Читать книгу Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja - Liliana Kern - Страница 5
1. Kapitel Ein Mädchen aus gutem Hause
ОглавлениеNiemand konnte ahnen, dass es so weit kommen würde. Niemand! Denn es waren glückliche Zeiten, sehr glückliche sogar, und die ganze Welt schien in Ordnung zu sein. Damals, als Graf Lew Perowski noch beim Zollamt beschäftigt war und mit Frau sowie vier Kindern in der Gorochowaja-Straße, im Herzen von Sankt Petersburg, wohnte. Damals, als sich die Perowskis von anderen Familien in keinerlei Weise unterschieden, als sie sich noch an den typischen, streng ritualisierten Lebensstil des russischen Beamtentums hielten, wo ein Tag dem anderen ähnelte, wie Perlen an einer Kette: Der Graf ging seiner Arbeit nach, Ehefrau Warwara sorgte für den Haushalt und die Kindererziehung, die Mahlzeiten fanden immer im ganzen Familienkreis und zur gleichen Uhrzeit statt, abends stattete man Besuche ab oder empfing Gäste, wobei die Männer Karten spielend über Politik diskutierten, während die Frauen Klatschgeschichten austauschten oder über familiäre Angelegenheiten plauderten. Die Sommer verbrachten die Perowskis irgendwo auf dem Lande, in einem gemieteten Ferienhaus, wo sie dann auch bis zu den ersten Schneeflocken blieben.
Aber der Graf war ein ehrgeiziger Mann und hegte den Wunsch, auf der Karriereleiter weiter nach oben zu klettern. Seine hiesige Stellung betrachtete er lediglich als eine vorübergehende Lösung auf der Suche nach gehobeneren Posten. Da Perowski gerade nach Sofjas Geburt – sie erblickte am 1. September 1853 das Licht der Welt – so intensiv um den Berufswechsel bemüht war, dürfte neben dem Streben nach sozialem Aufstieg auch die finanzielle Enge eine gewisse Rolle gespielt haben. Seit kurzem besuchte sein achtjähriger Sohn Nikolaj ein nobles Internat, wofür Perowski natürlich tief in die Tasche greifen musste, und bald sogar noch tiefer, weil der vier Jahre alte Wassili in die Fußstapfen seines Bruders treten sollte. Dazu kamen noch die Honorare der Hauslehrer, welche die sechsjährige Marja unterrichteten, und jetzt war auch Sofja da. Obendrein gehörte der sparsame Umgang mit Geld nicht unbedingt zu den Stärken des Grafen.
Dass sein Anliegen nicht lange auf sich warten ließ, hatte Perowski der Hilfe zweier seiner Onkel väterlicherseits zu verdanken. Der eine von ihnen, Wassili, war Generalgouverneur von Orenburg und jener mit Ruhm bedeckte Feldherr, der die Grenzen des russischen Imperiums um die weiten Gebiete Mittelasiens erweitert hatte. Der andere, Boris, der ehemalige Erzieher von zwei Söhnen Alexanders II., befand sich zwar im Ruhestand, lebte aber weiterhin in Zarskoje Selo, in der unweit von Petersburg liegenden Sommerresidenz der Zarenfamilie, und unterhielt somit immer noch enge Kontakte zu den höchsten Hofkreisen. Die guten Worte, welche die einflussreichen Verwandten für ihren Neffen einlegten, verhalfen diesem zum Amt des Vizegouverneurs von Pskow, einer kleinen, südlich von Petersburg liegenden Stadt.
Sofja war drei Jahre alt, als die Perowskis das beste, im alten rustikalen russischen Stil errichtete Holzhaus im Ort bezogen. Es besaß ein Zwischengeschoss, und seine Giebel, Fenster und Verandabrüstung zierten dekorative Ornamente. Im weitläufigen, zur Hälfte mit Obstbäumen bepflanzten Garten gab es einen Teich voller Karauschen, nebenan stand ein Holzturm und wuchs ein uralter, schiefer, zum Klettern wie geschaffener Kastanienbaum. Als man dann auf dem Rasen auch noch Schaukeln und Wippen aufstellte, verwandelte er sich in ein echtes Spielparadies.
Wenn die Kinder nicht draußen tobten, waren sie um den Hauslehrer Wassilew versammelt. Er erteilte ihnen Unterricht in allen Fächern, ausgenommen davon waren lediglich Fremdsprachen: Denn Deutsch lernten sie von Amalia Karlowna, ihrer betagten deutschen Gouvernante, Französisch von der Mutter, welche ihnen ebenso beibrachte, wie man auf den Knien vor den Ikonen betete, bevor man zu Bett ging.
Mit dem kleinen Nachbarn, Nikolaj Murawew, der ein paar Jahre älter als Sofja war, freundeten sich die Kinder sehr schnell an und spielten tagtäglich zusammen. Sie retteten ihm sogar das Leben, als er einmal in den Teich fiel und beinahe ertrank. Seit dem Tod seiner Mutter – sie starb bei der Geburt des Jungen – lebte er allein mit seinem Vater Walerian, dem Pskower Generalgouverneur und dem Vorgesetzten des Grafen. Sofja hätte damals nicht ahnen können, dass ausgerechnet er, ihr ständiger Spielkamerad, etwa zwei Jahrzehnte später als Staatsanwalt im Prozess um den Zarenmord Anklage gegen sie erheben und sie vor Gericht bringen würde.
Der neue Dienst nahm den Grafen voll und ganz in Beschlag, so ließ er sich nur zur Mittagszeit im Familienkreis blicken. »Als Sonja1 etwa fünf Jahre alt war, kriegte sie ihren Stammplatz am Essenstisch«, schreibt Wassili Perowski, Sofjas Bruder, in seinen Memoiren. »Wenn der Vater gut gelaunt von der Arbeit zurückkehrte, pflegte er uns zu amüsieren. Er stellte Sonja tiefsinnige philosophische Fragen, die sie mit naiven, ja kindlichen Antworten erwiderte und dabei todernst blieb, während wir Tränen lachten. Überhaupt verhielt sich der Vater uns gegenüber sehr gut.« An den seltenen Abenden, die er zu Hause verbrachte, frönte Perowski mit seinen Freunden dem Kartenspiel bis tief in die Nacht, besonders gerne mochte er das Pikett.
»Noch an eine Episode aus unserem Leben in Pskow erinnere ich mich bis heute«, fährt Wassili Perowski fort. »Zu dieser Zeit wurden Räume mit Schmalzkerzen beleuchtet. Beim Kartenspielen lag neben den Spielern, auf dem Einsatztisch, eine kleine silberne Zange zur Entfernung von angebrannten Dochten parat. Auch wir Kinder machten abends unsere Hausaufgaben bei diesem Licht. Einmal brachte uns der Vater von seiner Dienstreise in Petersburg etwas Neues mit: eine ganze Kiste Stearinkerzen. Am 4. Dezember, zum Namenstag der Mutter, organisierten wir dann einen Ball, und dieser war außergewöhnlich gut besucht. Als alle Türen aufgemacht wurden, entstand ein märchenhaftes Bild. Die Lüster und Kandelaber, in denen natürlich die Stearinkerzen steckten, beschienen alle Zimmer samt dem Tanzsaal, was einen ganz besonderen Effekt erzeugte.«
Im Jahre 1858 erreichte die Familie die Nachricht vom Tod des Großvaters Nikolaj, der zusammen mit seiner Gattin Scharlotta auf der Krim, nahe der Stadt Simferopol, ansässig gewesen war. Der einstige Beamte im Innenministerium sowie spätere Zarendiplomat in China und Dänemark hatte zuletzt den Posten des Generalgouverneurs der Krim bekleidet, wo er auf »Kilburn«, auf einem seiner vier dortigen Landgüter, für immer geblieben war. Dank ihm »genoss die Familie Perowski auf der ganzen Halbinsel sehr hohes Ansehen«. Lew Perowski und sein jüngerer Bruder Petr erbten nun die Anwesen, was gleichzeitig deren Verwaltung beinhaltete. Da der im Außenministerium tätige Bruder stets an verschiedenen diplomatischen Missionen teilnahm, zeigte sich der Graf zu einem neuen Umzug bereit und bat abermals die Onkel, sich darum zu kümmern. Noch im gleichen Jahr erfolgte Perowskis Versetzung auf die Krim, wobei er seine bisherige amtliche Position beibehielt. Im Herbst wurde der Haushalt Hals über Kopf aufgelöst, das Mobiliar zu Spottpreisen verkauft: Eine Fahrt von über 2200 Kilometern stand der Familie bevor.
»Wir fuhren mit der Bahn über Sankt Petersburg nach Moskau. Von dort aus setzten wir die Fahrt in unseren Droschken und mit von der Post gemieteten Pferden fort. … Der Vater, brennend vor Ungeduld, war schon mit Nikolaj dorthin gereist«, erzählt Wassili Perowski weiter. »Wir kamen immer langsamer, immer mühsamer voran, sodass wir schließlich in jeder der Bahnstationen eine Übernachtungspause einlegen mussten. Am nächsten Tag besorgten wir dann auf den Ortsmärkten den notwendigen Proviant. Die Reise war mehr als anstrengend, weil der Mutter, unserer Gouvernante sowie Marja, Sonja und mir nur vier Sitzplätze zur Verfügung standen, außerdem quetschten wir da noch zwei neulich gekaufte Jagdhunde mit hinein. Obendrein trafen wir unterwegs auf eine endlose Kolonne von Fuhrwerken, auf denen reisende Händler Vieh oder Salz transportierten. Sie umhüllten uns mit einer Staubwolke und zwangen uns noch dazu, ihnen auszuweichen, nicht selten an einer dafür vollkommen ungeeigneten Stelle. Die Hitze in der Kutsche war unerträglich.
Endlich erblickten wir in der Ferne die Krimberge mit ihren Gipfeln. Vater eilte uns entgegen, und nachdem wir in Simferopol die Pferde ausgewechselt hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Die Landschaft um uns herum war von einer malerischen, überwältigenden Schönheit. Wohin das Auge sah, grünte es in Hülle und Fülle, erstreckten sich weit und breit üppige Obstgärten. Ganze Alleen von Pyramidenpappeln säumten die Straßenränder, und von großen, auf den Baumspitzen sitzenden Starenschwärmen ertönte klangvolles Zwitschern. Wir waren wie verzaubert, und voller Verzücktheit schrien wir ununterbrochen auf. Es war unsere erste Begegnung mit der Natur des Südens.
In ›Kilburn‹ empfing uns unsere Großmutter Scharlotta. Kaum hatten wir gegessen, legten wir schon in alle Richtungen los, um die Umgebung weiter zu bewundern: die wunderschöne Aussicht auf das Flusstal der Salgira sowie den imposanten Gipfel Tschatyrdag, der sich in klarer Linie gegen den Gebirgsrücken abzeichnete.«
Im Winter bezogen die Perowskis eine Wohnung in Simferopol. Nikolaj und Wassili besuchten das Gymnasium, Marja schickte der Graf in ein Internat, obwohl die Mutter von dieser Entscheidung gar nicht begeistert war, und Sofja bekam eine Hauslehrerin. Anfangs zeichnete sie sich weder durch Wissbegier noch durch Fleiß aus. Erst im Alter von acht, relativ spät im Verhältnis zu ihren Geschwistern, gelang es ihr, Lesen und Schreiben zu beherrschen. Außerdem begann man, die Kinder auf das spätere Leben in der gehobenen Gesellschaft vorzubereiten, und dazu gehörten auch Tanzkurse. Aber Sofja fand nicht den geringsten Gefallen daran, sie weigerte sich, komplizierte Schrittkombinationen zu üben, weshalb aus ihr auch nie eine gute Tänzerin wurde.
Während des Aufenthalts in der Stadt beschäftigte sie sich noch mit Puppen. Allerdings nur dann, wenn ihre einzige Freundin, die Tochter einer älteren Dame namens Warpachowskaja, zu Besuch kam. Schon im Sommer, mit der Rückkehr auf »Kilburn«, hörte sie für immer damit auf. Laut den Memoiren ihres Bruders schenkte das Kind dem typischen Mädchenspielzeug nie große Beachtung. Dass es aber just zu diesem Zeitpunkt die schon bestehende, wenn auch schwach ausgeprägte Neigung dazu vollkommen verlor, mag vielleicht auch daran liegen, dass Marja an der Gesellschaft der wesentlich jüngeren Schwester längst nicht mehr interessiert war und Sofja nun allein Wassili zum Spielen übrig blieb. »Der Großvater hatte ein Dutzend kupferner Kanonen unterschiedlicher Größen, mit französischen Aufschriften, und etwa ein Arschin2 lange Lafetten«, liest man bei Perowski weiter. »Sonja und ich schossen tüchtig damit, weil das Schießpulver für lächerlich wenig Geld zu kaufen war. Ich, der Ältere, behielt für mich – wie es sich schon ziemte! – die Rolle des Kommandeurs. Nach meinem Befehl steckte Sonja gehorsam die Lunte ins Zündloch und betätigte die Waffe, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr war ebenso nicht die winzigste Spur von Angst anzumerken, als die Kanone beim Rückstoß absprang.
Als Mädchen spielte Sofja lieber mit Waffen als mit Puppen, 1865
Wie sehr ich mich auch anstrengen würde, ich kann mich bei meinem besten Willen nicht an einen einzigen Fall erinnern, welcher Sonja Furcht einjagen oder sie in Schrecken versetzen konnte. Hier ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. Einmal ging ich über den Hof, als ich einen unserer Diener sah: Er winkte mir panisch zu und rief dabei, ich solle mich sofort verstecken, weil mir ein tollwütiger Hund entgegenlaufe. In der Tat erblickte ich ihn mit zwischen den Beinen eingezogenem Schweif, mit Schaum vor dem halb offenen Maul, und hastete sofort ins Haus zurück. Mit der Schrotflinte, die ich bei der Jagd benutzte, stürzte ich wieder raus. Nach dem Hund suchend, blickte ich um mich herum, und dann erspähte ich ihn doch: Der bog hinter den Stall ein und rannte über einen Pfad direkt auf Sonja zu. Mir lief der kalte Schauer über den Rücken. Ich schrie ihr zu, sofort von dem Weg runterzugehen, auf der Stelle stehen zu bleiben, damit sie die Aufmerksamkeit des Tieres nicht auf sich lenke. Sonja wich vier oder höchstens fünf Schritte zur Seite – mehr nicht! – und wartete völlig unbeirrt, bis der Hund an ihr vorbei war.«
Vielleicht wäre das Leben der Perowskis weiterhin ganz unbeschwert verlaufen, hätte es nicht ein Ereignis gegeben, das die Familienidylle erheblich trübte. Der Generalgouverneur auf der Krim war General Schukowski, der sehr oft dienstlich verreist war. In Abwesenheit seines Vorgesetzten übernahm Perowski dessen Stellvertretung, doch sehr bald kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden. Die eskalierten von Tag zu Tag immer weiter, bis sie letztendlich zu einem ernsten Konflikt ausuferten, worüber sich der General beim Innenminister öfters beschwerte und zum Schluss die Befugnis bekam, den Grafen zu entlassen.
Im Oktober 1861 packte man nun wieder die Koffer und trat erneut die mühsame Reise an, diesmal Richtung Norden, zurück nach Sankt Petersburg.