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DIE SÄUGER-MASCHINE DAS WISSEN DES KÖRPERS

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Tag: 1

Datum: 25.12.

Zeitpunkt des Blasensprungs: 1:38 Uhr

Sie hatte großen Durst, wollte aber nicht um etwas zu trinken bitten, aus Angst, wieder auf die Toilette zu müssen.

Wie spät es wohl war? Vielleicht war es schon Zeit, aufzustehen. Sie öffnete die Augen.

In einem mit strahlend weißen Bettlaken bezogenen Eisenbett, nur eine Handbreit von ihr entfernt, lag eine rothaarige Frau auf der Seite und stopfte Sachen aus dem Nachtschränkchen in eine große Nylontasche von Hello Kitty. Der dicke Bauch der nackten Frau hing nach unten. Die Wangen waren gerötet. Der Vorhang ihres Bettes war zurückgezogen, und sie trug das Lächeln einer Gesalbten.

»Sie haben ganz schön geschnarcht. Es war so laut, dass ich dachte, Sie wachen selbst davon auf. Ihre erste Geburt?«

Sie nickte.

»Kaiserschnitt?«

Sie nickte.

»Ich hab schon zwei hinter mir und lebe noch. Ich bin Chaja. Im Badezimmer sind Badelatschen, sie sind ganz neu, können Sie mir glauben, da müssen Sie sich nicht ekeln.«

Flüsterstimmen weckten sie. Eine flackernde Neonbirne. Der Vorhang rundum zugezogen. Eine dunkelgrüne, mit rosa Blümchen übersäte Wand aus Stoff.

»Gott sei Dank. Dreimal auf Holz geklopft. Wir haben es nur dem Segen von Rabbiner Schimschoni zu verdanken, dass bei Schirani trotz Steißlage alles gut gegangen ist. Sein Name sei gepriesen. Ohne PDA. Umso besser.«

»Schirani, Liebes, trinkst du auch Dunkelbier? Und iss ein paar Mandeln, das ist gut fürs Stillen.«

»Ich trinke ja. Mama, es reicht jetzt.«

Um die eine Hand war ein dünnes, weißes Nylonband gebunden, an der anderen der Verschluss befestigt, der sie mit dem tropfenden Infusionsbeutel verband. Trotz der groben blauen Wolldecke fror sie an den Zehenspitzen. Sie wollte jemanden rufen, aber da war niemand, nach dem sie hätte rufen können. Sie war allein. Wollte nicht nach dem Unterleib tasten. Wollte nichts wissen. Wollte nur aufstehen. Das Gesicht des kleinen Mädchens sehen.

Dieses Mal weckte sie ihr trockener Mund. Die Zunge klebte am Gaumen. Und wieder diese Stimmen. Fremd. Kaum zu unterscheiden.

»Hier, nimm sie. Das ist Iris, Schirani.«

»Mein Spatz, wie geht’s? Sie haben mich in Stücke gerissen.«

»So hat es Gott gewollt.«

»Du hast keine Ahnung, was da draußen los war. Ich und Jossi standen mitten auf der Ajalon-Schnellstraße im Stau, es war fünf Uhr morgens, und ich hatte alle drei Minuten Wehen. Die Motorhaube fing an zu rauchen, Jossi stellte ein Warndreieck auf, ich wand mich vor Schmerzen auf dem Rücksitz. Ich war außer mir, und kein Taxi in Sicht, nichts. Leben in mir und die Straße tot. Schließlich hielt auf der anderen Seite ein Auto mit zwei jungen Burschen um die zwanzig, unterwegs nach Hause von irgendeiner Party, und die haben uns mitgenommen. Das ganze Auto stank nach Bier und Zigaretten. Wir sagten: ›Zum Ichilov.‹ Aber die haben gar nicht kapiert, wovon wir reden. ›Wo, was für ein Ichilov?‹«

Schirani war also die neue Wöchnerin im Zimmer. Sie wollte den Vorhang beiseiteschieben, doch als sie versuchte, sich aufzusetzen, wurde ihr schwindlig. Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf den Notknopf. Eine Frau in Weiß erschien und zog den Vorhang auf. Fünf Uhr dreißig morgens. »Jetzt sehen wir doch mal, ob Sie Wasser lassen können. Was ist Ihnen lieber, Tabletten oder eine Spritze gegen die Schmerzen? Sie können auch beides haben. Und das Trinken nicht vergessen, hier ist Wasser für Sie. Ziehen Sie bitte Krankenhaushemd und Unterhosen an und nehmen Sie einen frischen Verband mit.«

Die Schwester half ihr aus dem Bett und begleitete sie zur Toilette, viereinhalb Schritte. In der einen Hand hatte sie den Infusionsbeutel und die Utensilien, mit der anderen hielt sie sich das Krankenhaushemd zu – hinten offen, dass Schirani und Schiranis Mutter jetzt bloß nicht guckten.

Sie löste einen Knoten hinten und setzte sich.

Sie spürte nichts. Es war nicht so, dass sich nichts verändert hätte, es hatte sich extrem viel verändert. Der Bereich, in dem operiert worden war, vom Bauchnabel abwärts, war wie taub, sie fühlte dort nichts. Keinen Schmerz, kein leichtes Prickeln. Nicht mal einen Luftzug auf der Haut. Aber sie konnte Pipi machen. Ein Wunder. Das Gehirn sendete den Befehl dorthin, wo sie selbst nichts als Leere spürte. Und siehe da, es lief, deutlich hörbar. Das Wissen des Körpers.

Sie nahm den roten Verband ab und linste nach unten. Eine breite, mit kleinen Nadelstichen stramm zusammengehaltene Schnittwunde. Der Bauch sah aus wie ein Gesicht: Brüste – Augen, Bauchnabel – Nase und, seit Neuestem, darunter der Schnitt – ein breiter, rosafarbener Mund. Sie hatten offensichtlich einen ziemlich langen, geraden und gleichmäßigen Schnitt von rechts nach links gezogen und, als das nicht reichte, entlang einer etwas kleineren, diagonalen Linie noch nachgeschnitten. Darum lächelte sie der Mund von da unten jetzt leicht schief an.

Nach dem Waschen öffnete sie die Box mit der Einwegunterwäsche, die die Schwester ihr zugesteckt hatte: weiße Netzschlüpfer, geschnitten wie Hot Pants. In Schwarz wären sie fast sexy. Solche Schlüpfer hätten eigentlich in ihrer Krankenhaustasche sein sollen, denn sie hatten auf der Was-in-die-Krankenhaustasche-kommt-Liste gestanden. Natürlich war die Tasche jetzt nicht hier. Sie hatte sie nämlich noch gar nicht gepackt. Zwei Monate vor dem Termin. Damit hatte niemand gerechnet.

Sie kam aus der Toilette, wollte der Schwester von ihrem Erfolg erzählen, aber die war verschwunden.

Zu ihrer Überraschung fand sie im Regal neben dem Tisch ihre Schuhe, sie warteten dort geduldig zusammen mit den gebrauchten Strümpfen. Sie bückte sich, doch der Körper streikte, ein unerklärlicher Widerstand blockierte sie. Sie nahm die Zehen zur Hilfe, um einen Strumpf herauszufischen und in den Schuh zu gleiten. Trat aus dem kleinen Zimmer auf den Korridor der Abteilung, den Infusionsständer neben sich her rollend und dabei mit dem Schwanz aus Plastikschläuchen wedelnd.

Alle Zimmer mündeten in den zentralen Raum, der vor ihr lag: Linoleumboden, Formica-Stühle und ein riesiges, leeres Buffet auf einem Metalltisch, hinter dem sich das Stationszimmer befand. Sie ging zu der Station, wartete, lehnte sich gegen die Säule am Empfangstresen. Eine Schwester spähte hinter dem Vorhang hervor.

»Wer sind Sie?«

»Ich muss zu ihr, zu meinem Baby.«

»Aber wer sind Sie?«, wiederholte die Schwester leise, sprach langsam jede Silbe einzeln aus. »Wie lautet Ihr Familienname?«

»Schneider.«

Die Schwester schaute in den Computer, und ihr Gesicht färbte sich safrangelb. »Sie hatten erst vor wenigen Stunden einen Kaiserschnitt, Sie sollten überhaupt nicht herumlaufen.«

Ganz in ihrer Nähe stand ein Rollstuhl. Vielleicht schaffte sie es bis dahin, sie musste nur noch einmal durchatmen. Die Schwester kam aus der Station heraus, schob den Rollstuhl zu ihr, setzte sie hinein und fuhr sie durch schwere Türen hindurch in einen größeren, kühlen Korridor.

Im orangenen Licht des weitläufigen Korridors leuchtete grell ein Neonschild: »Geburtshilfe – Wartezimmer«. An den Wänden hingen riesige Bilder in Schwarz-Weiß. Die Schwester steuerte mit einer Hand den Rollstuhl, mit der anderen den Infusionsständer. Die Bilder folgten rasch aufeinander wie in einem Film. Das erste zeigte eine jemenitische Hochzeit. Ein kleiner Bräutigam kniete unter der Last der traditionellen Gewänder nieder. Die Augen der Braut waren mit blauem Lidschatten geschminkt, sie hatte kleine Silbersternchen im Haar, das Hennaornament eines Kreises auf der Handinnenfläche. Kaftane hüpften im Kreis. Die Bilder waren nicht nach einer erkennbaren Logik aufgehängt. Dann, am Ende der Reihe ein einziges, ungewöhnliches Bild: eine alte Eisenbahn in klassischer Zentralperspektive, die einen Tunnel verließ und in eine offene, europäisch anmutende Landschaft aus immergrünen Tannen und dornigen Büschen fuhr. Hinter der Eisenbahn, wo alles verschwand, stand ein Schild und wünschte Gute Fahrt.

Aber die Nacht ist noch jung

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