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Der Mythos der „richtigen“ Erziehungsmethode

Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingungen ein mir unbekanntes Kind erziehen können …

Dieses „Ich-weiß-nicht“ ist in der Wissenschaft der Ur-Nebel, aus dem neue Gedanken auftauchen. Für einen Verstand, der nicht an wissenschaftliches Denken gewöhnt ist, bedeutet ein „Ich-weiß-nicht“ eine quälende Leere.

Ich will lehren, das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überraschungen erfüllte schöpferische „Ich-weißnicht“ der modernen Wissenschaft im Verhältnis zum Kinde zu verstehen und zu lieben.

Es geht mir darum, daß man begreift: Kein Buch und kein Arzt können das eigene wache Denken, die eigene sorgfältige Betrachtung ersetzen.

JANUSZ KORCZAK

Was das Leben mit Kindern anbelangt, so ist unsere heutige Zeit vor allem geprägt von Unsicherheit. Früher war alles einfacher. Kinder hatten sich anzupassen, zu gehorchen, zu funktionieren. Das Familienleben beruhte auf einer unumstößlichen Machtstruktur, an deren Spitze der Vater stand. Seine Autorität war unantastbar und wurde notfalls mit Gewalt durchgesetzt, ohne daß dies durch irgendwelche Gefühle von Reue oder Unangemessenheit in Frage gestellt worden wäre. „Wer sein Kind liebt, der schlägt es“, „Was Klein-Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ und ähnliche Sprüche waren Ausdruck dieser patriarchalischen Struktur, unter der nicht nur die Kinder, sondern auch die Frauen zu leiden hatten. Man könnte sagen, daß das Kind früher als die Schöpfung des Vaters angesehen wurde, und als Schöpfer konnte er über seine Schöpfung bestimmen. Er besaß das Recht, aus dem Kind zu machen, was er wollte, und ihm kam gar nicht in den Sinn, es als das zu respektieren, was es in seinem inneren Wesen wirklich war. Er gab die Richtung für sein Leben vor und konnte es entsprechend seinen Vorstellungen ausbilden und formen.

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen wir uns für die echten Enwicklungsbedürfnisse von Kindern zu interessieren. In den zwanziger Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg entstanden verschiedene hoffnungsvolle Ansätze, die dann allerdings, mit Beginn des Krieges, zum größten Teil im Keim erstickt wurden. Die 68er Jahre waren geprägt von einer starken Auflehnung gegen diese festgefügten Machtstrukturen. In der Folge kam es zu mehr Gleichberechtigung für die Frauen, und auch in bezug auf Kinder und ihre Bedürfnisse hat sich in dieser Hinsicht einiges geändert. Die Antiautoritäre Erziehung oder auch die Antipädagogik waren eine Art Gegenbewegung zu dieser alten Machtstruktur, aber in der Praxis konnten sich diese Bewegungen nicht recht behaupten.

Wenn wir heute in eine Buchhandlung gehen, so finden wir eine ungeheure Fülle von Büchern und Elternratgebern, die die unterschiedlichsten Methoden, Rezepte oder Ratschläge anbieten, wie wir Kinder erziehen sollten. Die Anzahl der feilgebotenen Ansätze ist fast schon so groß wie auf dem Gebiet der Ernähungslehren. Diese Vielfalt ist zweifellos die Folge unserer Unsicherheit – unserer Angst, den Zustand des „Ich-weiß-Nicht“, wie Janusz Korczak es nannte, auszuhalten und uns Kindern wirklich zuzuwenden. Darüber, wie die Aufgabe des Elternseins sinnvoll bewältigt werden kann, gehen die Meinungen weit auseinander, und das verstärkt noch die tiefe Unsicherheit vieler Eltern, wie sie mit der Situation umgehen sollen, in die sie mehr oder weniger freiwillig geraten sind. Diese Unsicherheit wird bei vielen noch weiter verstärkt von dem Bild der glückstrahlenden und kompetenten Eltern, wie sie uns die Werbung oder manche Erziehungsratgeber vorgaukeln. Tatsächlich ist die Geburt eines Kindes ein radikaler Einschnitt im Leben der Eltern – meistens vor allem in dem der Mütter. Gleichzeitig werden die Ängste und Schwierigkeiten mit dieser neuen Situation sehr häufig nicht geäußert. Alle scheinen es ja leicht zu schaffen, alle scheinen glücklich zu sein. Wer möchte schon zugeben, daß er oder sie der einzige Versager zu sein scheint.

Wenn wir uns dann, aus unserer Unsicherheit heraus, nach der einen oder anderen Methode richten, machen wir die Kinder jedoch zwangsläufig zu Objekten der Erziehung, statt mit ihnen in eine wahrhaft menschliche Beziehung einzutreten. Ich glaube, für uns Erwachsene ist die Vorstellung, unser Lebenspartner würde sich uns nach einer bestimmten Methode zuwenden, auch nicht gerade beglückend. Jegliche Methode stellt sich zwangsläufig zwischen uns und andere Menschen und verhindert so einen wirklich menschlichen Kontakt. Letztlich ist ein solches Vorgehen immer eine Form der Manipulation und mit einer gleichwürdigen, auf Liebe und Respekt basierenden Beziehung nicht vereinbar.

Die Basis für eine neue, richtungweisende Perspektive im Umgang mit Kindern liegt also vor allem in einer grundsätzlich neuen Sichtweise der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Es ist in den letzten Jahren stärker ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt, was vielen Müttern intuitiv schon immer klar war: Ein Kind ist ein fühlendes Wesen und vollwertiger Mensch; kein unbeschriebenes Blatt, das von uns erst entsprechend beschrieben werden muß, damit es zu einem richtigen Menschen wird. Wenn wir möchten, daß sich dieses einzigartige werdende Leben möglichst optimal entfaltet, müssen wir ihm mit Liebe und Achtsamkeit begegnen. Unsere Beziehung darf nicht durch unsere Macht und den Wunsch bestimmt sein, ein Kind nach unseren Vorstellungen formen zu wollen, sondern durch wirklichen Respekt und den Wunsch, die Entfaltung des Kindes zu unterstützen und ihr so wenig wie möglich im Wege zu stehen.

• Rebeca und Mauricio Wild nannten ihren Ansatz „Nichtdirektive Erziehung“. Das heißt, daß Erwachsene das Kind nicht von außen bestimmen, lenken oder motivieren, sondern versuchen, den inneren Zustand und die Interessen jedes einzelnen Kindes zu erspüren und ihm die Möglichkeit zu schaffen, sich seinen echten Entwicklungsbedürfnissen gemäß zu entfalten.

• Emmi Pikler betont die Kompetenz eines jeden Kindes – seine Fähigkeit, den für seine Entwicklung besten Weg selbst zu finden, wenn man ihm seine Zeit läßt und es entsprechend begleitet.

• Myla und Jon Kabat-Zinn nennen Werte wie Souveränität, das heißt Eigenständigkeit oder das Recht eines jeden Menschen, sich nach seinem eigenen inneren Gesetz zu entfalten und selbst über sein Leben zu bestimmen; oder Empathie, das meint die Fähigkeit, sich in Kinder einzufühlen, die Welt auch aus ihren Augen zu sehen.

• In der Gestalt-Arbeit spricht man von den Selbstregulierungskräften, die in jedem lebenden Organismus wohnen und die es zu respektieren und zu unterstützen gilt. Auch hier wird betont, daß sich jede lebendige Ganzheit nach ihrem eigenen inneren Gesetz und in ihrer eigenen Zeit entfaltet. Aus einem Weizenkorn wird kein Gänseblümchen und aus einem Schimpansen kein Mensch, egal wie lange wir versuchen würden, ihn zu unterrichten. Auch können Wachstumsprozesse nicht beschleunigt werden, ohne daß dies negative Folgen nach sich zieht, wie die Geschichte am Ende dieses Kapitels deutlich macht.

All diese Werte sind aber nicht einfach Bestandteile einer neuen Theorie, sondern wurden vielfach in der Praxis bestätigt – in Familien, in Säuglingsheimen und Kinderkrippen, in Kindergärten und Schulprojekten.

Immer mehr Menschen fühlen sich von dieser neuen Sichtweise angesprochen, aber ihre Verwirklichung im täglichen Leben ist alles andere als leicht. Schließlich ist eine solche Art von Beziehung für uns alle Neuland, und die Folgen unserer eigenen Erziehung hindern uns oft daran, etwas zu leben, was wir eigentlich als wertvoll und wichtig ansehen. Hinzu kommt der Streß, den die Organisation eines Haushalts und das Leben mit Kindern zuweilen mit sich bringen sowie eine gesellschaftliche Situation, die Qualitäten wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Einfühlsamkeit nicht gerade unterstützt.

Ein Bild, das die Herausforderungen des Elternseins treffend widerspiegelt, ist das Surfenlernen. Es ist oft anstrengend, wir verlieren immer wieder das Gleichgewicht und schlucken dann unter Umständen eine Menge Wasser. Manchmal ist die See rauh, und wir können uns kaum auf dem Brett halten – zu anderen Zeiten läuft alles wunderbar, wir gleiten sicher auf den Wellen dahin und genießen den inneren Reichtum, den ein erfülltes Leben uns schenken kann. Die See verändert sich ständig, wir wissen nie, was die nächste Welle von uns verlangt, und wenn unsere Wachheit und Präsenz nachlassen, finden wir uns schnell im Wasser wieder. Aber wenn wir uns der Herausforderung stellen, können wir lernen zu surfen. Wir können ein inneres Gleichgewicht finden, das uns in ruhigen und stürmischen Zeiten hilft, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren und die bestmögliche Lösung für unsere jeweilige Situation zu finden.

Das Bild des Surfens macht auch deutlich, daß es keinerlei Rezepte oder Gebrauchsanleitungen gibt, mit denen wir zum Erfolg kommen. Kinder können nicht auf gutes Funktionieren programmiert werden – höchstens mit psychischer oder physischer Gewaltanwendung. Sie sind keine Maschinen, sondern lebendige Wesen mit ganz konkreten Bedürfnissen. Wie alle lebendigen Organismen tragen sie ihr ganzes Potential in sich – sie sind in sich vollkommen –, und die Frage ist, wie dieses Potential zur Entfaltung kommen kann. Jedes Kind, jeder Mensch ist einzigartig und mit ganz spezifischen Eigenschaften und Talenten ausgestattet. Dieser ganz individuelle, wesensmäßige innere Reichtum möchte sich erfüllen, drängt dazu, sich in der Welt zu verwirklichen. In der Humanistischen Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von der „Selbstaktualisierungstendenz“. Und je mehr es einem Menschen möglich ist, seiner inneren Natur gemäß zu leben, desto erfüllter, zufriedener und auch kreativer und leistungsfähiger wird er sein.

Menschen wie Maria Montessori, Janusz Korczak oder Emmi Pikler haben dies gesehen und sich Kindern jeweils mit wirklichem Interesse zugewandt – und von ihnen gelernt. Sie sind nicht nach einem Rezept oder nach einer Methode vorgegangen, sondern haben ihr Herz für jedes einzelne Kind mit der Frage geöffnet, wie seine konkrete Lebenssituation aussieht und was seiner Entfaltung dienen könnte. Das heißt, sie haben versucht, mit Kindern in eine echte Beziehung zu treten. Kinder sind für sie nicht Objekte von Erziehungsmethoden, sondern vollwertige Menschen, die sie verstehen und die sie auf ihrem Weg ins Leben so gut wie möglich unterstützen und begleiten wollen. Wie bereits erwähnt, hat Maria Montessori betont, daß wir Kinder nur verstehen und angemessen begleiten können, wenn wir lernen, „mit den Augen der Liebe“ zu sehen. Sie hat häufig davor gewarnt, ihre Arbeit auf das von ihr entwickelte pädagogische Material zu reduzieren und immer wieder betont, daß die innere Arbeit der Erwachsenen an sich selbst eine unerläßliche Voraussetzung dafür ist, den Kindern auf angemessene Weise zu begegnen.

Alle Erziehungskonzepte sind im besten Fall Landkarten, die uns helfen können, uns immer wieder neu zu orientieren. So gut eine Landkarte auch sein mag – sie nützt uns nichts, wenn wir uns nicht auf den Weg machen und das Terrain selbst erkunden.

Nun ist es leider so, daß die Nachfolger solch großer Pädagogen häufig nicht selbst gelernt haben, wirklich zu sehen, sondern von der Strahlkraft der Landkarte ihrer Vorbilder geblendet wurden. So entstanden dann Erziehungsmethoden und Konzepte, die sich zwangsläufig zwischen uns und die Kinder schieben und verhindern, daß wir diese wirklich sehen und ihre Signale wahrnehmen und verstehen können. Wir sehen sie dann nicht mehr als Subjekt, zu dem wir in Beziehung treten, sondern als Objekt. Wie Janusz Korczak im eingangs dieses Kapitels abgedruckten Zitat betont, ist jedes Kind und jede Situation, in der wir uns befinden, anders, und keine Landkarte kann dieser sich ständig verändernden Wirklichkeit letztendlich gerecht werden – auch wenn sie uns unbestritten einen hilfreichen Orientierungsrahmen bieten kann.

Sehr treffend wird der Konflikt zwischen der Wirklichkeit und unseren Konzepten von einem schwedischen General zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges dargestellt. Es wird berichtet, daß er vor einem Feldzug in Feindesland, für das es nur sehr ungenaue Landkarten gab, eine Ansprache an seine Offiziere hielt. Seine Worte lauteten sinngemäß etwa folgendermaßen: „Meine Herren! Wenn Sie – mit Gottes Hilfe – in feindliches Gebiet vorgedrungen sind und feststellen, daß das Land, das Sie vorfinden, nicht mit Ihren Karten übereinstimmt, können Sie davon ausgehen, daß die Karte falsch ist und nicht das Land!“


Dieses Buch soll dazu ermutigen, die Landkarten auch wieder beiseite zu legen und sich auf den Weg in die Wirklichkeit des Landes selbst zu begeben – auch wenn wir uns dabei zunächst unsicher oder sogar unfähig fühlen. Aber nur wenn wir uns Kindern ohne vorgefertigte Konzepte darüber, wie sie sein „sollten“, zuwenden, wenn wir nicht versuchen, sie unseren Landkarten anzupassen, können wir sie so wahrnehmen, wie sie sind, und sie entsprechend begleiten.

In einem Gespräch mit Anna Tardos, Judith Falk und Maria Vincze über ihre Arbeit im Lóczy bezeichneten sie dies als ihre wichtigste Aufgabe: jeden Tag von neuem anzufangen. Sich immer neu Fragen zu stellen, bei jedem Kind, in jeder Situation. Sich immer neu einzufühlen und zu versuchen, jedes Kind und jede Situation so wahrzunehmen, wie sie gerade sind. Ihre Landkarte entstand aus direkter Erfahrung. Und was mich sehr beeindruckt ist: Sie lassen nicht zu, daß sich diese wirklich phantastisch ausgereifte und präzise Landkarte zwischen sie und die Kinder stellt. Wenn sie sich in das Land selbst begeben und mit den Kindern in direkte Beziehung treten, legen sie die Landkarte beiseite und vermeiden so, mit der Karte vor Augen ständig ins Stolpern zu geraten oder gar in gefährliche Löcher zu fallen.

Allzuoft sind wir – wie der Vater auf der Karikatur – selbst unsicher und voller Angst, ins Offene und Unbekannte zu gehen, die Leere des „Ich-weiß-Nicht“ zu ertragen, bis sich ein Weg im Nebel des Nichtwissens abzeichnet. So halten wir uns an den Schwimmreifen von Systemen, Methoden, festen Vorstellungen und fremden Autoritäten über Wasser. Der Wunsch nach einer Methode, die uns die Sicherheit gibt, daß Kinder sich wunderbar entwickeln werden, wenn wir nur das Richtige tun, ist eine verständliche Folge unserer Unsicherheit. Es wäre doch zu schön, wenn es ein Geheimrezept gäbe, das unsere Schwierigkeiten im Leben mit Kindern in Wohlgefallen auflösen könnte – oder einen Ratgeber, der uns immer sagt, was zu tun ist, wenn wir in Schwierigkeiten geraten.

Aber kann es solche Geheimrezepte überhaupt geben? Wir leben in einer Gesellschaft, die den Bezug zu natürlichen Wachstums- und Reifeprozessen weitgehend verloren hat. Wir sind noch stark beeinflußt vom mechanistischen Denken, und so sind wir ständig auf der Suche nach dem, was wir „machen“ können, um unsere Schwierigkeiten zu lösen. Der heutige Mensch ist in seiner Ungeduld ständig versucht, Wachstums- und Reifeprozesse zu beschleunigen und sie möglichst kontrollieren zu wollen, und so liegt es nur nahe, Konzepte und Methoden zu entwickeln, die Eltern dabei helfen sollen, besonders intelligente, fähige oder sogar spirituelle Kinder heranzuziehen. Doch dieses „Machen“, diese Form des Aktivismus, kommt nicht aus einer wirklichen Einsicht, sondern mehr oder weniger vorschnell und pauschal, um eine Schwierigkeit oder eine beunruhigende Situation zu lösen. Aber wie heißt es so schön – unsere genialen Lösungen von heute sind allzu häufig unsere Probleme von morgen. Denn wenn wir in diese Art des Umgangs mit Kindern verfallen, sind wir nicht wirklich mit ihnen in Kontakt. Wir sehen weder sie noch die Situation – wir wenden uns vielmehr ab und suchen woanders nach der Lösung.

Die vermeintliche Sicherheit, die wir uns erhoffen, wenn wir uns nach bestimmten Methoden oder Grundprinzipien im Umgang mit Kindern richten, ist trügerisch. Wir mögen vielleicht oberflächlich das Gefühl haben, sicheren Boden unter den Füßen zu haben und zu wissen, wo es langgeht, aber in Wahrheit werden wir taub und blind für das, was das Kind uns zeigt – für seine innere Wirklichkeit.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, daß wir uns auf das Elternsein nicht wirklich vorbereiten können. Wir können einfach nie wissen, was uns erwartet und welche Schritte sich auf unserem Weg ergeben. Immer wieder geht es darum, innezuhalten, uns wirklich zuzuwenden, versuchen wahrzunehmen, was sich in einer Situation zeigt, statt das Leben des Kindes nach unseren Vorstellungen zu bestimmen.

Wenn sich aus einem Ansatz starre Prinzipien ergeben, so kann dies leicht zu unmenschlichem bis hin zu mehr oder weniger subtil gewalttätigem Verhalten führen. Ich möchte für dieses Phänomen ein paar Beispiele nennen, die verdeutlichen sollen, was hier gemeint ist:

Sowohl im Ansatz von Emmi Pikler als auch in der Arbeit von Rebeca und Mauricio Wild geht es darum, die Autonomie des Kindes zu respektieren. Das heißt, daß wir es nicht überbehüten, daß wir ihm erlauben, seinen Weg selbst zu finden und uns nicht ständig mit unserem Wissen einmischen und zeigen, wie etwas „richtig gemacht“ wird. Wenn ein Kind zum Beispiel ein Spielzeug erkundet, das es noch nicht kennt, und wir sehen, daß es das Spielzeug nicht gleich auf die Art und Weise verwendet, wie es gedacht ist, mischen wir uns nicht ein, sondern halten uns zurück und lassen dem Kind die Möglichkeit, das Problem selbst zu lösen, statt mit unserem besseren Wissen einzugreifen und zu sagen: „Schau mal, so macht man das!“

Auf diese Weise kann das Kind die Erfahrung machen, daß es seine selbstgestellten Aufgaben und Probleme auch selbst lösen kann. Im anderen Fall hätte es gelernt, daß es sich am besten an einen Erwachsenen wendet, der sowieso immer alles besser weiß. Insofern ist es sehr sinnvoll, daß wir unseren Impuls zu helfen hinterfragen – daß wir innehalten und erst einmal abwarten, was das Kind von sich aus tut. Wir begleiten es, mischen uns aber nur ein, wenn es überfordert ist oder sich selbst oder andere ernsthaft gefährdet.

Diese innere Haltung zeugt von großem Respekt für die Autonomie des Kindes. Manchmal ergibt sich daraus aber auch ein Prinzip, eine neue Art von „Gebot“ für Eltern, das da heißt: „Du sollst nicht helfen.“ Auch dies kann dann fatale Auswirkungen haben.

Ein etwa fünfzehnmonatiges Kind wurde von seinem Kindermädchen abgeholt, und es hatte sich schon sehr auf diesen Ausflug gefreut. Zutraulich streckte es den Arm aus und wollte an der Hand genommen werden. Das Kindermädchen folgte lächelnd dieser Aufforderung und wollte gerade aufbrechen, als die Mutter ihr sagte: „Bitte gib ihr nicht die Hand, ich möchte nicht, daß du ihr beim Laufen hilfst.“ Verunsichert ließ sie die Hand los, das Kind weinte und wurde dann auf folgende Weise in seinem Schmerz begleitet: „Ja, ich sehe, du möchtest an der Hand gehen, aber das lasse ich dich nicht!“

Schließlich beruhigte sich das Kind und machte sich neben dem Kindermädchen „selbständig“ auf den Weg. Die gemeinsame Freude war verschwunden, aber das Prinzip blieb gewahrt. Die Mutter hatte das Gefühl, konsequent nach dem „Ansatz von Rebeca und Mauricio Wild“ gehandelt zu haben. Und eine Bekannte, die die Arbeit der Wilds ebenfalls kennt, war tief beeindruckt von der Konsequenz der Mutter.

Ein anderes Beispiel: Ein Junge, der noch neu in einem alternativen Kindergarten war, neigte dazu, die Erwachsenen ständig für seine Zwecke einzuspannen, und schien sich sichtlich unsicher in der neuen Situation zu fühlen. Eines Morgens mußte er auf die Toilette und bat um Begleitung. Eine Praktikantin ging dann gemeinsam mit ihm auf die Toilette. Als er sein Geschäft schließlich erledigt hatte, bat er die Praktikantin: „Machst du mir die Hose und den Gürtel zu?“ Diese wollte gerade auf die Bitte eingehen, als eine Erzieherin hinter ihr rief: „Wir helfen hier nicht!“, und selbst den Platz der Praktikantin einnahm. Das Kind weinte, war wütend, aber die Erzieherin blieb einfach ruhig dabei, bis der Junge es schließlich doch noch schaffte, seine Hose selbst zuzumachen. Auch hier war die Praktikantin beeindruckt von der Konsequenz der Erzieherin und wußte zu berichten, daß der Junge ab diesem Zeitpunkt sehr verändert war, nicht mehr manipulierte und sich in die Struktur des Kindergartens einfügte.

Was hat sich in diesen beiden Fällen nun wirklich abgespielt? Handelt es sich tatsächlich um eine angemessene, konsequente Begleitung, die die Autonomie des Kindes respektiert? Ich glaube das ganz und gar nicht!

• Beginnen wir mit dem ersten Beispiel: Ging es hier um die autonome Bewegungsentwicklung? Das Kind konnte bereits frei gehen! Das Kindermädchen wollte das Kind also keineswegs aufstellen und ihm das Gehen beibringen oder ihm beim Gehenlernen helfen. Daß es an die Hand genommen werden wollte, war ein Ausdruck der Freude, sich nun gemeinsam auf den Weg machen zu können. Wenn ich mir diese Situation aus Sicht des Kindes ansehe, werde ich sehr traurig und resigniert: Meine Mutter läßt es nicht zu, daß mich das von mir so geliebte Kindermädchen an die Hand nimmt. Sie schimpft nicht, sie ist nicht böse mit mir, aber sie läßt die Freude in mir nicht leben. Ich fühle mich nicht autonom und selbständig, sondern verlassen, hilflos und ohnmächtig.

• Im zweiten Beispiel ist die Antwort schon schwieriger, denn offensichtlich hat die Maßnahme ja funktioniert. Der Junge verhält sich nicht mehr so fordernd und fügt sich in den Ablauf des Kindergartens ein. Aber ich habe meine Zweifel, daß es sich hier um ein Beispiel erfolgreicher Konsequenz handelt. Daß etwas funktioniert, heißt noch lange nicht, daß es angemessen ist. Für mich ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß auch dieser Junge innerlich resigniert hat, daß er aufgehört hat, um das zu kämpfen, was er eigentlich gebraucht hätte – was immer das gewesen sein mag. Ich habe nicht gesehen, wie der innere Zustand des Jungen nach diesem Vorfall wirklich aussah – ob er wirklich an innerer Sicherheit gewonnen hat.

Anna Tardos sagte einmal: „Es ist grundsätzlich wichtig zu verstehen, daß wir Selbständigkeit vom Kind nicht erwarten oder gar fordern dürfen, sondern daß wir ihm die Möglichkeit geben, so selbständig zu sein, wie es das von sich aus möchte. Sie ist also ein Angebot und keine Forderung, es muß nicht selbständig sein, denn wir können darauf vertrauen, daß es selbständig werden wird, sich von uns lösen wird, seinen Weg gehen wird, wenn es dafür bereit ist – wenn die Zeit reif ist.“

Bei anderer Gelegenheit erläuterte Anna Tardos in einem Elternseminar: „Wir sind sehr überzeugt von dem, was wir tun und wie wir es tun. Ich bitte Sie trotzdem, nicht einfach alles zu übernehmen, nur weil ich es gesagt habe und es vielleicht überzeugend klingt. Es ist immer besser für ein Kind, wenn seine Eltern etwas mit einem guten inneren Gefühl ‚falsch‘ machen, als sich einer Methode, einem Prinzip unterzuordnen und gegen das eigene Gefühl zu handeln.“

Kurz gesagt bedeutet dies, das Kinder nicht unter unseren Prizipien leiden sollten. Für Prinzipien wurden Kriege geführt und Menschen getötet. Wenn wir Kindern auf wahrhaft menschliche Weise begegnen wollen, ist es unerläßlich, daß wir die vermeintliche Sicherheit, die uns solche Prinzipien geben, hinter uns lassen und uns den Kindern immer wieder von Neuem wirklich zuwenden.

Wenn wir uns auf Prinzipien berufen und uns vorrangig an solchen orientieren, werden wir herzlos, so einleuchtend und richtig uns diese Prinzipien auch erscheinen mögen. Dies ist auch der Grund, warum es so wichtig ist, mit jedem Kind und jeder Situation wirklich in Kontakt zu treten, uns einzufühlen und zu lernen, mit den Augen des Herzens zu sehen und so gemeinsam mit unseren Kindern zu wachsen.

Doch wie ist das möglich? Wir können nicht warten, bis wir uns vervollkommnet haben, um dann gute Eltern oder Pädagogen zu sein. Unsere Kinder und ihre Bedürfnisse sind eine konkrete Wirklichkeit und Verantwortung, der wir uns heute stellen müssen.

Statt in unserer Ratlosigkeit möglichst schnell nach einem Rezept Ausschau zu halten, könnten wir vielleicht zunächst einmal innehalten und versuchen, unsere Situation genauer zu betrachten. Wenn wir Kinder als eigenständige Menschen sehen und mit ihnen in eine wahrhaft menschliche Beziehung treten möchten, und wenn wir erkennen, daß eine wirkliche Entfaltung des menschlichen Potentials die Frucht eines Reifeprozesses ist, versteht es sich von selbst, daß wir dies nicht durch die Anwendung irgendwelcher Erziehungsmethoden von außen bewerkstelligen können. Stattdessen können wir nach den Bedingungen fragen, die eine harmonische Entfaltung der Kinder ermöglichen, und welche Verhaltensmuster und Sichtweisen dazu führen, daß wir Kinder eher als Objekte behandeln und so den Kontakt zu ihnen verlieren.

Ein typischer Zeitpunkt, wenn Eltern anfangen, nach wirkungsvollen Lösungen zu suchen, ist, wenn Kinder anfangen, ein eigenes Ich, einen eigenen Willen zu entwickeln. Dies geschieht gewöhnlich um das zweite Lebensjahr herum – manchmal früher, manchmal später. In der Literatur wird diese Zeit die „Trotzphase“ genannt, und Kinder, die sich in dieser Phase befinden, werden gern als kleine Tyrannen bezeichnet, die dann durch die verschiedensten Methoden gezähmt werden sollen. Tatsächlich werden diese Kinder einfach selbständig, und wer trotzig wird, sind eher die Erwachsenen. Oft beginnen sich Kinder einfach nur gegen bestimmte Verhaltensweisen oder Umstände aufzulehnen, die ihren Bedürfnissen nicht entsprechen. So läßt sich ein Kleinkind vielleicht plötzlich nicht mehr ohne weiteres wickeln, was durchaus seinen Grund haben mag, wenn wir uns einmal genauer ansehen, in welcher Atmosphäre dieses stattfindet und wie einfühlsam und respektvoll unsere Hände dabei gewöhnlich sind. Oder es möchte seine Umgebung möglichst gründlich erforschen und wehrt sich dagegen, wenn es ständig davon abgehalten wird.

Wir können davon ausgehen, daß zweijährige Kinder in den seltensten Fällen einen Machtkampf vom Zaum brechen oder uns tyrannisieren wollen. Sie sind einfach, was sie sind. Und wenn wir ihnen den Raum und die Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die sie brauchen, und uns ihnen einfühlsam zuwenden, verwandeln sich die sogenannten kleinen Tyrannen in aufgeweckte und sehr selbständige Forscher, an denen wir nur unsere Freude haben können.

Natürlich gibt es auch Kinder, die besondere Schwierigkeiten damit haben, daß die Welt und andere Menschen nicht nach ihrem eigenen Willen funktionieren. Ihre Wutanfälle treten nicht nur dann auf, wenn sie von uns nicht bekommen, was sie wollen, sondern auch, wenn die Wand einfach nicht weichen will, gegen die sie mit ihrer Schubkarre stoßen. Aber auch solchen Kindern ist nicht geholfen, wenn wir ihnen mit dem neuesten Ratgeber zum Grenzensetzen oder Festhalten zu Leibe rücken, sondern auch sie brauchen eine verständnisvolle, mitfühlende Begleitung, die ihnen hilft, anzunehmen, daß die Welt nicht immer so sein kann, wie sie es gern hätten. Manchmal ist ihnen mehr geholfen, wenn wir ihren Anfällen keine besondere Beachtung schenken und einfach die Situation beschreiben: „Die Wand will einfach nicht weggehen, nicht wahr?“ Welches Verhalten in einer solchen Situation jeweils angemessen ist, läßt sich natürlich nicht pauschal sagen, aber wenn wir nicht nur darauf aus sind, daß ein Kind unseren Erwartungen gemäß funktioniert und uns wirklich in die Situation einfühlen, finden wir meistens auch eine Lösung.

Wenn Kinder früher so funktionierten, wie es die Erwachsenen erwarteten, war das ein Erziehungserfolg, und die Eltern durften sich auf die Schultern klopfen. Lief es nicht wie gewünscht, so waren die Kinder schwierig und die Eltern wurden bemitleidet, wie schwer sie es mit diesem Kind hatten. Heute wissen wir, daß dies eine sehr einseitige Sicht war, und es geht darum, Wege zu finden, eine Beziehung zu unseren Kindern aufzubauen, die von gleicher Würde und gegenseitigem Respekt geprägt ist.

Wie aber könnte eine neue Beziehungsqualität aussehen? Welche Voraussetzungen liegen ihr zugrunde und wie könnten wir sie in unserem täglichen Leben verwirklichen? Wie können wir lernen, uns unseren Kindern immer wieder voll und ganz zuzuwenden – ihnen mit Achtsamkeit, Mitgefühl, Liebe und Respekt zu begegnen? Was brauchen wir selbst, um einen solchen Weg gehen zu können, und wie können wir die Folgen unserer eigenen Erziehung hinter uns lassen?

Diesen Fragen möchte ich auf den folgenden Seiten nachgehen und Möglichkeiten aufzeigen, die einen solchen Prozeß unterstützen können. Es geht um eine neue Sichtweise, die Wege aufzeigt, wie Kinder ihrer inneren Natur gemäß aufwachsen können. Dabei möchte ich nochmals betonen, daß alles, was ich in diesem Buch schreibe, als Anregung oder Ermutigung zu verstehen ist. Ich bin kein Experte, der weiß, wie man „richtig“ mit Kindern umgeht. Vielmehr bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es darum geht, in unserer eigenen Situation die bestmögliche Lösung für den nächsten Schritt zu finden. Wir müssen nicht anders oder besser werden, als wir sind, so seltsam das klingen mag. Wenn wir von da ausgehen, wo wir gerade stehen, wie unzureichend uns das auch erscheinen mag, und uns einfach immer wieder erinnern, etwas mehr Achtsamkeit, Einfühlsamkeit und Geduld aufzubringen, wird sich unser Leben und die Beziehung zu unseren Kindern entscheidend verändern.

Grundsätzlich gilt auch für mich die Aussage von Anna Tardos, daß es immer sinnvoller ist, dem eigenen inneren Gefühl, der eigenen Überzeugung zu folgen, als etwas zu tun, nur weil es jemand gesagt hat, den wir für einen Experten halten, und so gegen unsere Intuition zu handeln. Mit Kindern neue Wege gehen bedeutet vielmehr das „Ich-weiß-Nicht“ schätzen zu lernen und so die eigene Intuition zu entwickeln und ihr mehr und mehr zu vertrauen und zu folgen. Im Zen wird diese innere Haltung der „Anfänger-Geist“ beziehungsweise der „Don’t know mind“ genannt und kennzeichnet die Fähigkeit, alles, was wir schon zu wissen glauben, beiseite zu lassen, die innere Leere des „Ich-weiß-Nicht“ zuzulassen und uns immer wieder völlig neu und ohne vorgefertigte Meinungen auf eine Situation oder einen Menschen einzulassen. Der Geist des Experten kennt wenige Möglichkeiten, der Geist des Anfängers viele!

Das heißt natürlich nicht, daß wir einfach nur „aus dem hohlen Bauch“ handeln sollten, ohne uns über die Folgen unseres Tuns Gedanken zu machen. Alles, was wir tun oder nicht tun, hat Folgen, und nur wenn wir versuchen, uns dieser Folgen gewahr zu werden, nur wenn wir uns unseren Kindern und unserer Situation wirklich zuwenden und bewußt unsere eigenen Entscheidungen treffen, können wir einen Weg finden, der wirklich unser eigener ist. Und nur ein solcher, eigener Weg führt dazu, daß unsere Kinder sich von uns angenommen und geliebt und auf ihrem Weg ins Leben begleitet fühlen können. Jon Kabat-Zinn sagte am Ende eines Interviews: „Das größte Geschenk, das wir Kindern machen können, sind wir selbst.“ Kinder möchten mit uns eine echte Beziehung eingehen, sie haben kein Interesse an „perfekten“ Eltern, die immer alles richtig machen wollen. Es ist unausweichlich, daß wir Fehler machen und daß unsere Kinder unter diesen Fehlern zu leiden haben, aber wenn wir die innere Bereitschaft haben, aus diesen Fehlern zu lernen, ist das alles, was nötig ist.

Vielleicht zweifeln auch Sie hin und wieder daran, daß Sie der Aufgabe gerecht werden und Ihre Kinder auf angemessene Weise ins Leben begleiten können. Elternsein ist sicherlich eine der anstrengendsten und streßreichsten Aufgaben, die es auf dieser Erde gibt, und da es eine solch gewaltige Herausforderung ist, sehnen wir uns oft einfach danach, einen Weg zu finden, alle Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste, die mit dieser Aufgabe verbunden sind, möglichst auf einen Schlag loszuwerden. Das letzte, was wir uns wünschen, sind noch mehr Aufgaben, noch mehr, was wir machen sollen, um „gute Eltern“ zu sein.

In diesem Buch geht es nicht darum, was Sie noch alles tun sollten, sondern vielmehr darum, erst einmal innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und Ihre Situation mit neuen Augen zu sehen. Vielleicht sehen Sie dann deutlicher, was Sie wirklich wollen, welche Werte Sie in Ihrem Familienleben pflegen und verwirklichen wollen und wie Sie einen Weg finden können, der es Ihren Kindern und Ihnen selbst ermöglicht, ein erfülltes Leben zu führen.

Geschichte Der ehrgeizige junge Bauer

Im alten China gab es einen jungen, ehrgeizigen Bauern, der ein großes Feld erworben hatte und nun darauf brannte, seine erste Ernte einzufahren. Er kaufte besonders ertragreiches Saatgut, und so konnte er mit der Arbeit beginnen. Nachdem er den Boden bearbeitet, das Saatgut ausgebracht und alles weitere für ein gutes Wachstum der Pflanzen getan hatte, legte er sich zufrieden zur Ruhe.

Jeden Morgen schaute der junge Bauer auf seinem Feld nach, ob seine Saat schon aufgegangen war. Groß war seine Freude, als die ersten Halme aus der Erde kamen. Schon bald war das ganze Feld übersät von jungen Trieben. Immer noch ging er jeden Morgen auf sein Feld, um das weitere Wachstum seiner Pflanzen zu verfolgen. Aber es dauerte ihm alles viel zu lange. Er wollte doch so gerne die Früchte seiner Arbeit in Händen halten – und das natürlich so schnell wie möglich.

Eines Abends nun hatte er eine Idee: Wie wäre es, wenn er an allen Halmen ein wenig ziehen würde, um sie so zu schnellerem Wachstum anzuregen? Er war so begeistert von dieser Idee, daß er sofort aufstand, auf sein Feld ging und bis tief in die Nacht hinein an jedem einzelnen Hälmchen zog und zupfte. Nach getaner Arbeit legte er sich schließlich zufrieden in sein Bett.

Am nächsten Morgen ging er voller Erwartung auf sein Feld. Aber was mußte er sehen: Alle jungen Triebe lagen verwelkt auf dem Boden, seine ganze Arbeit war umsonst gewesen. Diese Lektion sollte er sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Er hatte gelernt, geduldig zu warten und der Kraft der Pflanzen zu vertrauen, statt seiner Ungeduld zu erliegen und in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen. Wachstum und Entwicklung brauchen ihre Zeit, und ich erreiche nichts Gutes, wenn ich versuche, diese Zeit zu verkürzen.


Geschichte Die Lehre des Engels

Es war einmal ein Engel, der wußte, wie gerne die Menschen feste Überzeugungen hegen und sich mit anderen Menschen, die der gleichen Meinung sind, zu Gruppen, Glaubensrichtungen oder politischen Parteien zusammenschließen. Dieser Engel wollte den Menschen nun zeigen, wie verrückt, absurd und schädlich dieses Verhalten ist und ihnen helfen, vielleicht sogar über sich selbst lachen zu können. Er ließ sich einen großen Hut anfertigen, der genau in der Mitte geteilt war. Auf der einen Seite war er von leuchtendem Blau, auf der anderen Seite von flammendem Rot. Dann begab sich der Engel in einen Ort, wo auf beiden Seiten der Dorfstraße viele Menschen auf dem Acker arbeiteten. Dort zeigte er sich dann in all seiner Herrlichkeit und ging gemessenen Schrittes die Straße entlang. Alle Menschen auf der rechten Seite, ebenso wie alle Menschen auf der linken Seite der Straße hielten von Staunen und Ehrfurcht ergriffen in ihrer Arbeit inne und schauten zu dem Engel auf, der mit seinem Licht die ganze Gegend erhellte. Dann verschwand er plötzlich. Zunächst war es still, doch dann riefen alle: „Wir haben einen Engel gesehen! Wir haben einen Engel gesehen!“ Alle waren voller Freude und überglücklich, bis einer der Menschen von der linken Seite der Dorfstraße sagte: „War er nicht wunderbar, in all seiner Herrlichkeit und mit seinem roten Hut?“ Die anderen Bewohner der linken Seite stimmten ihm zu, aber von der rechten Seite kam Widerspruch: „Was redet ihr da? Er hatte einen blauen Hut auf!“, und die anderen Bewohner der rechten Seite stimmten ihm zu.

Die Meinungsverschiedenheit spitzte sich mehr und mehr zu, bis die Menschen auf beiden Seiten der Dorfstraße Barrikaden errichteten und begannen, sich gegenseitig mit Steinen zu bewerfen. Da erschien der Engel von neuem. Dieses Mal ging er in die andere Richtung – um dann wieder plötzlich zu verschwinden. Die Menschen von den beiden Straßenseiten schauten sich an, und die auf der linken Seite sagten: „Es tut uns leid, wir haben uns geirrt, er hatte tatsächlich einen blauen Hut auf. Bitte vergebt uns, wir haben uns getäuscht.“ Die Menschen von der rechten Seite erwiderten: „Aber nicht doch – wir haben uns getäuscht!“ Nun machte sich Unsicherheit breit. Sollten sie weiter gegeneinander kämpfen oder sollten sie Freundschaft schließen? Die meisten waren vollkommen ratlos und verwirrt angesichts der neuen Situation. Da erschien der Engel ein weiteres Mal. Strahlend und gemessenen Schrittes ging er bis zur Mitte der Straße. Dort blieb er kurz stehen, drehte sich langsam nach links und dann wieder nach rechts – und verschwand. Nach einer kurzen Pause der Verblüffung fingen alle herzlich an zu lachen, und fortan waren sie vorsichtiger, wenn sie in sich die Tendenz spürten, an ihren Vorstellungen und Überzeugungen um alles in der Welt festhalten zu wollen.


ReflexionInnehalten

Unser Leben ist häufig geprägt von ständiger Geschäftigkeit. Immer gibt es etwas zu tun oder zu organisieren. Vor allem wenn wir Kinder haben, scheint einfach nie Raum für Nicht-Tun dazusein. Entstehen einmal Lücken in unserem Alltag, so vertreiben wir uns mit Fernsehen, Zeitunglesen oder mit anderen Aktivitäten die Zeit. Momente der Stille, der Leere machen uns eher unruhig, und so lenken wir uns schnell wieder ab. Innere Unruhe und Streß sind die unvermeidliche Folge. Unsere Kultur kennt keine Wertschätzung für das Nicht-Tun – im Gegenteil, sie bietet eine Fülle von Ablenkungen, um der inneren Leere zu entfliehen. Diese Geschäftigkeit kann die innere Leere jedoch nie wirklich ausfüllen, und so laufen wir immer schneller. Dazu gibt es eine Zen-Geschichte von einem Mann und einem Pferd. Der Mann sitzt auf seinem galoppierenden Pferd. Er hat es offensichtlich sehr eilig. Vom Wegrand sieht ihn ein Freund, der ihm zuruft: „Wohin so eilig?“ Worauf der Reiter gerade noch zurückrufen kann: „Keine Ahnung! Frag das Pferd!“

Dieser Zustand kommt mir recht bekannt vor, wenn ich mich vom alltäglichen Streß mitreißen lasse. Ich vergesse dann, wohin ich eigentlich möchte, und meine Gewohnheiten treiben mich so sehr zur Eile, daß ich nur schwer anhalten kann. In diesem Zustand ist es unmöglich, zu meinem Sohn in einen wirklichen Kontakt zu treten. Achtsamkeit ist das Heilmittel, einen Weg zu finden, nicht gleich auf unser Pferd zu springen, wenn es losgaloppieren will.

Es gibt eine andere alte Weisheitsgeschichte, in der ein verzweifelter Suchender zu einem Meister kommt und diesem schildert, was er alles getan hat, um zu innerem Frieden und Glück zu finden. Der Meister lacht und sagt dem Suchenden: „Auf deiner Suche nach Glück eilst du so schnell durch dein Leben und bist ständig so beschäftigt, daß es dich nie einholen kann. Du mußt nämlich wissen – dein Glück läuft immer hinter dir her, aber es erwischt dich einfach nicht, wenn du ständig in Bewegung bist. Halte inne, und es wird dich erreichen.“

Auch im Leben mit Kindern ist es sehr hilfreich, immer wieder innezuhalten und die Leere des „Ich-weiß-Nicht“ ertragen und im Laufe der Zeit vielleicht sogar schätzen zu lernen. Besonders hilfreich ist es, wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, in derartigen Situationen zunächst einmal uns selbst Einfühlung zu geben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit, ohne zu beurteilen oder etwas Bestimmtes zu erwarten, auf unseren eigenen inneren Zustand lenken, bekommen wir mit der Zeit ein besseres Gefühl für uns selbst. Da alles, was wir tun, durch unseren emotionalen Zustand gefärbt wird, ist es außerordentlich hilfreich, wenn wir uns bewusst sind, was sich gerade in uns abspielt. Nur so können wir, statt automatisch zu reagieren, eine Antwort finden, die der Situation, dem Kind und uns selbst angemessen ist. Denn nur in diesem leeren Raum können wir mit unserer Intuition in Verbindung kommen, die Signale, die Kinder uns geben, verstehen und auf einer tieferen Ebene mit ihnen in Kontakt treten. Wenn wir im Leben mit Kindern, oder auch in anderen Situationen, nicht weiterwissen, suchen wir die Lösung normalerweise außen. „Was soll ich tun, wenn mein Kind …“ ist eine verständliche und weitverbreitete Frage, und es gibt ja auch genügend Fachleute, die schnell mit Ratschlägen bei der Hand sind. Wenn all diese wohlgemeinten Ratschläge im Umgang mit Kindern wirklich etwas nützen würden, wären wir schon lange perfekte Eltern, und Schwierigkeiten im Leben mit Kindern wären die Ausnahme. Tatsächlich ist in jeder Frage im Leben mit Kindern auch die Antwort enthalten. Sie ist vielleicht nicht unbedingt leicht zu entdecken, aber wenn wir lernen, das Nichtwissen zu ertragen, offen zu bleiben und uns auf unsere Kinder einzulassen, wird sie sich nach und nach zeigen.

ÜbungInnehalten

Eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit, unseren inneren Raum zu erweitern, ist die Praxis der Achtsamkeit. Gleichzeitig ist sie ein wertvolles Werkzeug zur Streßbewältigung und zur Regeneration. Eltern haben manchmal Schwierigkeiten, ein wenig Zeit für diese „innere Arbeit“ zu finden. Aber es ist unmöglich, unseren Kindern zu geben, was sie brauchen, wenn wir uns selbst dabei außer acht lassen. Dann hilft es uns, einen Weg zu finden, auf dem auch wir die innere Nahrung bekommen, die wir brauchen. Da ich dieses Thema für besonders wichtig halte, habe ich ihm den dritten Teil dieses Buches gewidmet. Ich möchte Sie aber schon jetzt einladen, hin und wieder innezuhalten und die Aufmerksamkeit auf Ihre Reaktionen zu lenken, wenn Sie in eine Situation geraten, in der Sie mit einem Gefühl der Unsicherheit, der Ohnmacht oder auch der Leere, der Langeweile konfrontiert sind. Versuchen Sie einfach wahrzunehmen, wie Sie in Ihrem Alltag auf Situationen reagieren, die derartige Zustände hervorrufen. Es geht in dieser Art von Übung zunächst einmal nicht darum, etwas oder sich selbst zu verändern oder sich in irgendeiner Weise zu beurteilen. Sie müssen nichts anders, nichts richtig machen, sondern es geht darum, daß wir uns selbst und unsere Reaktionsweisen kennenlernen, daß wir ein echtes Interesse an uns selbst und unserer eigenen Art und Weise zu reagieren entwickeln. Wenn wir zu schnell reagieren, uns bewerten und verändern wollen, endet dies eher in Selbstmanipulation. Aber wenn wir beginnen, uns selbst besser wahrzunehmen, und wenn es uns mit der Zeit gelingt, unseren inneren Raum zu erweitern, können wir vielleicht hin und wieder aussteigen, wenn unsere alten gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster das Ruder übernehmen wollen.

Wenn Sie bei dieser Selbsterforschung entdecken, daß einige Ihrer Reaktionen im Leben mit Ihren Kindern wenig hilfreich oder sogar schädlich sind, können Sie irgendwann damit beginnen, zu experimentieren, ob es möglich ist, einen Moment innezuhalten. Sie können sich einfach innerlich „Stopp“ sagen, zwei- oder dreimal langsam tief ein- und ausatmen und Ihre Aufmerksamkeit nach Innen, auf Ihren Zustand richten – ohne diesen zu beurteilen oder ändern zu wollen. Dann können Sie sich fragen, was eigentlich los ist. Besonders hilfreich ist es, wenn Sie herausfinden, welches Bedürfnis in Ihnen unbefriedigt ist. So entsteht mit der Zeit ein innerer Raum, in dem sich die Möglichkeit ergibt, daß Sie die Situation mit neuen Augen sehen und so auch zu einer anderen Art und Weise finden können, auf sie zu antworten.

In diesem Zusammenhang gibt es eine schöne Geschichte von einer Mutter, die durch den Kontakt zu dem bekannten buddhistischen Meister Thich Nhat Hanh zur Praxis der Achtsamkeit gefunden hat:

Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie leicht wir in unserem Alltag von unseren Gewohnheiten mitgerissen werden und wie schnell wir den Kontakt zu uns und zu dem, was wir gerade tun, verlieren. Um sich immer wieder daran zu erinnern, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren, war diese Familie dem Rat von Thich Nhat Hanh gefolgt und hatte in ihrem Wohnzimmer eine Klangschale aufgestellt. Immer mal wieder, wenn jemand an dieser Schale vorbeikam, oder wenn jemand merkte, daß sich eine Atmosphäre von Hast und Streß aufbaute, konnte er die Schale anschlagen. Dies war dann das Signal für alle, innezuhalten, die Aufmerksamkeit nach innen auf den Atem zu richten, sich zuzulächeln und sich so einen Moment Raum zu geben, wieder bei sich anzukommen.

Wie die Mutter erzählte, hatte ihr dreijähriger Sohn den Wert dieser Praxis sehr schnell erkannt. Eines Tages, sie war gerade in Eile und wollte nur schnell noch die Betten machen, hörte die Mutter im Nebenzimmer ein lautes Scheppern und Klirren. Als sie schon deutlich angespannt in das Wohnzimmer kam, sah sie, daß ihr Sohn bei dem Versuch, eine Schale mit Keksen zu stibitzen, diese fallengelassen hatte, wodurch sie dann zu Bruch ging. Das war zuviel des Guten. Gerade kochten in ihr die Emotionen hoch, und sie war kurz davor, ihren Sohn nicht gerade sehr achtsam und respektvoll zurechtzuweisen, als dieser schnell zu der Klangschale eilte und diese anschlug. Es war also nun ihre Aufgabe, innezuhalten und sich nach innen zu wenden.

Der Zauber war unmittelbar gebrochen und ihre Wut verflogen. Natürlich wies sie ihren Sohn dann trotzdem noch zurecht, aber es geschah in einer vollkommen anderen Weise, getragen von einem inneren Lachen und ohne die Anwendung von Macht oder Gewalt.

Vor allem unter Streß verlieren wir leicht die Kontrolle über uns, und wir tun oder sagen Dinge, die wir später manchmal gar nicht mehr nachvollziehen können. Dies ist in gewisser Weise eine natürliche Reaktion, die in früheren Zeiten für unser Überleben unerläßlich war. Wenn wir in Gefahr gerieten, mußte unser Organismus möglichst schnell zu Angriff oder Flucht aktiviert werden. Dazu werden bei Gefahr besondere Streßhormone wie Adrenalin ausgeschüttet, die dafür sorgen, daß wir möglichst schnell und automatisch reagieren. Die Pupillen weiten sich, unser Blick verengt sich, unser Denken ist stark eingeschränkt, Puls sowie Atmung beschleunigen sich, und unser gesamter Körper wird so blitzartig in Kampf- beziehungsweise Fluchtbereitschaft gebracht.

Diese automatische Streßreaktion ist in unserer heutigen Zeit und vor allem im Leben mit Kindern natürlich wenig hilfreich. Aber sie ist es, die uns manchmal in einer Weise reagieren läßt, die uns vielleicht über uns selbst erschrecken läßt. Der erste Schritt, aus diesem Reaktionsmuster auszusteigen, besteht darin, daß wir erkennen, was sich gerade abspielt. Nur wenn uns mitten in einem solchen Anfall bewußt wird, daß wir beginnen auszurasten, können wir uns innerlich „Stopp!“ sagen. Vielleicht merken wir dann, wie sich unsere Fäuste ballen, das Blut in den Kopf steigt und sich alles in uns darauf ausrichtet, das „Objekt“ unseres Stresses anzugreifen.

In diesem Zustand sind wir nicht zu klarem Denken in der Lage, und so mag es sehr sinnvoll sein, vielleicht erst einmal ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, ein paar Schritte auf und ab zu gehen oder sogar den Raum zu verlassen, bis wir uns wieder so weit beruhigt haben, daß wir wieder „wir selbst“ sind und die Situation auch wieder aus den Augen unseres Kindes sehen können.

Sollte uns doch der Geduldsfaden reißen, ist es sehr wichtig, uns hinterher zu entschuldigen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir die Umgebung oder unseren Tagesablauf in einer Weise organisieren können, daß der Streß nicht dazu führt, daß wir unsere Kinder als Last oder gar als bedrohlich ansehen.

Myla und Jon Kabat-Zinn sprechen gern davon, daß es manchmal scheint, als wären wir, oder auch unsere Kinder, in einer Art Zauberbann gefangen. Wir können zu einer bösen Hexe oder einem bedrohlichen Riesen werden, wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen. Der erste Schritt, uns aus einem solchen bösen Zauber zu befreien, besteht darin, erst einmal innezuhalten und nicht automatisch zu reagieren, wie es uns dieser Zustand eingibt. Das heißt nicht, daß wir unsere Gefühle unterdrücken sollen. Wir geben ihnen innerlich Raum, aber wir können lernen, uns nicht einfach mitreißen zu lassen. So wird es uns mit der Zeit möglich, eine geeignetere Antwort auf eine Situation zu finden.

Mit Kindern neue Wege gehen

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