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Schön, daß es dich gibt

Von einem Stamm in Afrika wird die folgende Geschichte erzählt:

Wenn eine Frau den Wunsch in sich verspürte, einem Kind das Leben zu schenken, ging sie alleine in den Wald und wartete in der Stille lauschend auf das Lied des Kindes, das zu ihr kommen wollte.

Wenn sie das Lied schließlich hören konnte, summte sie es viele Male vor sich hin und ging dann zu dem zukünftigen Vater, um es ihn zu lehren und es mit ihm gemeinsam zu singen.

Während das Kind in Liebe gezeugt wurde, trugen die zukünftigen Eltern das Lied in ihrem Herzen, und später, während seiner Geburt, wurde es von allen gesungen, die dieser beiwohnten.

Immer wenn es Kummer hatte oder ihm ein Leid widerfuhr, wurde sein Lied gesungen – und auch bei allen wichtigen Anlässen, auf seinem Weg durch die Welt.

Das Lied begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Und wenn ein Mensch schließlich im Sterben lag, wurde sein Lied wiederum gesungen, so daß es ihn auch auf seinem Weg aus der Welt begleitete.

Diese Geschichte hörte ich von dem bekannten buddhistischen Meditationslehrer Jack Kornfield. Ich finde, daß sie von einem geradezu unglaublichen Einfühlungsvermögen zeugt. Auch wenn wir eine solche Tiefe wahrscheinlich kaum erreichen können, kann uns diese Geschichte doch inspirieren, uns auf unsere Kinder einzustimmen und uns immer wieder zu fragen, wer sie in ihrem innersten Wesen wirklich sind. Sie steht für eine innere Haltung der bedingungslosen Liebe, die ein Kind nicht deshalb schätzt, weil es unseren Erwartungen entspricht oder weil wir etwas von ihm zurückbekommen, sondern einfach nur, weil es da ist. Ich bin überzeugt, daß die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, für alle Menschen ein grundlegendes Bedürfnis ist, das allerdings nur selten befriedigt wird. Bei vielen Menschen hat sich zum Beispiel das Gefühl festgesetzt, daß sie etwas Bestimmtes leisten oder darstellen müssen, um liebenswert zu sein. So entsteht ein ungeheurer Leistungsdruck, dessen Auswirkungen nicht nur unser Leben als Eltern, sondern alle Bereiche unseres Daseins stark beeinflussen. Gleichzeitig besteht das Gefühl, diesen Erwartungen nie gerecht werden zu können, was den inneren Druck noch erhöht. Unsere eigenen Kindheitserfahrungen haben häufig dazu geführt, daß wir glauben, uns die Liebe unserer Mitmenschen verdienen zu müssen. Eine Prägung, die ungeheure Auswirkungen auf unser Innenleben hat.

Vielleicht stellen Sie sich selbst einmal die Frage: „Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die absolute Gewißheit hätte, daß ich in meinem Wesen wahrgenommen und bedingungslos geliebt werde – so wie ich bin, ohne Wenn und Aber?“

Wird dieses Bedürfnis erfüllt, hat das Kind die innere Sicherheit, daß das Leben es trägt. Die Annahme und Liebe der Eltern ist somit die wichtigste Bedingung dafür, daß ein Kind sein inneres Potential entfalten kann. Denn die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist nicht nur die Basis für unsere emotionale Ausgeglichenheit, sondern auch für die Entwicklung unserer Kreativität, Intelligenz und Fähigkeit, auf neue und unerwartete Situationen angemessen zu antworten. (Ich vermeide hier bewußt das Wort „reagieren“, da es meist eher auf eine automatische, gewohnheitsmäßige Reaktion und nicht auf eine adäquate „Antwort“ auf eine gegebene Situation hinweist.) Alle Untersuchungen aus der Entwicklungs- und Gehirnforschung haben ohne jeden Zweifel gezeigt, daß Lernen und echte Entwicklung vor allem in einem Zustand möglich sind, der von innerer Entspannung und Geborgenheit geprägt ist. Jede Art von Angst, innerer Anspannung oder Unsicherheit verhindert die Möglichkeit, der Welt mit offenen Sinnen zu begegnen und führt durch die Ausschüttung von Streßhormonen zu einer eingeschränkten Wahrnehmungsund Lernfähigkeit. Von daher ist die innere Sicherheit, die aus dem Gefühl erwächst, daß wir ohne Bedingungen so angenommen und geliebt werden, wie wir sind, die wichtigste und unerläßliche Voraussetzung für die volle Entfaltung des Menschen.

Das heißt natürlich nicht, daß wir alles gutheißen müssen, was ein Kind tut, oder ständig mit einem lächelnden Gesicht herumlaufen sollten – vielmehr geht es darum, daß das Kind spürt, daß es eine Quelle der Freude für seine Eltern ist und keine Last.

Wenn sich in einer Familie oder bei einem Paar ein Kind anmeldet, ist diese Nachricht so gut wie immer von starken Gefühlen begleitet. Egal ob schon ein oder mehrere Kinder da sind oder ob es das erste ist – immer bedeutet es einen großen Einschnitt im Leben der werdenden Eltern. Neben den verschiedensten Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln stellt sich häufig auch eine außergewöhnliche Freude, ja vielleicht sogar ein tiefes Glücksgefühl ein. Manche Psychologen sprechen dabei etwas abfällig von den „verliebten Müttern“. Tatsächlich handelt es sich um eine spontane innere Öffnung und ein herzliches Willkommen, das es dem Kind erleichtert, in der neuen Situation wirklich anzukommen.

Nehmen die werdenden Väter am Prozeß der Schwangerschaft und der Geburt aktiv teil, bringt sie dies häufig mit Teilen von sich in Verbindung, von denen sie vorher vielleicht gar nicht geahnt hatten, daß sie in ihnen sind. Eine weiche Stelle in ihrem Inneren wird berührt, die eine tiefe Liebe, Feinfühligkeit und Fürsorge an den Tag bringt. Auch wenn diese plötzliche Sensibilität manchmal zu Unsicherheiten oder einer ungewohnten Schüchternheit führen kann, ist diese Zeit auch für viele Männer eine besondere Gelegenheit, mit tieferen Aspekten von sich selbst in Berührung zu kommen.

Schließlich ist das Kind da, und neben der Freude schleicht sich früher oder später auch die Frage in den Eltern ein, ob sie dieser Aufgabe wirklich gewachsen sind.

Alles mögliche muß geregelt und organisiert werden, und mit der Zeit kann es sein, daß wir den Kontakt zu unserer Freude und Liebe wieder verlieren. Streß, Müdigkeit, vielleicht sogar Depressionen können auftreten, und manchmal wird das Kind, das vorher Anlaß zu Freude und tiefem Glück war, langsam, aber sicher zu einer Last. Dies wiederum teilt sich den Kindern mit, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, und beeinflußt in starkem Maße ihr Selbstwertgefühl.

Die innere Freude über das neue Leben ist eine Quelle, aus der Eltern immer wieder schöpfen können. Gleichzeitig ist das Leuchten in den Augen der Mutter eine wirkliche innere Nahrung für das Kind. Es spürt und sieht, daß es willkommen ist. Auch hier können Sie sich wieder fragen: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die innere Gewißheit hätte, daß ich willkommen bin – daß ich eine Quelle der Freude bin für meine Eltern?

Reflexionen oder Besinnungsübungen wie die am Ende dieses Kapitels können eine wertvolle Hilfe sein, uns daran zu erinnern, daß diese innere Freude nicht von der Macht des Alltags überdeckt wird. Und das ist fast unvermeidlich, wenn wir nicht aktiv daran arbeiten, sie lebendig zu erhalten und immer wieder zu nähren. Als Jugendlicher ist mir durch einige Begebenheiten aufgefallen, daß manche Eltern erst dann wieder mit ihrer Liebe zu ihren Kindern in Kontakt kommen, wenn diese in Lebensgefahr schweben. So geriet ein Mädchen, dessen Eltern immer sehr auf ihre sportlichen Leistungen bedacht waren, nach einer kleineren Sportverletzung in Lebensgefahr, weil die Narkoseärzte eine Unverträglichkeit nicht beachtet hatten. Plötzlich spürten sie wieder, wie wichtig ihnen das Kind war, um dessen Leben sie bangten. Vorher lief das Mädchen lange mehr oder weniger nebenher. Sie wurde nicht wirklich gesehen, ihren wahren Gefühlen wurde kaum Beachtung geschenkt. Man machte sich Sorgen um ihre Leistungen, ermahnte oder ermutigte sie und wendete sich ihr auch sonst vor allem in der Hinsicht zu, wie gut oder schlecht sie den Anforderungen der Schule oder den anderen Erwartungen der Eltern genügte.

Wir müssen nicht auf solche Extremsituationen warten, damit wir wieder mit unserer Liebe zu unseren Kindern in Kontakt kommen. Wir können uns erinnern und unsere Kinder spüren lassen, daß sie willkommen sind. Denn es reicht nicht aus, daß wir unsere Kinder lieben – sie müssen diese Liebe auch spüren! Ich bin mir sicher, daß die allermeisten Eltern ihre Kinder lieben – nur fällt es vielen schwer, diese Liebe zu leben und in ihrer Beziehung zu ihren Kindern zu verwirklichen.

ÜbungFreude

Geben Sie sich für Besinnungsübungen wie diese ein wenig Raum und sorgen Sie dafür, daß Sie möglichst ungestört sind. Lassen Sie sich zunächst einmal ein paar Minuten Zeit, um bei sich anzukommen. Wenn Sie sich noch mit Dingen aus Ihrem Alltag beschäftigen oder von ihnen bedrängt werden, stellen Sie diese wie in der Achtsamkeitsübung (siehe Seite 200) für eine Weile zurück.

Wenn Sie sich bereit fühlen zu beginnen, stellen Sie sich auf Ihr Kind oder eines Ihrer Kinder ein und versuchen Sie eine Situation vor Ihrem inneren Auge oder Ihrem inneren Gefühl auftauchen zu lassen, als Sie in Verbindung mit diesem Kind Freude erlebt haben. Erzwingen Sie nichts. Stellen Sie sich einfach darauf ein, daß Erinnerungen auftauchen können. Vielleicht hilft Ihnen das Bild einer Antenne, die empfangsbereit ist, aber nicht aktiv Ausschau hält. Wenn zunächst nichts auftaucht, ist das vollkommen in Ordnung. Machen Sie sich keinen Druck. Nehmen Sie einfach wahr, was von allein kommt, ohne es zu bewerten. Es kann eine Situation sein, wo Sie etwas gemeinsam mit dem Kind getan haben, was Ihnen beiden Freude bereitet hat – es kann aber auch eine Situation sein, in der Sie das Kind bei etwas beobachtet haben, was Sie gefreut hat.

Wenn ein solcher Moment auftaucht, lassen Sie sich Zeit, daß die Situation in Ihnen lebendig werden kann, geben Sie der Freude Raum und lassen sie sich in Ihrem ganzen Körper ausbreiten, ohne etwas zu forcieren.

Wenn Sie durch eine solche Besinnungsübung Zugang zu dieser Freude bekommen, nehmen Sie sich regelmäßig ein paar Minuten Zeit, in der Sie sonst nichts erledigen oder tun, und versuchen Sie sich an diese Freude zu erinnern. Wenn Ihr Kind noch klein ist und Sie vielleicht sogar noch stillen, nutzen Sie diese Zeit, um diese Freude in sich aufzuspüren, sie zuzulassen und ihr Raum zu geben.

Eine gute Gelegenheit, sich innerlich wieder mit einem Kind zu verbinden, ist, wenn es schläft. Es stellt nun keine Anforderungen mehr an uns, wir können unsere Anspannung loslassen und es einfach ansehen. Wenn wir in dieser Weise mit unserem schlafenden Kind Kontakt aufnehmen, fällt es uns vielleicht leichter, unsere Liebe zu erneuern und unsere innere Verbindung zu nähren.

Das Erleben von gemeinsamer Freude spielt auch in dem Ansatz von Emmi Pikler eine wesentliche Rolle. Beim Wickeln, Füttern, Baden – bei allem, was wir mit dem Kind tun, ist es möglich, Raum für gemeinsame Freude zu schaffen, was nicht nur für das Kind, sondern auch für uns ein ganz anderes Lebensgefühl mit sich bringt.

Mit Kindern neue Wege gehen

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