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Auf dem Weg zu einer neuen Beziehungsqualität

Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das zweite, was er tut, und das dritte erst, was er redet.

ROMANO GUARDINI

Der Grad, in dem ich Beziehungen eingehen kann, die die Entfaltung anderer als eigenständige Menschen fördern, entspricht dem Maß der Entfaltung, die ich in mir selbst erreicht habe.

CARL ROGERS

Kinder entwickeln sich nicht so sehr durch das, was man ihnen sagt oder zu erklären versucht, sondern durch ihre konkreten Erlebnisse in der Umgebung, in die sie geboren wurden. Wie ist die Atmosphäre, die sie atmen – die sie umgibt? Sind die Erwachsenen vor allem geprägt von Unruhe, Ungeduld und Unachtsamkeit, oder strahlen sie überwiegend Ruhe, Mitgefühl und Einfühlsamkeit aus? Ist die Umgebung eher unberechenbar, und wird das Kind wie ein Objekt behandelt, als ob es nicht empfinden könnte, was mit ihm geschieht? Oder fühlt es sich willkommen geheißen und respektiert? Fühlt es sich angenommen und geliebt, ohne etwas dafür tun oder leisten zu müssen – nur weil es da ist? Ist es eine Freude für die Eltern und keine Last? Und vor allem: Sind seine Eltern wirklich für es da? Sind sie wirklich anwesend für ihr Kind, und fühlt es sich von ihnen gesehen und verstanden?

Die Art und Weise, wie wir sind – unsere eigene innere Wirklichkeit –, bildet den Nährboden, auf dem das Kind mehr oder weniger gut wachsen kann. Diese Tatsache kann gar nicht genug betont werden, denn nicht nur sind wir und unser Verhalten ein Modell für das spätere Leben des Kindes – unser innerer Zustand von Moment zu Moment und die Art und Weise, wie wir mit unserem Kind in Kontakt treten, ist auch von wesentlicher Bedeutung für seine harmonische Entfaltung – denn wir Erwachsenen sind der prägende und bedeutungsvollste Einfluß in der Umgebung des Kindes. Die Qualität unserer Beziehung und die Art und Weise, wie wir unsere Kinder sehen, ist der wesentlichste Faktor für ihre Entwicklung. Dies ist auch der Grund, warum die Entwicklung von Achtsamkeit und Gewahrsein so wertvoll und hilfreich ist. Denn wenn wir unsere Kinder wirklich so wahrnehmen möchten, wie sie sind, und nicht automatisch, gewohnheitsmäßig und unbewußt auf sie reagieren und so den Kontakt zu ihnen und ihrer inneren Wirklichkeit verlieren wollen, ist es unerläßlich, unsere Aufmerksamkeit auch nach innen, auf uns selbst und unsere eigene innere Wirklichkeit zu richten.

So ist es zum Beispiel außerordentlich hilfreich, wenn wir uns bewußt machen, wie unsere Einstellung einem Kind gegenüber aussieht. Bei einer Forschung mit Lehrern wurden diese jeweils auf eine neue Schulklasse vorbereitet, in der sie unterrichten sollten. In diesem Zusammenhang beschrieb man ihnen auch die einzelnen Schüler – welche intelligent, welche schwach waren und so weiter. Was die Sache nun interessant macht, ist, daß diese Stärken und Schwächen dabei vollkommen willkürlich zugeteilt wurden. Anderen Lehrern derselben Klasse wurden ganz andere Schüler als schwach oder begabt geschildert. Das Ergebnis dieser Untersuchung war selbst für die Forscher in seiner Eindeutigkeit verblüffend. Dieselben Schüler brachten bei verschiedenen Lehrern vollkommen unterschiedliche Leistungen: Bei den Lehrern, denen sie als begabt geschildert wurden, entwickelten sie sich gut, dort, wo sie als schwache oder schwierige Schüler beschrieben wurden, entwickelten sie sich langsam oder wurden sogar tatsächlich schwierig.

Dieses Forschungsergebnis machte deutlich, wie stark die Entwicklung der Schüler von dem Bild abhängt, das die Lehrer von ihnen haben. Um wieviel wichtiger für das Selbstbild und das Selbstwertgefühl eines Kindes ist die Art und Weise, wie es von seinen Eltern gesehen wird! Wir werden später noch ausführlicher auf dieses Thema zu sprechen kommen – aber so viel sei an dieser Stelle schon gesagt: Unser innerer Zustand und die Art und Weise, wie wir Kindern begegnen, prägt sie in einem Maße, wie wir es uns kaum vorstellen können.

Es geht nicht darum, daß wir alles richtig machen müßten oder keine Fehler machen dürften. Vielmehr können wir daran arbeiten, eine innere Haltung zu entwickeln, die von Liebe, Achtsamkeit und Respekt geprägt ist. Wenn wir versuchen, in jedem Kind das Gute zu sehen, herauszufinden, wer das Kind wirklich in seinem Wesen ist, so geben wir diesem inneren Wesen die Nahrung, die es braucht, um sich zu entfalten. Wenn wir sie jedoch als schwierig, minderbemittelt, inkompetent oder in einer anderen Weise als minderwertig ansehen, so werden sie in ihrem Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt und ihr eigentliches Potential, wenn überhaupt, nur sehr viel schwerer entfalten können.

Das heißt wiederum nicht, daß wir wegschauen, wenn Kinder etwas tun, was nicht angemessen ist. Wie wir noch sehen werden, ist es manchmal durchaus nötig, klare Grenzen zu setzen – aber auch dann nicht als Selbstverteidigung, mit einer inneren Haltung der Ablehnung und Bewertung, sondern mitfühlend und doch fest.

Aber Kinder werden nicht nur durch die Art und Weise geprägt, wie wir sie sehen. Eine ebenso große Rolle spielt es, wie wir selbst unser alltägliches Leben leben und wie wir mit anderen Menschen und Dingen umgehen. In allem, was wir tun, fühlen und denken, sind wir für unsere Kinder ein Modell – ob wir dies wollen oder nicht. Wir können dies in unserem täglichen Umgang mit Kindern unschwer erkennen. Sobald wir in Streß geraten oder uns ohnmächtig fühlen, neigen wir dazu, in Verhaltensmuster zu verfallen, die wir nicht frei gewählt haben. Manchen Eltern erscheint es dann, als würde ihre Mutter oder ihr Vater plötzlich durch sie sprechen oder handeln. Die Art und Weise, wie wir erzogen wurden, hat uns tief geprägt, und vor allem in schwierigen Momenten greifen wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, auf solche alten Prägungen zurück. Genauso unbewußt übernehmen wir alle möglichen Ansichten über das Leben und die Welt, die unser Verhalten als Erwachsene in hohem Maße beeinflussen. Nur wenn wir uns dieser Prägungen bewußt werden, können wir sie auflösen und durch eigene Werte ersetzen.

In der Gestalt-Arbeit werden diese verinnerlichten Prägungen „Introjektionen“ genannt. Fritz Perls, einer der Begründer der Gestalt-Therapie, sprach davon, daß es darum ginge, sich dieser Introjektionen bewußt zu werden und sie dann, ähnlich wie Nahrung, richtig zu kauen. So können wir das assimilieren, was wir integrieren können, während wir uns von dem trennen, was wir nur geschluckt haben, aber nicht verdauen können oder wollen.

Es geht also um eine Form der Bewußtseinsarbeit, und es hilft natürlich überhaupt nichts, wenn wir uns den Anschein eines guten Modells geben und alle inneren und äußeren Konflikte zu verbergen versuchen. Unser innerer Zustand wirkt in jedem Fall, und so ist die innere Arbeit an sich selbst unerläßlich, wenn wir mit Kindern neue Wege gehen wollen. Voraussetzung für diese innere Arbeit ist, daß wir lernen, uns selbst so anzunehmen, wie wir sind – mit all unseren Fehlern und Schwächen. Ansonsten endet die innere Arbeit in einer Art Selbstmanipulation und Selbstkonditionierung. Auch die Arbeit an uns selbst muß von Liebe und Mitgefühl getragen sein, wenn sie zu einer wirklichen Veränderung führen soll – und auch das braucht seine Zeit. Echte Entfaltung ist ein langsamer, organischer Prozeß. Wir brauchen ebenso Zeit, bis der Same eines neuen Verständnisses im Leben mit Kindern auch in unserem Alltag zu wachsen und Früchte zu tragen beginnt. Ein befreundeter Meditationslehrer drückte es so aus: „Was wir für diese Arbeit brauchen, sind drei Dinge: Eine Tasse voll Wissen, ein Faß voll Liebe und einen Ozean voll Geduld.“

ÜbungDas Bild, das wir uns von einem Kind machen

Nehmen Sie sich wieder ein wenig Zeit und sorgen Sie dafür, daß Sie für eine Weile möglichst ungestört sind. Stellen Sie für die Zeit der Übung wieder alles beiseite, was Sie im Moment gerade beschäftigt, und lassen Sie sich ein paar Minuten Raum, um erst einmal bei sich anzukommen.

Wenn Sie bereit sind, stellen Sie sich auf Ihr Kind oder eines Ihrer Kinder ein. Schreiben sie alles auf, was Ihnen zu diesem Kind einfällt, ohne lange zu überlegen oder zu bewerten, einfach, was Ihnen kommt. Die Schwangerschaft, seine Geburt, das Leben mit ihm bis zu diesem Punkt.

Was haben Sie für ein Bild von dem Kind? Welche Eigenschaften mögen Sie, womit haben Sie Schwierigkeiten? Schreiben Sie einfach alles auf, auch wenn es Ihnen überflüssig vorkommt oder peinlich ist – Sie brauchen es ja niemandem zu zeigen.

Welche Erwartungen haben Sie an das Kind? Wo entspricht es vielleicht nicht Ihren Erwartungen? Schreiben Sie alle „Wenn-Nurs“ in bezug auf dieses Kind auf, die Ihnen einfallen: „Wenn es nur ordentlicher wäre, dann wäre alles gut“ – „Wenn es nur besser schlafen würde …“ – „Wenn es nur mehr auf mich hören würde …“

Diese „Wenn-Nurs“ können uns leicht in die Irre führen, wenn wir zulassen, daß sie unser Leben bestimmen. Es kann sehr hilfreich sein, sich ihrer bewußt zu werden, damit sie nicht unterschwellig unser Verhalten bestimmen. Glauben wir ihnen, nehmen wir uns, unsere Kinder und unser Leben nie so an, wie es ist – nichts wird uns genügen, und wir werden nicht wirklich mit uns und anderen in Kontakt kommen.

Wird Ihnen das Bild, das Sie sich von Ihrem Kind machen, deutlicher bewußt, versuchen Sie es ganz neu kennenzulernen: Was nehme ich jetzt, hier und heute von ihm wahr – nicht wie Sie denken, daß es sein sollte. Was mag mein Kind gern, was interessiert es, wo ist es besonders lebendig und mit Herz und Seele dabei, was ißt es gern, was zieht es gern an, was gefällt ihm in der Welt, wo erlebt es Freude, wann ist es ausgeglichen? Welcher Ton paßt zu ihm, welche Melodie, welche Farbe, welche Blumen, welches Tier, welche Worte …?

Erzwingen Sie nichts – lassen Sie sich einfach Raum und warten Sie ab, ob Ihnen etwas einfällt. Versuchen Sie, Ihr Kind wie ein wohlgesinnter, liebevoller Außenstehender zu sehen, der sich für diesen Menschen interessiert. Versuchen Sie, ob Sie einige Punkte erkennen können, in denen sich das Bild, daß Sie von Ihrem Kind haben, von dem unterscheidet, was Sie so von ihm wahrnehmen.

Mit Kindern neue Wege gehen

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