Читать книгу Aber die Nacht ist noch jung - Liat Elkayam - Страница 10
SOGAR BEI GIRAFFEN
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Datum: 25.12.
Uhrzeit: –
Urin: –
Ausscheidungen: –
Gewicht: 1605 Gramm
Als sie aufsteht, ist das Zimmer leer. Schneider, der Vater von ist nicht da.
Schirani und ihr Gefolge, das Baby eingeschlossen, haben sich ebenfalls in Luft aufgelöst. Sie ruft ihn an – auf dem Display leuchtet ein Bild von ihm, wie er auf einem Pferd reitet –, aber er geht nicht ran. Unter den ungelesenen Nachrichten ist eine zwei Stunden alte SMS: »Ich bin auf der Frühchen-Station. Komm, wenn du wach bist. Später hole ich dir Kleider und eine Tasche.«
Eine Schwester kommt herein, schaut sie an, prüft die Temperatur und schlägt ihr vor, sich zu waschen. Sie bittet, vorher ihr Baby sehen zu dürfen, aber die Schwester lehnt ab. Schneider muss absolut sauber sein, wenn sie in die Neonatologie geht. »Es besteht die Gefahr einer Infektion, es ist zum Wohl des Neugeborenen.« Für den Fall, dass sie in der Dusche nicht stehen könne, hätten sie einen Plastikstuhl. Die Schwester stellt einen kackbraunen Plastikstuhl aus dem Gartencenter unter die Brause. »Und die Schnittwunde aussparen, da darf jetzt keine Seife und kein Wasser dran!«, warnt sie.
Der Boden in der Dusche klebt tatsächlich. Das Paar rosafarbene Badeschlappen von Hello Kitty, die ihr die Rothaarige vererbt hat, wartet unter dem Waschbecken. Zögernd schlüpft sie hinein. Aber die Badelatschen sind noch gar nichts im Vergleich zu dem Stuhl. Schneider denkt an all die Hintern, die darüber gerutscht sind, und obwohl sie sich unter dem Wasserstrahl kaum auf den Beinen halten kann, schafft sie es auch nicht, sich zu setzen. Stattdessen klammert sie sich mit einer Hand an ihren treuen Begleiter, den wackeligen Infusionsständer.
Sie geht wieder auf die Frühchen-Station, desinfiziert sich schrittweise die Hände: eine kleine Ewigkeit. Sie brennt darauf, ihr Kind zu sehen, aber es muss sein. In dem eidottergelben Krankenhaushemd betritt sie Zimmer 1.
Schneider, die Tochter von befindet sich nicht an ihrem Platz.
Die Essenz des Schreckens.
Sie schaut sich um. Einen Schritt nach rechts, zwei zurück. Vielleicht doch links. Drückt die Finger auf den Hals, dort, wo der Puls zuckt. Der Inkubator ist weg. Wo ist das Baby? Wo haben sie sie hingebracht? Ist sie vielleicht gestorben? Es stehen acht weitere Inkubatoren im Zimmer. Soll sie sie einen nach dem anderen durchgehen und nachschauen? Vielleicht ist sie auf der Intensivstation. Sie erkennt ihr Baby nur über das Namensschildchen am Inkubator, und es ist ihr unangenehm, die jetzt alle zu prüfen.
Vier Schwestern wirbeln durch das Zimmer. Sie steht da, fassungslos, wartet, dass eine von ihnen stehen bleibt. Und tatsächlich, eine nimmt sie wahr. Sie trägt ein Augenbrauenpiercing, einen dicken schwarzen Lidstrich ums Auge und das riesige Tattoo eines Stechrochens auf dem linken Arm.
»Wo ist mein Baby?«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Schneider.« Sie hat bereits gelernt, dass man sowohl Mutter als auch Tochter hier Schneider nennt. So beginnt Symbiose.
»Sie ist hier, kommen Sie.« Der Schwanz des Stechrochens zeigt wie ein Wegweiser auf die Inkubatoren in der Mitte des Zimmers. Und tatsächlich, da liegt Schneider, die Tochter von immer noch in einem fest verschlossenen Inkubator. Sie hält ein Kabel in der Hand, und am Bauch und im Bereich vom Herzen sind Elektroden angebracht. Da ist auch ein neues dünnes und grünes Kabel in der Nase.
»Was ist los mit ihr?«
Die Schwester blättert durch die Dokumentation in dem Ringbuchordner, der am Inkubator festgemacht ist. Schneider hat ihn erst jetzt entdeckt.
»Hat nicht gekackt«, sagt Schwester Stechrochen.
Das ist nicht gut. Das hört sie am Tonfall.
Sie erinnert sich, wie der Bruder ihres Mannes einmal erklärt hat, wenn frisch geborene Kälber kacken und essen, dann ist das ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Problematisch wird’s, wenn sie das nicht tun.
Schwester Stechrochen geht weiter. Niemand beachtet sie, obwohl sie es dringend nötig hätte. Zum ersten Mal legt sie eine Hand auf Schneider, die Tochter von. Eine in Nylon eingepackte Hand. Mama ist hier. Sie zieht sich unter der Berührung zusammen. Sie ist warm. Atmet. Das Baby lebt. Aber die Einsamkeit des Brutkastens ist unendlich.
Ob sie denkt, sie ist allein? Weiß sie es? Die Geburt, das In-die-Welt-geworfen-Werden, ist traumatisch: Autismus, Schizophrenie, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, all diese Möglichkeiten sind Schneider bewusst. Das Hormon, das ausgeschüttet wird, wenn man verliebt ist, wie heißt das noch gleich? Oxy-toxy? Sie erinnert sich an eine Zeile, die ihr einmal ins Auge gesprungen ist: Untersuchungen an jungen Frauen mit Kaiserschnittgeburt haben gezeigt, dass diese ihre Sprösslinge nicht mehr automatisch auf der linken Körperseite halten, damit sie die beruhigenden Herzschläge spüren. Bei Säugern aller Art haben Mütter, die gleich nach der Geburt von ihrem Nachwuchs getrennt wurden, sich später nicht gut darum gekümmert. Sogar bei Giraffen ist das so.
»Mutter Schneider?«
Es ist das erste Mal, dass sie jemand Mutter nennt. Also ist sie jetzt offenbar Mutter. Richtig, sie ist Mutter. Eine biologische Tatsache.
»Das Frühchen hat heute gespuckt. Viel. Wir haben eine Mahlzeit ausgelassen. Wie läuft es mit dem Abpumpen?«, fragt Schwester Smadar mit ihrer niedlichen, bereits vertrauten Stimme.
»Abpumpen?«
»Die Muttermilch? Hat man es Ihnen nicht erklärt? Aber die Tuben haben Sie?«
Tuben? Tuba? Tube? Soviel sie weiß: Hätte sie zwei bestimmte Tuben nicht, gäbe es hier jetzt kein Baby. Was will Schwester Smadar ihr sagen?
»Mutter Schneider, Sie müssen sich schleunigst Tuben kaufen. Unten im Erdgeschoss gibt es ein Babyparadies. Da bekommen Sie die. Ansonsten können Sie die Pumpen im Stillzimmer nicht verwenden.« Sie lächelt Schwester Smadar an, um zu zeigen, dass sie die wörtliche Bedeutung ihrer Aussage verstanden hat, auch wenn sie den Sinn noch immer nicht begreift. Sie muss sich Tuben im Babyparadies kaufen. Auf die To-do-Liste damit.
»Haben Sie denn wenigstens ein Reagenzglas abgegeben?«, fragt Schwester Smadar, aber sie antwortet nicht. Was soll sie auch sagen? Dass sie es schlicht vergessen hat? »Und wenn es nur ein paar Tröpfchen sind«, sagt Schwester Smadar, »bringen Sie so schnell wie möglich ein paar Tröpfchen her.«
Ein verantwortungsloses Dummerchen tritt aus Zimmer 1 auf den Korridor der Frühchen-Station und ruft sofort ihre Mutter an. Die sagt: »Wie schön, dass du angerufen hast. Ich bin gerade auf deiner Station angekommen. Und suche dich … Aber, Kicki, es ist Freitag. Zwei Uhr nachmittags. Das Babyparadies macht gleich zu … Okay, ich versuche, welche zu bekommen.« Sonst muss sie warten, bis Schabbat vorbei ist. Schalom.
•
Schneider kehrt geschlagen auf die Geburtshilfe 2 zurück. In Zimmer 12 sind alle Betten leer. An Attias Bett sind drei Luftballons festgebunden: »It’s A Boy«, mit drei Ausrufungszeichen, dann ein blaues, freundliches Pferdchen im Galopp und ein dritter Ballon, von dem unklar ist, was er darstellen soll. Ein Herz? Einen Seestern? Einen Geburtstagskuchen in der Form einer Lokomotive? Irgendeine gute Fee hat eine Tasche auf ihr Bett gestellt. Diese rosa-orange-gestreifte Tasche aus Handtuchstoff kennt sie. Es ist keine, die jeder sehen sollte, keine, die man gern mitnimmt. Normalerweise sammelt sie in dieser Tasche die Kleidung, die in die Trockenreinigung muss. Sie öffnet den Reißverschluss: Kleider. Getrocknete Pflaumen. Ein Frauenmagazin in einer knisternden Plastikfolie, eine Körpercreme mit Lavendelduft. Alles deutet darauf hin, dass ihre Mutter die für sie gepackt hat. Schneider stopft die Tasche in ihr Schränkchen, schließt den grünlichen Vorhang, zückt das Reagenzgläschen und drückt die rechte Brustwarze zusammen.
Nichts kommt.
Ihre Tochter sabbert. Sie hängt an einer Sonde. Behält die Nahrung nicht im Körper, obwohl sie ihr gewaltsam zugeführt wird. So benommen ist sie nicht, dass sie nicht verstünde, dass der Magen dieses Würmchens, das eigentlich noch zwei Monate an der Nabelschnur hätte hängen sollen, natürlich viel lieber Muttermilch nimmt.
Wieder und wieder. Autsch, autsch, autsch.
Bestimmt wird es leichter, wenn sie erst die Tuben hat und den Pumpapparat benutzen kann. Dann wird die Milch wie Flusswasser strömen.
Sie drückt, kneift, quetscht, aber nichts kommt. Nada. Nix. Sie muss es einfach schaffen. Jetzt. Die Schwester hat gesagt, jetzt ist die Milch wie Honig. Schneider ruft ihre Mutter an und tyrannisiert sie. »Was heißt nichts? Dann fahr zur Ajalon Mall. Hauptsache, du hast mir Creme mitgebracht. Was haben die noch? Vielleicht schließen sie erst um vier. Dann besorg mir heute noch eine Handpumpe aus der Apotheke. Ich bin mir sicher, die haben so was. Und wenn du schon unterwegs bist, dann kauf auch ein paar von diesen Netzschlüpfern, bei den normalen geht immer der Verband ab. Und Malzbier.«
Ihre Mutter kann sich alles merken.
Schirani kommt mit Mutter, Mann und Baby ins Zimmer. Schneider zieht den Vorhang fest zu, damit keiner durch einen Spalt hereinsehen kann. Schließt sich selbst hinter den Stoffwänden ein, tastet nach dem Reagenzglas, das sie auf der Kommode liegen gelassen hat, stellt die Lehne des Bettes hoch, streift die Bluse ab, entkorkt das Reagenzglas und drückt erneut die Brust. Drückt und drückt und drückt. Zwanzigmal, dreißigmal. Die Stelle, auf die sie drückt, wird schon ganz rot, aber es kommt nichts raus. Sie kneift wieder zu. Es gelingt ihr nicht, sich selbst Schmerz zuzufügen. Dafür hat sie immer schon andere Menschen gebraucht.
•
»Das hat der Rabbiner von dem Kabbalisten mitgebracht, Schirani.«
»Jalla, wird aber auch Zeit. Gleich ist Schabbat.«
»Ja, eine Königin lässt man nicht warten. Uns aber auch nicht, oder? Also los, wir werden sonst bis Schabbatausgang nicht fertig.«
»Gib mal den Faden, Izi, so. Hol ihn aus der Tüte. Dann sprichst du das Gebet ›Ana bechoach‹, ›Bitte, befreie mit der Kraft‹. So ist es gut.«
»Um den Segen zu geben, brauchst du nur jemanden, der dich liebt. Was, Schirani liebst du deinen Mann etwa nicht?«
»Lustig. Ich lach mich tot. Mama, was ziehst du nur für ein Gesicht?«
»Schirani, Liebes, der Rabbi hat gesagt, ein Mann ist besser.«
»Selbst einer wie Izik, der nicht an die Macht der Blicke glaubt?«
»Daran muss man nicht glauben, das ist ein Segen.«
»Ist der nicht gegen den bösen Blick?«
»Jalla. Izi, jetzt ist nicht die Zeit zum Philosophieren. Das ist doch nur Gerede. Nimm den roten Faden. Binde ihn um die linke Hand meines süßen Sohnes, lass einen Fingerbreit Luft, so. Sprich den ersten Vers und mach den ersten Knoten. Und nach jedem weiteren Vers, den du aufsagst, machst du den nächsten Knoten, bis zum vorletzten. Dann sprichst du flüsternd den letzten und machst den siebten Knoten.«
»Geht das noch ein bisschen komplizierter?«
»Steht alles hier auf dem Blatt. Mama hat es dir ausgedruckt. Jalla, mach schon, mein Schatz.«
»Aber der Faden ist zu lang.«
»Wenn du ihn festgewickelt hast, schneiden wir ihn ab. Aber erst der Segen.«
»Also gut, hier: Bitte, befreie. Mit der Kraft Deiner großen Rechten. Die Gefangene Jisrael.
Empfange das Gebet Deines Volkes, stärke uns, läutere uns, Ehrfurchtgebietender.
Bitte, Du, Starker, behüte die Verkünder Deiner Einzigkeit, wie den Augapfel.
Segne sie, läutere sie, erbarme Dich ihrer, lass Deine Gerechtigkeit immer über sie walten.
Mächtiger, Heiliger, leite Deine Gemeinde in großer Güte.
Einziger, Erhabener, wende Dich Deinem Volk zu, das Deiner Heiligkeit gedenkt.
Empfange unseren Hilferuf. Und höre unseren Schrei, Du, dem Verborgenes kund ist.«
»Nein, was du machst denn da, hier doch noch keinen Knoten! Und jetzt im Flüsterton, mein Schatz.«
»Gelobt sei der Name der Herrlichkeit Seines Reiches für immer und ewig.«
»Amen und amen, möge Gott uns helfen.«
»Amen.«
»Amen.«
»Hast du dich beruhigt, mein Schatz?«
»Deine Mutter hat sich beruhigt. Ah, Entschuldigung, Mirjam, war nicht so gemeint.«
»Schon in Ordnung, mein Herz.«
•
Schneider späht durch den Spalt im Vorhang. Das Baby liegt in Schiranis Armen, ihre Mutter und ihr Mann schauen auf die beiden hinunter. Sie haben ihm wirklich diesen roten Faden um das kleine Handgelenk gebunden. Als Kind hat sie die griechischen Götter wegen ihres körperlichen, sinnlichen, irgendwie lächerlichen Verlangens geliebt, aber was der jüdische Gott von seinem Volk verlangt, wirkt nicht weniger absurd und unsinnig. Jetzt schneiden Schirani und ihr Mann den Faden durch und legen ihn in ein kleines Buch. Könnte doch auch Schneider an die Kräfte eines roten Fadens glauben oder an Gott oder an sich selbst, aber in ihrem Herzen glimmt kein Fünkchen Glauben. Sie glaubt nicht an Ideen, nicht an Gegenstände (nur, dass sie sich anhäufen) und ganz gewiss nicht an Menschen. Schneider ist sich bewusst, dass ihre Lebensqualität sich drastisch steigern würde, wenn sie glauben könnte. Sie erkennt die Schönheit, die darin liegt, und auch die Logik, denn Glaube ist praktisch. Selbst ihr Vater, der sein Geld mit Atheismus verdient hat, hat sich überraschenderweise in den vergangenen Jahren in die kuschelige Decke der Religion gehüllt und wärmt sich nun daran, was ihn spürbar weicher macht. Glaube steigert das Wohlbefinden des Glaubenden, doch obwohl so viele Beweise, so viele Bücher und so viele Religionen dafür sprechen, wird an keiner Stelle erklärt, wie man es schafft, zum Glauben zu finden. Für die Sehnsucht nach dem Ewigen gibt es keine Anleitung.
Schneider atmet tief ein. Sie drückt wieder, jetzt nicht mehr so zaghaft, sondern genauso unerbittlich wie Schwester Rinat: »Bitte, befreie. Mit der Kraft!« Ein spitzer Schmerz durchfährt sie, und das erste Tröpfchen zeigt sich. Ein winziges nur, aber besser als nichts. In den nächsten zehn Minuten sammeln sich immer mehr Tropfen, ein Zentimeter Flüssigkeit etwa, im Reagenzglas. Tatsächlich, was sein muss, das geht auch; sie tut ihr Mögliches. Jetzt noch schnell Pipi machen und dann ab auf die Frühchen-Station.