Читать книгу Aber die Nacht ist noch jung - Liat Elkayam - Страница 11
EINE KLEINE HIMMELBLAUE DECKE
ОглавлениеDatum: 25.12.
Gewicht: 1580 Gramm
Ausscheidungen: sehr zähes Mekonium nach Reizeinwirkung
Anmerkungen: zarter, empfindlicher, leicht geschwollener Bauch
Erst nachdem Schneider den langwierigen Vorgang des Desinfizierens am Eingang zur Station hinter sich gebracht hat (nicht ohne das Label auf dem blauen Desinfektionsmittel, dem Septol, durchzulesen: ordentlich Ethanol drin, Chloro-irgendwas, darf nicht in Kontakt mit den Augen, dem Gehirn oder der Gehirnhaut kommen. Wie, um Himmels willen, soll es denn dort hinkommen?), fällt ihr ein, dass sie das Reagenzgläschen mit den Tropfen goldener Milch in ihrem Zimmer stehen gelassen hat. Es steckt im Zahnputzbecher auf der Toilette. Was wird Schirani denken? Sie will nicht noch mal ins Zimmer zurück, dann wieder hierher und sich wieder einsprühen, als hätte sie Krätze. Aber da muss sie wohl durch. Sie beschließt, nur auf einen Sprung hineinzugehen und nachzusehen, ob mit den Babys alles in Ordnung ist. Es sollte kein Problem sein, Schwester Rinat, das Cabbage Patch Kid, hat doch gesagt, die Milch ist einige Stunden haltbar.
Sie reißt vor Erstaunen die Augen auf, als sie in das Zimmer tritt und sieht, dass ihr Baby jetzt in einer durchsichtigen, offenen Wiege liegt. Der Paravent ist weg, der Bolero aus Plastik auch, nur die vielen Kabel sind noch da. »Das ist immer noch ein Brutkasten«, flüstert ihr Schwester Stechrochen zu, die hinter ihr aufgetaucht ist. »Er ist zwar offen, aber er wärmt sie weiter.« Die Kleine liegt auf dem Bauch, die Augen sind geschlossen. Schneider legt einen Finger auf das kleine Händchen.
Haut auf Haut.
Das Baby regt sich leicht.
»Und gekackt hat sie auch schon«, berichtet Schwester Stechrochen, »wir haben nämlich eine Glycerin-Rakete gestartet.«
Eine Rakete im Popo?
»Außerdem hat sie Nahrung durch die Sonde aufgenommen. Wollen Sie sie in den Arm nehmen?«
Darf sie?
Sie hat noch nie ein Baby im Arm gehalten. Babyphobie. Jedes Mal, wenn eine ihrer Freundinnen ein Baby bekommen hat, ist sie auf Abstand gegangen. Wenn sie einmal laufen und sprechen können, gern, aber solange sie ein rosafarbenes, hilfloses Würmchen sind?
Nicht, dass sich viele Gelegenheiten geboten hätten für Mutter-Kind-Spiele. Kleine Geschwister hat sie nicht. Oder ältere, ersatzweise. Nur ein einziges Mal, vor drei Jahren, als die kleine Aviv geboren wurde, hat sie ein Baby angefasst und auch das nur, weil man sie dazu zwang. Mutter und Tante legten ihr auf der Mutter-Kind-Station entschlossen die eben geborene Aviv in den Arm. »Wird Zeit, dass du übst«, hieß es mahnend.
Aviv fühlte sich nicht wie ein menschliches Wesen an. Diese unendlich zarte, elastische Haut. Wie ein kleiner Wackelpeter. Sie wollte sich das Baby auf den Bauch legen, weil sie dachte, dass man das üblicherweise so tat, wusste aber nicht, wie, und als sie fragend aufschaute, fiel ihr Blick in den großen Spiegel an der Wand gegenüber. Sie sah genauso erschrocken aus wie die frischgebackene Mutter selbst. Sie gab ihr sofort das Baby zurück.
Etwas war aus ihr hervorgebrochen und an die Grenzen des Fleisches gestoßen. Das Gefühl, sehr stark zu sein, wie aus Eisen gegossen; die Angst, die kleine Aviv jederzeit verletzen zu können, ja, ihr mit Sicherheit Schmerzen zuzufügen. Sie wusste nicht, wie man diesen winzigen Körper am besten anpackte und wie stark sie zufassen durfte. Sie erschrak vor sich selbst. Und dann war da noch diese verfluchte Sache mit dem Kopf, die sie noch nie so recht verstanden hatte. Sie verstand sie theoretisch, aber nicht praktisch. Weil die Halsmuskeln noch nicht entwickelt waren, musste man unbedingt darauf achten, dass der Kopf nicht nach vorne oder hinten fällt – aber was ist mit der Seite?
Und jetzt sitzt sie gerade einmal zwei Minuten hier, und schon hat ihr eine fremde Frau ihre Tochter, ihr eigen Fleisch und Blut, in die Arme gelegt, eingewickelt in eine kleine himmelblaue Decke, einen Tallit, einen Gebetsmantel.
Alles ist scharf und präzis konturiert.
Die Lippenlinie ihrer Tochter ist wunderschön.