das höchste Glücksgefühl im Leben bedeutete, und sie hatte mit ihm gefühlt aus vollem jubelndem Herzen.
Als sie gelandet waren, hatten sie sich nur angeschaut. Aber in ihren Augen hatte er wohl alles gelesen, was sie sich zu sagen gescheut. Denn er hatte ihre Hände ganz fest ergriffen und nur gesagt:
„Zufrieden mit mir, Fräulein Hagen?“
Dann waren sie zusammen heimgefahren in seinem kleinen Sportwagen. Es war ein wundervoller Vorsommertag gewesen. Ja, er war ähnlich gewesen diesem Tage heute. — Walter Jansen, der sonst auch im Autofahren einen Schnelligkeitswahnsinn hatte, wie er es selbst nannte, war damals fast im Schneckentempo gefahren. „Will Ihr Wagen nicht mehr?“ hatte Marlene gefragt. Aber sie war feuerrot geworden, als Walter Jansen geantwortet: „Der Wagen will schon, bloss ich will nicht schneller. Ich möchte nämlich die Zeit des Zusammenseins mit Ihnen mit List und Tücke ein wenig verlängern, Fräulein Hagen.“
Sie vermochte nichts zu sagen. Sie widersprach auch nicht, als er sie bat:
„Lassen Sie uns doch den schönen Tag draussen zu Ende verbringen, Fräulein Hagen. Jetzt nach dem herrlichen Erlebnis des Fliegens an diesem schönen Sommerabend schon hinein in die stickige Stadt? Brrr — es schüttelt mich richtig. Wissen Sie was, wir fahren noch irgendwo hinaus und essen zusammen Abendbrot.“
Zögernd hatte sie gesagt:
„Ja, aber ich weiss doch nicht recht, mein Vormund ist krank. Ich weiss nicht, ob ich ihn allein lassen kann. Wüsste ich, dass er gut schläft, dann würde ich es vielleicht machen. Ich bin schon lange nicht mehr so richtig an die frische Luft gekommen.“ Ach, noch in der Erinnerung fühlte sie den guten warmen Blick Jansens, mit dem er sie angeschaut hatte. Dann hatte er gemeint: „Glauben Sie denn, Fräulein Hagen, ich habe nicht meine Absicht dabei gehabt, dass ich Sie heute auf den Flugplatz mitnahm? Verdammt schmal und blass sind Sie geworden in der letzten Zeit. Die paar Stunden draussen in der frischen Luft haben Wunder gewirkt. Sie schauen schon wieder ganz anders aus.“ Damit hielt er Marlene einen Taschenspiegel vor die Nase. Marlene, die sich im Spiegel sah, musste konstatieren, Walter Jansen hatte recht gehabt. Ihre Wangen zeigten ein zartes Rot, ihre Augen hatten wieder Glanz. Scherzend meinte sie, es wäre wirklich eine richtige kleine Erholungskur, die man heute mit ihr gemacht hätte. Walter Jansen hatte energisch erklärt, dass man eine gut begonnene Kur auf keinen Fall so schnell abbrechen dürfte. Dann hatte er Marlene veranlasst, mit der Pflegerin ihres Vormunds und Pflegevaters zu telephonieren. Marlene erfuhr, dass er gut und ruhig schliefe. Die Pflegerin selbst, eine freundliche ältere Diakonissin, hatte ihr zugeredet, den schönen Sommerabend draussen zu verbringen.
So hatte Marlene leichteren Herzens Walter Jansens Vorschlag annehmen können. Wie weh wurde ihr ums Herz, als sie jetzt an jenen Abend dachte. Sie hatten in einem kleinen Restaurant am Wasser gesessen. Ihr Platz war überdacht gewesen von einer grossen Kastanie, die ihre schattigen Zweige tief herabhängen liess. Die Zweige waren bestickt gewesen mit tausend Blütenkerzen; wenn der Wind ging, so glitt hin und wieder eine der weissrosa Blüten wie ein verträumter Falter durch die Luft auf ihren Tisch.
Walter Jansen hatte an diesem Abend mit Marlene noch kein Wort von Liebe gesprochen. Aber, wie er hier seine Zukunftspläne darlegte und immer wieder dazwischen sagte: „Ich will ja nicht nur für mich etwas erreichen aus Ehrgeiz, Fräulein Marlene, ich will auch, dass ein liebes Mädel einmal stolz auf mich sein kann und wissen soll: Bei dem Walter Jansen, da ist man gut aufgehoben. Glauben Sie, Fräulein Marlene, dass es einmal so etwas geben wird?“
Er hatte sie so bittend angeschaut mit seinen aufrichtigen, hellen Augen. Er hatte ihr seine Hand mit einer so ehrlichen Bewegung entgegengehalten, dass sie nicht anders gekonnt hatte, als einzuschlagen und zu sagen: „Das glaube ich schon, Herr Jansen ...“
Da hatte er sich über ihre Hand gebeugt und sie leise geküsst.
Sich wieder aufrichtend, hatte er mit einem tiefen Atemzug gesagt: „An dies Wort, Fräulein Hagen, will ich Sie erinnern, wenn ich glücklich von meinem Ostasienflug zurück bin. Ich soll dann erster Flugzeugkonstrukteur bei den Phönixwerken werden. Dann bin ich nicht mehr nur der Sohn meines Vaters, sondern ein Mann, der einer Frau Heim und Haus bieten kann. Bis dahin, Fräulein Marlene!“
„Bis dahin“, hatte sie leise erwidert.
Dann waren sie heimgefahren durch den duftenden Wald, durch die warme Nacht mit ihren vielen Sternen.
Leise ging der Sommerwind in Büschen und Bäumen, aus den kleinen Gärten der Bauernhäuser duftete es süss. Die Nacht war so zauberhaft, so erfüllt von Blühen und Werden. Sie war wie ein einziger Traum von Sehnsucht und Glück. Sehnsucht und Glück waren auch in Marlenes Herz gewesen.
Am nächsten Tage war Walter Jansen zu seinem grossen Ostasienfluge gestartet. Marlene hatte sich selbst gewundert, mit welcher Ruhe sie ihm vor seinem Vater und vielen anderen Menschen „Lebewohl“ sagen konnte. Aber die Zuversicht auf ihr gemeinsames Glück, das feste Vertrauen auf ihn liess keinen Abschiedsschmerz aufkommen. Er kam ja wieder, er kehrte ja zurück. Zurück zu ihr.
Und dann war alles anders gekommen! All dies Furchtbare. Sie war ganz allein gewesen. Sie hatte keinen Menschen neben sich, als Walter Jansens Vater sie mit Schimpf und Schande aus dem Hause jagte. Sie musste den Passionsweg allein gehen, der zu der Anklagebank und ins Gefängnis führte. Als sie aus dem Gefängnis herauskam, war der geliebte Vormund gestorben. Walter Jansen war drüben in Ostasien. Er schien keine Zeitungen gelesen zu haben. Erst nach vielen Wochen erreichte sie der erste Brief von ihm. Sein Vater musste ihm wohl Mitteilung von ihrer Verurteilung gemacht haben. Fragend, verzweifelnd waren seine Worte. Und immer wieder kehrte der eine Satz zurück:
„Erklären Sie es mir, Marlene. Erklären Sie es mir um Gottes willen. Ich möchte das alles nicht glauben. Und doch angesichts der unumstösslichen Tatsachen sage ich mir immer wieder, es muss doch Wahrheit sein. Marlene, warum haben Sie das getan? Wenn Sie in Not waren, obwohl ich das nicht begreife, wie das eintreten konnte, warum haben Sie sich nicht mir anvertraut? Warum musste es so weit kommen? Antworten Sie mir, Marlene. Wenn es nur ein Wort gibt, das Sie mir zur Entschuldigung Ihrer Handlungsweise anführen können, schreiben Sie es mir. Ich will es ja glauben, ich will es von Herzen glauben, denn ich kann mein Empfinden für Sie immer noch nicht aus meinem Herzen reissen. Wenn Sie mir nicht antworten, so komme ich zunächst nicht zurück. Ich habe ein glänzendes Angebot bei einer englischen Firma in Schanghai. Ich will nur wiederkommen, wenn ich Sie, von diesem furchtbaren Verdacht gereinigt, wiedersehen kann.“
Diesen Brief hatte Marlene nie vergessen. Wort für Wort war er in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Er war schlimmer als alles, was sie seit dieser furchtbaren Katastrophe im Hause des Generaldirektors Jansen erlebt hatte. Also auch Walter glaubte an ihre Schuld! Er war bereit, diese Schuld zu vergessen. Aber dennoch, er hielt sie für schuldig. Damit hatte er ein härteres Urteil über sie gefällt als der Urteilsspruch der Richter. Damit hatte er aber über seine und ihre Liebe entschieden. Nie konnte sie einem Mann angehören, der so von ihr denken konnte. Niemals hätte sie einem Manne zumuten können, ein Mädchen mit einem solchen Makel als Frau heimzuführen. Und dennoch, mochten alle andern sie für schuldig halten: der Mann, der sie wirklich liebte, musste an sie glauben. Trotz allem.
Marlenes Stolz hatte sich in der Leidenszeit der Untersuchungshaft nur verschärft. Sie sah nur noch von sich, nicht mehr von anderen Menschen aus. Sie war zu stolz, irgend etwas aufzuklären oder an Walter Jansens Liebe zu appellieren. Sie schwieg. Als er in der Folgezeit noch zwei-, dreimal schrieb, sandte sie seine Briefe ungeöffnet zurück.
Da war Walter Jansen verstummt. Und nun lag sie hier unten in der Klinik von Geheimrat Schrombeck und weinte ihrer verlorenen Liebe nach.
*
Bei Hanna Sturm lief schon längst wieder alles im alten Gleise. Redaktionsarbeiten, Interviews und Reportagen wechselten miteinander ab. Die lebhafte Frau war trotzdem schlechter Laune. „Kinder, das ewige Einerlei! Stellt mich doch einmal vor eine wirkliche Arbeit! Vor eine Aufgabe!“
Chefredakteur Christians war über Hanna Sturms Unrast etwas verwundert. Temperament hatte sie ja immer, das Stürmchen. Aber eine solche Arbeitswut wie jetzt war denn doch noch nicht an ihr zu konstatieren gewesen. Es war geradezu wie eine nervöse Unrast. Und alles, seitdem sie diese verrückte Kliniksache gemacht hatte.
„Aufgabe — Aufgabe“, brummte er in seiner poltrig humoristischen Art, „haben Sie nicht eben erst Lebensretter gespielt, Verehrteste? War das noch nicht Aufgabe genug? Was macht übrigens Ihr Schützling?“
„Ich habe mich acht Tage lang nicht um ihn gekümmert. Vorderhand ist die Kleine ja noch im Sanatorium Schrombecks gut aufgehoben. Ehe sie nicht arbeitsfähig ist, möchte ich nicht eingreifen. Am besten, sie geht erst noch einmal ein paar Tage in ihre alte Umgebung zurück. Dann wird man weitersehen. Also, Sie sehen, Chef, mit dieser Aufgabe ist vorderhand meine Zeit noch nicht ausgefüllt. Ich brenne auf viel Arbeit.“
„Sie sind das komischste Menschenkind, das mir je vor die Augen gekommen ist. Ich, wenn ich nicht müsste, den Deubel scherte ich mich drum, so zu arbeiten. Gönnen Sie sich denn niemals ein bisschen Musse?“
„Musse bringt nur auf sentimentale Gedanken.“ Es war Hanna Sturm so entfahren, ohne dass sie es wollte.
Christians sah seine beste Mitarbeiterin vergnügt zwinkernd an:
„Wissen Sie was, Stürmchen, wenn ich das einmal sehen würde, dass Sie sentimentale Gedanken haben, dafür würde ich gleich hundert Mark zahlen. Sie und sentimentale Gedanken? Eher stürzt die Welt ein.“
Hanna Sturm hatte das Gespräch schnell auf etwas anderes gelenkt. Wie konnte sie sich auch so verraten? Wenn Christians, wenn alle hier, mit denen sie zusammen arbeitete und strebte, ahnten, wie es jetzt manchmal in ihrem Innern aussah! Seit jener Stunde, in der Schrombeck an ihrem Bett gestanden, in der sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, seitdem konnte und konnte sie sich nicht wiederfinden. Immer wieder musste sie an die frühere Zeit denken und an das, was sie damals ausgeschlagen hatte. Darum brannte sie auf Arbeit. Sie wollte nicht sentimental werden. Sie wollte nicht zurückdenken.
*
Aber auch andere Leute wie Christians konnten Hanna Sturms Arbeitswut immer weniger begreifen. Unter diesen anderen war Falter, die kleine Sekretärin. Das schüchterne, durch seinen verkrüppelten Körper oft behinderte Wesen stand bei der Beurteilung Hannas vor einem Rätsel. Hin und wieder Gast in dem schönen Landhause Hannas, kam ihr immer wieder der Gedanke, warum wohl eine Frau, die ein gütiges Schicksal vor der Not des Lebens bewahrt hatte, arbeitete? Der ältlichen Stenotypistin, die froh war, bei der Redaktion der „Zeit“ so etwas wie eine Lebensstellung gefunden zu haben, wollte es nicht in den Sinn, dass eine pekuniär sichergestellte Persönlichkeit schlechtergestellten das Brot nahm ...
Als der Falter sich einmal nicht in der Gewalt hatte und diese Ideen in der Setzerei laut werden liess, kam sie aber an die unrichtige Adresse. Von drei Seiten zugleich schrie man sie an, und am lautesten der junge Setzer Polenz: „Na, nu halten Sie aber den Mund! Hatten Sie denn keine Ahnung davon, dass Gehalt und Honorare restlos unserer Unterstützungskasse zufliessen? Was sie sich monatlich auszahlen lässt, deckt gerade die Spesen, die sie verbraucht! Flattern Sie also nur zurück an Ihre Klappermaschine, und schämen Sie sich!“
Diese rauhe, aber herzliche Aufforderung befolgte Falterchen so intensiv, dass Hanna ein aufgelöstes, heulendes Etwas vorfand, als sie auf die Redaktion kam.
Heute endlich war Hanna Sturm einigermassen zufrieden. Sie sollte ein Interview mit Walter Jansen, dem berühmten Ostasienflieger, aufnehmen, der für kurze Zeit nach Deutschland zurückgekehrt war. Sie kannte ihn persönlich gut. So hatte er ihr als einzige die Informationen zugesagt, um die sich die Reporter aller Blätter leidenschaftlich bemühten. Als Hanna Sturm jetzt in ihrem kleinen roten Wagen hinausfuhr nach Tempelhof, wurde ihr endlich wieder einmal freier zumute. Durch Jansen würde man endlich einmal wieder etwas von der grossen Welt da draussen hören, nach der man sich sehnte und in die man schon lange nicht hinausgekommen war. Hanna Sturm war es jetzt, als müsste sie einmal alles Gewohnte hinter sich lassen, einmal fliehen von all dem, was hier allzu nahe und allzu bekannt war. Fliehen auch vor sich selbst.