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Mein Weg

Valentinstag 1987. Ich sitze im Flugzeug nach Ecuador, um mir den „Pesta“, ein Kindergarten- und Schulprojekt, anzusehen, das plötzlich und völlig unerwartet in meinem Leben aufgetaucht ist. Möglichkeiten und Wege für die Entfaltung des menschlichen Potentials hatten zwar schon lange eine zentrale Bedeutung in meinem Leben eingenommen, aber bisher standen dabei eher mein eigener Prozeß und die Arbeit mit Erwachsenen im Vordergrund. Als Lehrer der Alexander-Technik lag mein Schwerpunkt darin, wieder mehr mit mir, meinem Körper und meinen inneren Quellen in Kontakt zu kommen, um so zu einem bewußteren und erfüllteren Leben zu finden. Gleichzeitig begann ich buddhistische Achtsamkeits-Meditation zu praktizieren, machte eine Gestalt-Ausbildung und hatte angefangen, meine Erfahrungen an andere weiterzugeben und andere Menschen in ihrem eigenen Prozeß zu begleiten.

In dieser Zeit begann ich mich dann auch zunehmend für die Frage zu interessieren, wie es kommt, daß im Laufe des Heranwachsens so viel von unserem Potential verlorengeht oder verschüttet wird und wie ein Umgang mit Kindern aussehen könnte, der ihre Entfaltung unterstützt und angemessen begleitet.

Eines Tages besuchte ich einen befreundeten Psychotherapeuten, mit dem ich schon oft über diese Fragen diskutiert hatte. Kaum hatten wir uns zu einem Tee hingesetzt, erzählte er mir von dem Manuskript eines Buches mit dem Titel Erziehung zum Sein, das ich unbedingt lesen müsse. Als ich nach einem langen Abend voll anregender Gespräche endlich im Bett lag, wollte ich doch zumindest noch einen Blick in das Manuskript werfen, das meinen Freund so begeistert hatte. Ich begann zu lesen – und konnte nicht mehr aufhören. Ich war fasziniert und tief berührt – meine Gefühle beim Lesen waren vielleicht nur vergleichbar mit dem Sturm der ersten großen Liebe.

Es ging um den „Pesta“, ein Kindergarten- und Schulprojekt in Ecuador, das das Ehepaar Rebeca und Mauricio Wild gegründet hatte, um ihrem zweiten Sohn eine andere Erfahrung als in den staatlichen Schulen zu ermöglichen. Ich selbst hatte unter der Schule immer gelitten und den größten Teil des uns auferlegten Programms als wenig sinnvoll empfunden. Aber was ich von diesem Projekt gehört und gelesen hatte, schien mir fast ein Märchen zu sein. Es war, als würde ich in meinen unguten Gefühlen als Schüler endlich bestätigt werden: Wir waren also doch nicht einfach faul oder unmotiviert, wenn wir keine Lust hatten, auf Anordnung von irgendwelchen Lehrern etwas zu lernen, was uns überhaupt nicht interessierte.

In diesem Schulprojekt schien wirklich alles anders zu sein – kein Zwang, keine Noten, keine Klassenarbeiten, keine Hausaufgaben, die Kinder können dem nachgehen, was ihren wirklichen Interessen entspricht. Das klang wirklich paradiesisch für einen geplagten Exschüler wie mich.

So saß ich also im Flugzeug, um den „Pesta“ persönlich kennenzulernen und mit eigenen Augen zu sehen, wie ein solches Schulprojekt funktionierte. Schon bei der ersten Begegnung mit den Wilds stellte sich eine für mich ungewöhnliche Vertrautheit ein. Die Kommunikation war glücklicherweise kein Problem, da Rebeca in Deutschland aufgewachsen war und auch Mauricio, als Sohn Schweizer Eltern, die nach Ecuador ausgewandert waren, fließend Deutsch sprach. Nachdem sich ihre Überraschung gelegt hatte, daß der Herausgeber ihres Buches nicht der von ihnen erwartete ältere Herr war, sondern ein gerade einmal dreißigjähriger junger Mann, entwickelte sich schnell eine entspannte und von anregenden Gesprächen geprägte Atmosphäre.

Meine Gefühle, als ich am nächsten Tag das erste Mal dem Treiben im Pesta beiwohnte, lassen sich nur schwer beschreiben. Das Buch hatte natürlich einige Erwartungen geweckt, aber die Wirklichkeit wurde diesen Erwartungen durchaus gerecht. Ich saß inmitten der Kinder, die mich gar nicht beachteten, weil sie viel zu sehr mit ihren eigenen Aktivitäten beschäftigt waren. Schmerzlich tauchte meine eigene Schulzeit noch mal vor meinen Augen auf, mit all dem Druck, den Ängsten und dem dumpfen Gefühl, im „falschen Film zu sein“, wie wir es damals nannten. Gleichzeitig durchströmte mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das mich erleichterte und von einer Last befreite, die ich seit meiner Schulzeit mit mir herumschleppte: Es ging also doch anders!

Diese Erfahrung hatte weitreichende Folgen für mich und mein weiteres Leben, auch wenn ich das damals kaum ahnen konnte. Zurück aus Ecuador, brannte ich förmlich darauf, mich dafür einzusetzen, daß auch andere Menschen diese Idee, diese Praxis und dieses Projekt kennenlernen können. Ich begann, den Pesta bei verschiedenen Anlässen mit Hilfe von Dias vorzustellen, und aufgrund des wachsenden Interesses an der Arbeit der Wilds gründete ich gemeinsam mit einigen anderen 1989 den Verein Mit Kindern wachsen. Wie die Wahl dieses Vereinsnamens deutlich macht, ging es uns dabei von Anfang an nicht um die Verbreitung einer neuen Methode, sondern um eine andere innere Einstellung – um Wege, Kinder in einer Art und Weise ins Leben zu begleiten, die diese als gleichwürdig respektiert und einen Prozeß ermöglicht, in dessen Verlauf auch wir Erwachsenen innerlich wachsen können.

1989 war aber auch noch in anderer Hinsicht ein ganz besonderes Jahr. Wie es der Zufall so wollte, war es wiederum Valentinstag, als Mauricio Wild uns in Deutschland besuchte. Wir nutzen die Gelegenheit, um einen kleinen Vortrag mit ihm zu organisieren, und schließlich boten wir ihm an, ihn und Rebeca für den Sommer zu einigen Seminaren und Vorträgen für interessierte Eltern, Erzieherinnen und Lehrer einzuladen. Dies war der Beginn ihrer ausgedehnten Reisen durch Europa, die wir von nun an für nahezu zehn Jahre regelmäßig organisierten und begleiteten. Aber damit noch nicht genug: Im selben Jahr lernten wir auch noch einen anderen Ansatz kennen, der uns und unsere Arbeit letztendlich sogar noch tiefgehender beeinflußt hat. Der Pesta ist ja ein Kindergarten- und Schulprojekt, und sosehr mich das Leben und Lernen dort auch inspiriert hatten, blieb die Frage offen, wie ein gleichwürdiger, liebe- und respektvoller Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern aussehen könnte. Was die Geburt anbelangt, hatte durch die Arbeit von Leboyer, Odent und vielen engagierten Hebammen ja bereits ein Umdenken angefangen – aber wie könnte es dann weitergehen?

Diese Frage führte mich schließlich in einen Vortrag von Dr. Judith Falk, der damaligen Direktorin des Lóczy, einem Säuglingsheim in Ungarn, das von der Kinderärztin Dr. Emmi Pikler gegründet wurde. Der Vortrag beeindruckte mich sehr, vor allem der Umstand, daß die auf den Dias gezeigten Kinder, obwohl sie in einem Heim aufwuchsen, einen außergewöhnlich lebendigen und aufgeweckten Eindruck machten. Da ich mehr über die Arbeit in diesem Säuglingsheim wissen wollte, meldete ich mich bei einem Seminar mit der Kinderpsychologin und Tochter von Emmi Pikler, Anna Tardos, an. Hier lösten sich auch meine letzten Vorbehalte endgültig auf. Die Achtsamkeit und der Respekt den Kindern gegenüber, der aus ihren Worten sprach, berührten mich tief. So meldeten wir uns zu einer längeren Fortbildung mit ihr an und wenig später entschieden sich meine Frau und ich, gemeinsam mit Anna Tardos ein Buch über die Beziehungsqualität im Lóczy zu veröffentlichen. Vier Jahre dauerte die Arbeit an dem Buch, und was wir während dieser Zeit bei verschiedenen Aufenthalten vor Ort erlebten, hatte eine tiefgreifende Wirkung auf uns. Die Kinder, die in dieses Heim kommen, haben, so jung sie sind, bereits ein dramatisches Schicksal hinter sich. Teilweise sind sie alkohol- oder drogenabhängig, die meisten haben kaum das halbe normale Geburtsgewicht, und manche werden einfach irgendwo gefunden, wo sie ihre Mutter nach der Geburt liegengelassen hat. Mitzuerleben, wie diese Kinder nun spielten, lachten, weinten, aktiv die Welt erforschten, mit offenen Händen und völlig entspannt ihren Mittagsschlaf hielten – und das in einem Säuglingsheim –, war zutiefst berührend.

So ist es vielleicht auch nicht so erstaunlich, daß diese Kinder als Jugendliche und Erwachsene nicht die Auffälligkeiten zeigen, die sonst bei in Heimen aufgewachsenen Kindern als unvermeidlich gelten. Trotzdem sei das Lóczy kein Paradies, wie Anna Tardos uns versicherte. Das Schicksal dieser Kinder sei trotz allem sehr schwer, auch wenn das gesamte Personal alles täte, sie möglichst optimal ins Leben zu begleiten.

Natürlich lassen sich die Erfahrungen in einem Säuglingsheim nicht ohne weiteres auf das Familienleben übertragen, aber die Arbeit von Emmi Pikler begann in der Familie, und viele Aspekte dieses Ansatzes können auch für Eltern sehr wertvoll sein. Anna Tardos wurde als Tochter von Emmi Pikler in dieser Art des Umgangs mit Kindern groß. Sie ist Kinderpsychologin, hat selber drei Kinder und verbrachte ihr ganzes Berufsleben im Lóczy. Dies ist auch der Grund, warum sie Eltern diese Arbeit auf besonders einfühlsame und undogmatische Weise näherbringen kann. Wir sind immer wieder von Neuem erstaunt über die Tiefe und Menschlichkeit ihrer Sicht und ihres Umgangs mit Eltern, und so wird auch in dieses Buch einiges einfließen, was ich aus dem Kontakt mit Anna Tardos gelernt habe.

Einige Jahre später wurde unser Sohn geboren, und damit begann nun eine völlig neue Zeit des Lernens. Ich hatte das Gefühl, besser als wir könne man eigentlich kaum auf das Elternsein vorbereitet sein. Natürlich erwartete ich nicht, daß alles leicht und ohne Schwierigkeiten ablaufen würde – aber daß unser Sohn immer wieder eine solche Herausforderung sein könnte, damit hatten wir dann doch nicht gerechnet. Schon bevor ich selbst Vater wurde, hatte ich werdende Eltern in Vorträgen oder Seminaren manchmal gewarnt, daß kleine Kinder nicht wissen, welche Erwartungen und Vorstellungen über sie und ihre Entwicklung wir mitbringen und sich so vielleicht ganz anders verhalten, als wir uns das nach der Lektüre eines Buches oder dem Besuch eines Seminars erwarten würden. Kinder sind einfach, wie sie sind, und es ist ihnen vollkommen egal, welche Konzepte wir in diese Beziehung mitbringen. Sie fordern uns und unsere Präsenz voll und ganz – und diese Erfahrung blieb auch uns nicht erspart.

Schon bald mußten wir feststellen, daß es alles andere als leicht war, das zu leben, was wir aus tiefster Überzeugung als richtig und wichtig ansahen. Wir mußten einsehen, daß auch wir manchmal einfach nicht mehr wollten und uns alles zuviel war, daß wir uns ohnmächtig, unsicher oder genervt fühlten. Vor kurzem fragte mich mal eine Bekannte, was sich meiner Meinung nach in meiner Arbeit mit Eltern vor allem geändert habe, seit ich selbst Vater sei. Nach kurzem Überlegen sagte ich: „Mein Mitgefühl für Eltern.“ Vorher sah ich die ganze Thematik vor allem aus der Sicht des Kindes, und die Schwierigkeiten der Eltern erschienen mir im Vergleich dazu oft einfach als Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit.

Was mir in dieser Phase besonders half, war die Praxis der Achtsamkeit und die Essentielle Gestalt-Arbeit bei Katharina Martin, für deren Geduld, Mitgefühl und liebevolle Begleitung ich sehr dankbar bin. Vor allem hier konnte ich die Persönlichkeitsanteile von mir unter die Lupe nehmen, die tatsächlich nicht die geringste Lust hatten, zurückzustecken und die Bedürfnisse unseres Sohnes an erste Stelle zu setzen. Durch diese innere Arbeit war es möglich, daß meine „Augen des Herzens“ sich immer wieder öffneten, daß ich Wege fand, mir die innere Nahrung zu verschaffen, die notwendig ist, um einen solchen Weg mit Kindern zu gehen, und Werkzeuge an die Hand bekam, die mir immer wieder helfen, unseren Sohn und seine Bedürfnisse wirklich zu sehen.

Der perfekte Vater bin ich deshalb nicht geworden. Auch ich verliere manchmal die Geduld, strahle nicht ständig Liebe und Verständnis aus und weiß nicht immer, wo es langgeht. Auch ich habe Schwächen und Fehler, bin manchmal genervt oder ungerecht. Es gab Zeiten, in denen wir dachten, wir müßten den Verein eigentlich umbennen in „Mit Kindern wachsen oder untergehen“ und mir ist endgültig klargeworden: Egal, wie gut vorbereitet wir sind – Kinder werden uns immer wieder an unsere eigenen Grenzen bringen!

Wir sind stark geprägt von unserer eigenen Erziehung und Kindheit, und vor allem unter Streß tendieren diese alten Muster dazu, unseren inneren Zustand und unser Handeln zu bestimmen. So kommt es, daß wir manchmal Dinge sagen oder tun, von denen wir uns vorgenommen hatten, sie mit unseren eigenen Kindern sicher niemals zu machen. Und gerade hier können die Praxis der Achtsamkeit und die Essentielle Gestalt-Arbeit, wie sie von Katharina Martin entwickelt wurde, eine unschätzbare Hilfe sein, diese alten Muster zu überwinden, alte Verletzungen zu heilen und so nicht nur eine wirklich menschliche Beziehung zu unseren Kindern zu entwickeln, sondern auch selbst wieder ganz zu werden und zu einem erfüllten Leben zu finden.

Für mich persönlich bedeutete dies, daß mein Interesse für neue Wege im Leben mit Kindern und für Wege der Entfaltung von uns Erwachsenen in einen neuen Gesamtzusammenhang zusammenflossen. Das Erscheinen des Buches Mit Kindern wachsen von Myla und Jon Kabat-Zinn und ihr Besuch in Deutschland 1998 waren ein weiterer wesentlicher Schritt in diesem Prozeß. Ihr Beitrag zu einem achtsamen und liebevollen Umgang mit Kindern ist von großem Wert, und auch die Begegnung mit diesen beiden Menschen war für uns, unser Leben und unsere Arbeit von weitreichender Bedeutung.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner eigenen Reise bis zu diesem Punkt. Es stellt vieles in Frage, was üblicherweise über Erziehung gedacht und geschrieben wird und weist mit Sicherheit keinen bequemen Weg. Es kann und will niemandem sagen, wie er oder sie mit Kindern umgehen sollte – aber es möchte Fragen aufwerfen und zum Nachdenken anregen. Meine größte Hoffnung ist, daß es einen Beitrag dazu leisten kann, Kindern auf wahrhaft menschliche Weise zu begegnen und mit ihnen gemeinsam zu wachsen.

Einige Worte zu den Reflexionen, inneren Übungen und Geschichten

In dieses Buch habe ich auch einige Reflexionen beziehungsweise innere Übungen aus der Gestalt-Arbeit aufgenommen. Sie stehen – wie die Geschichten – jeweils am Ende eines Kapitels. Sie dienen dazu, das jeweils Gelesene zu vertiefen und Ihren Blick auf Ihre eigene Erfahrung zu lenken. Dabei gibt es kein vorherbestimmtes Ziel. Es gibt nichts Bestimmtes zu erreichen, es werden keine Noten verteilt, und es geht auch nicht darum, etwas richtig zu machen. Die Übungen können ein äußerst hilfreicher Wegbegleiter sein, wenn Sie sich ihnen einfach mit Interesse und offenen Sinnen zuwenden und sich in keiner Weise unter Leistungsdruck setzen oder sich bewerten. Fühlen Sie sich aber bitte nicht verpflichtet, alle Übungen zu machen. Wählen Sie aus, was Sie anspricht, und lassen Sie weg, was Ihnen nicht zusagt. Wenn Sie unsicher werden, erinnern Sie sich daran, daß es in diesen Übungen nichts zu leisten oder zu erreichen gibt, sondern nur etwas zu entdecken.

Am meisten werden Sie von diesen Reflexionen und Übungen profitieren, wenn Sie sich immer mal wieder ein wenig Zeit nehmen, sich auf Ihre eigene Erfahrung oder auf Ihre Kinder zu besinnen. Mit der Zeit können sie so ein wertvolles Werkzeug werden, Ihren eigenen Weg im Leben mit Ihren Kindern zu finden.

Die Reflexionen dienen dem Zweck, einige spezielle Themen näher zu beleuchten. Sie sind für das Verständnis des Buches nicht unbedingt erforderlich und können so auch ausgelassen werden. Da diese Themen aber trotz ihrer Komplexität auch faszinierende Erkenntnisse ermöglichen können, sind sie für diejenigen Leserinnen oder Leser aufgenommen worden, die sich von dem jeweiligen Thema besonders angesprochen fühlen.

Mit den Geschichten wiederum möchte ich auf Aspekte des Lebens mit Kindern aufmerksam machen, die in dieser Form besonders anschaulich dargestellt werden können. Geschichten waren schon immer ein beliebter Weg, bestimmte Botschaften zu vermitteln. Sie sprechen auch unsere Gefühle an und können uns so ermutigen und inspirieren, Kinder und ihre Welt auf eine neue Weise wahrzunehmen.

Mit Kindern neue Wege gehen

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