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DIE NAMENSWAHL

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Tag: 2

Datum: 26.12.

Gewicht: wird weniger, 1565 Gramm

Ausscheidungen: keine

Bemerkungen: 2,5 Millimeter Essensrest, Bericht an den Arzt: eine weitere Mahlzeit ausgelassen

Klarsichtige Momente sind ihrer Natur nach kurz. Aber egal, wie oft sie einen solchen Schlag ins Gesicht bekommt, der sie zurück in den Körper, in die konkrete Wirklichkeit katapultiert, sie herausholt aus diesem für sie so typischen Schwebezustand einen halben Meter über dem Fleisch, ist sie doch jedes Mal aufs Neue überrascht. Einen einzigen kurzen Moment nur sind sie und ihr Baby ganz eins und segeln in einer undurchdringbaren Blase dahin, herausgehoben aus Zeit und Ort. Eine Fuge im Akkord der Zeit-Raum-Liebe. Die Nervenenden leuchten unter der Haut wie die Neonlichter an der Decke, doch dann erlöschen sie plötzlich wieder. Vielleicht, weil sie anerkennt, dass dieser fantastische Zustand, mit der Welt eins zu sein, wirklich möglich ist. Aber bereits der Gedanke daran lässt die Blase platzen. Die Innigkeit und das Bewusstsein derselben lassen sich nicht vereinen. Unmöglich.

Vielleicht ist es auch die Schwester, die unvermutet wieder auftaucht und ihr das Baby wegnimmt, die das Kontinuum aufbricht, oder der Lärm. Es piept schon wieder. Irgendwas piept immer irgendwo. Wie soll man da wissen, was genau der Auslöser war. Die Schwester ruft nach einem Mann in Weiß, der sofort erscheint, ganz als sei er aus der Wand getreten. Kein Baby in der Wiege und keins im Arm. Eine weitere Schwester kommt hinzu.

»Was ist denn hier los?«, fragt sie, aber niemand antwortet.

Etwas wird in die Sonde gespritzt.

Drei weitere Brutkästen ringsum piepen ebenfalls. Schneider, der Vater von wechselt ein paar Worte mit der Schwester. Schwester Olga zieht Schneider, die Mutter von mit sich nach draußen. Sie hat nicht die Kraft, sich zu wehren, sie hat keine Kontrolle mehr: nicht über ihren Zustand, nicht über ihren Körper, nicht über die Zukunft. Ein Schrei steigt in ihr auf – Nein! Sie steht hinter der Tür, so nah noch am Brutkasten des Frühchens, ihrer Kleinen, dass sie durch das Glas hindurch ihr Gesicht sehen kann. Jetzt stößt sie den Schrei aus, schwach. Die Sonde wird schwarz. Noch ein Millimeter und noch einer: Sie füllt sich mit Blut. Der nächste Schrei ist spitz. Schneider, der Vater von und die Schwester haben es mitbekommen, sprechen beruhigend zu ihr. »Atmet«, sagt Schwester Olga, aber Schneider, die Mutter von hört jetzt nur noch das elektronische Summen und ihr pochendes Herz.

Sie weiß nicht, wie sie von der Frühchen-Station in ihr Zimmer gekommen ist. Das Geräusch im Ohr bleibt, Tinnitus. Eine Schwester spritzt ihr etwas in den Infusionsbeutel. Ihr Bauch klopft. Sie kotzt rote Herzen aus Zellophan. Ihr Mann flüstert ihr zu, alles werde gut. Das sagt er ihr immer, schon seit Jahren. Sie weiß inzwischen, dass sie ihm nicht glauben kann.

Einige Stunden später – es fühlt sich an, als wäre es tief in der Nacht – sitzt sie mit ihrem Mann und einem befreundeten Pärchen, das zu Besuch gekommen ist, in der leeren Cafeteria der Geburtshilfe-Abteilung 2. Der Zutritt zur Frühchen-Station ist zurzeit untersagt, es findet eine ärztliche Visite statt. Was so schwarz aussah in der Sonde, ist kein Blut gewesen, sondern eine harmlose Eiseninfusion. Sie war einfach angespannt. Ihr Mann versichert ihr immer wieder, alles werde gut, alles. Wenn etwas Schlimmes passiere, würde man sie rufen, es sind ja nur ein paar Meter. Aviad, ihr Chef und zugleich ein guter Freund noch aus Armeezeiten, weiß, womit er sie trösten kann. Auf dem Tisch vor ihnen liegen leere Ketchup-Tütchen, Leichen, die die Erwachsenen hinterlassen, daneben rot-gelb verschmierte Servietten. Ihr Bauch ist voll, der salzige Geschmack vom Fleisch brennt noch am Gaumen. Milka, Aviads Frau, streicht sich ihr langes, glänzendes Haar glatt. Sie ist immer bestens gepflegt. Normalerweise tauschen sie Tipps darüber aus, wo in der Stadt gerade Schlussverkauf ist, aber hier trägt Schneider nur den lila Trainingsanzug, weil es den auch in XXL gab, die einzige Größe, in die sie zurzeit reinpasst. Und außer ihr schert sich ohnehin keiner darum. Sie lachen, bestimmt hat jemand etwas Lustiges gesagt. Jonatan hält ihre Hand. Sein Blumenstrauß steht im Zimmer auf dem Tisch neben den Tuben für die Pumpe, die Milka ihr besorgt hat, und welkt langsam vor sich hin. Aviad hat ein Körbchen mit Schokolade, Seifen und technischen Spielereien von den Kollegen im Büro mitgebracht, darunter etwas, das aussieht wie ein kultiges rosafarbenes Tamagotchi. Die spinnen doch. Das hat ihr gerade noch gefehlt, noch jemand, den man füttern muss.

Beim nächsten Mal, sagt Milka, bekommt sie von ihr Koteletts mit Artischocken, die mag sie doch so gerne. Aviad verspricht, ihr alle Staffeln von »Battlestar Galactica« zu brennen, damit sie etwas zu gucken hat in der Elternzeit. Und obwohl sie gerade gar nichts von der Arbeit hören will, erzählt er ihr, dass der Venture-Capital-Fonds »Raphael und Töchter«, mit dem sie verhandelt hatte, sich endgültig entschieden hat, einen hohen Einsatz auf ihr Start-up zu setzen. Aviad ist begeistert, und sie freut sich immerhin, dass ihr in dieser Sache Kopfschmerzen erspart bleiben. Eine Investition dieser Größenordnung erfordert umfassende Veränderungen im Unternehmen. Absichtserklärungen müssen formuliert, Personal muss rekrutiert werden; das heißt: Sitzungen, Konzepte, endloses Gequatsche. Das ganze Tohuwabohu wird sich, bis sie wieder da ist, ohne sie ordnen müssen. Und wer weiß, wann das sein wird. Fehlende Gewissheit ist der gesichtslose Feind, gegen den sie immer schon ankämpft. Aviad wiederholt, dass alles gut werde, und Jonatan ergänzt: gut sei. Vielleicht wird all das vorübergehen, vielleicht wird sie durchkommen. Morgen wird sie zum Abpumpen gehen, und die Milch wird fließen. Aber jetzt muss sie erst mal aufs Klo.

»Bin müde«, entschuldigt sie sich, trippelt zum Zimmer und schläft dann fast auf dem Toilettensitz ein. Fuckidi Fuck. Das halb mit geronnener, gelber Milch gefüllte Reagenzglas steht noch immer im Zahnputzbecher auf dem Waschbeckenrand. Jetzt ist es bestimmt schon zu spät. Vermutlich müsste sie sofort rübergehen und mit Milkas Tuben versuchen, Milch abzupumpen, aber das wäre unhöflich. Sie schämt sich vor den Gästen, vielleicht hat sie aber auch einfach keine Lust oder ist schlicht verantwortungslos, ohne Rückgrat. Wäre sie nicht so benommen und beduselt von den ganzen Tabletten und Infusionen, würde es sich bestimmt noch viel furchtbarer anfühlen.

Als sie zurückkommt, fragt Milka: »Hat sie denn schon einen Namen?«

»Nein, ich habe noch nicht mal darüber nachgedacht«, antwortet Schneider.

»Nach was sieht sie denn aus?«, fragt Milka weiter.

»Nach wem sie kommt, so sagt man das, oder?«, wirft Aviad ein. »Fragst du jetzt unsere einzigen Zeugen aus?«

Sie zeigt Milka ein Foto, das einzige, das sie bisher gemacht hat.

»Sieht naseweis aus«, meint Milka wohlwollend, aber vor lauter Kabeln und Sonde sieht man eigentlich gar nichts.

»Nein, sie wird einmal leise und still«, sagt Jonatan.

»Wie kommst du darauf, Joni?«, fragt Milka.

»Das spüre ich«, sagt Schneider, der Vater von mit Nachdruck.

Sie geht im Kopf verschiedene Namen durch. Ein paar Ideen hatte sie schon, aber es war nichts dabei, was wirklich gepasst hätte. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie in einem Namensbuch schmökern, das Gesicht des Kindes vor sich sehen und wissen würde, welcher es sein müsste. Sie hat auf den richtigen Augenblick für die Namenswahl gewartet, aber noch spürt sie einen inneren Widerstand. Es ist momentan unmöglich, Schneider, der Tochter von einen Namen zu geben. Sie sieht es klar vor sich: Sobald sie sie mit einem endgültigen Namen belegt, wird etwas unfassbar Schreckliches geschehen. So weit ihre persönliche Variante bekannter Formen des Aberglaubens (die sie während der ganzen Schwangerschaft wieder und wieder beschäftigten, wenn sie mit Lihi aus der Marketing-Abteilung, Aja von der Grafik und zwei der jungen Kolleginnen aus dem Zimmer neben ihr beim Mittagessen saß. Dabei kam heraus, dass es verboten ist, schon vor der Geburt ein Bild für das Baby im Haus aufzuhängen. Oder die Kleider für das Baby zu früh zu waschen, denn die Babywäsche ist heilig. Oder sich Geschenke zu wünschen oder welche zu öffnen.). Und das, obwohl sie im Leben nie, nicht einmal, wenn ihr eine schwarze Katze über den Weg lief, ausspuckte. Die Kleine, ihr Baby kämpfte um ihr Leben. Was, wenn etwas schiefging und sie schon einen Namen trug? Na los, geben wir ihr einen Namen, dann können wir nach der Tragödie wenigstens über sie reden, in aller Ausführlichkeit, und sie dann fortgehen lassen von hier. Der Name markiert ja für die Mutter keine greifbare Grenze, er ist bloß eine Illusion. Der Name erschafft einen durch Worte klar umgrenzten Bereich und das Potenzial für den größten Schmerz.

So eine Entscheidung braucht Zeit, lasst ihr ein wenig Zeit. Um ihres Namens willen.

»Wir brauchen wirklich endlich einen Namen für sie«, sagt er, »gibt’s noch Nuggets?«

Aber die Nacht ist noch jung

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