Читать книгу Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja - Liliana Kern - Страница 7
3. Kapitel Leben in der Kommune
ОглавлениеNach einer zähen und nervenzermürbenden Schlacht ertrotzte sich Sofja die Unabhängigkeit von der elterlichen Obhut und nahm Anfang 1871 ihr Schicksal selbst in die Hand, indem sie zusammen mit ihrer mittlerweile engen Vertrauten Alexandra Kornilowa eine Wohngemeinschaft gründete. Im Grunde genommen unterschied sich diese von Kornilowas bisherigem Arbeitskreis lediglich dadurch, dass die Mädchen diesmal mit vier anderen Freundinnen unter einem Dach wohnten, wobei die beiden eigentlich keine Pioniere auf diesem Gebiet waren: Als sie zusammenzogen, schossen russlandweit Hunderte von sowohl Frauen- als auch Männerkommunen wie Pilze aus dem Boden. Unter dem neuen Modell des Zusammenlebens war eine Gruppe von vier bis sechs Kommunarden oder Kommunardinnen zu verstehen, die sich in einer Wohnung mit ein paar Zimmern, Küche, Diele und Bad einmieteten, zu welcher offiziell etwa zwanzig Mitglieder zählten. Die Gruppen benannte man nach den Straßennamen ihrer Wohnsitze, so gingen Sofja und ihre Mitbewohnerinnen als »Kuschelewer Kommune« in die Geschichte ein.
Diese nihilistischen Ersatzformen für Ehe und Familie dienten zugleich als eine Bildungsstätte mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt aus dem Bereich entweder der Natur- oder aber der Geisteswissenschaften. Bei den regelmäßig organisierten Lesungen, Referaten und anschließenden Diskussionen hatten alle Wissbegierigen ausnahmslos das Recht, sich an jeder beliebigen Veranstaltung zu beteiligen. Die um die zwei Mädchen versammelten jungen Frauen beschäftigten sich mit Fragen der politischen Ökonomie.
Die strenge Teilung der Arbeitszirkel nach Geschlechtern resultierte aus dem Streben der Frauen nach Emanzipation und ihrer Befürchtung, die patriarchalisch erzogenen, ja zu dominanten Männer könnten sich auf den Entwicklungsprozess ihrer Selbständigkeit hemmend auswirken, sie würden in ihre traditionelle Rolle, die sie auf diesem Weg abzulegen versuchten, erneut zurückfallen. »Eine Frau muss ihrem Mann gehorchen und mit ihm leben in Liebe, Respekt und unbegrenztem Gehorsam und ihm als dem Herrn des Haushaltes alle Annehmlichkeiten entgegenbringen«, liest man in einem Artikel über Frauenrechte zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Kirche stieß in das gleiche Horn: Sie betrachtete Frauen »dem Mann in jeder Hinsicht untergeordnet« und forderte von ihnen »demütiges Dulden und Selbstaufopferung in ihrer wichtigsten Aufgabe: Kinder zu gebären und aufzuziehen.«
Andererseits aber stemmte sich die Mehrzahl dieser Frauen gegen ein Dasein in der männlichen Nähe, weil sie, so wie auch Sofja, voller Wut und Verbitterung, nicht selten auch Verzweiflung, vor der erzieherischen Tyrannei der Väter bereits geflohen waren, um in den Kommunen Zuflucht zu finden. Wie intensiv der aufgestaute Unmut auf den Grafen Sofjas Leben nachträglich prägte, zeigen die Worte der Alexandra Kornilowa: »Sie [Sofja Perowskaja – L. K.] verachtete den Vater und konnte ihm nicht verzeihen, dass er die Mutter so sehr schikanierte. Unzählige Male hörte ich sie über ihn sprechen. Es scheint, dass kein Mensch auf dieser Welt imstande wäre, so feindselige Gefühle in ihrer Seele zu erzeugen.«
Dennoch sind die Umstände, unter denen Sofja ihre Kindheit und Mädchenzeit verbrachte, im Vergleich mit den Erfahrungen anderer junger Frauen sogar als glücklich zu bezeichnen. Zu dieser Gruppe gehörte zum Beispiel Wera Figner, die als Sprössling einer reichen adeligen Familie 1852 in Christoforowka, einem Dorf unweit der Stadt Kasan, geboren wurde: »Wir wurden äußerst streng erzogen; der Vater war heftig, hart und despotisch, die Mutter gut, sanft, aber machtlos. Sie wagte es nie, uns zu liebkosen, geschweige denn, uns je vor dem Vater in Schutz zu nehmen. Meines Vaters Richtschnur in der Erziehung war: eiserne Disziplin und absolute Unterwerfung … Pünktlich zur Minute mußten wir aufstehen und ebenso zur Minute schlafen gehen. Immer dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur …, nach jeder Mahlzeit sich bekreuzigen und den Eltern danken, bei Tisch durfte kein Wort gesprochen werden; widerspruchslos mußte alles gegessen werden, gleichgültig, ob es zu viel oder zu wenig war. Wir sollten lernen, nicht wählerisch zu sein. … Nichts durften wir ohne Erlaubnis anrühren, besonders ja nicht Vaters Sachen; wenn das Unglück geschah, dass man etwas zerschlug oder auch nur an den unrichtigen Platz stellte, dann erstreckte sich der väterliche Zorn über das ganze Haus. Und dann setzte die Strafe ein: Man mußte im Winkel stehen, wurde an den Ohren gezogen oder bekam Schläge mit dem Lederriemen, der immer dazu in Vaters Arbeitszimmer hing. Er strafte grausam, unbarmherzig. Wenn die Brüder gezüchtigt wurden, dann litten wir alle mit. Auch nicht die geringste Kleinigkeit blieb ungestraft. Wir durften nichts vor dem Vater verheimlichen, unerbittlich forderte er die strengste Wahrheit von uns, und die Mutter ging mit ihrem Beispiel darin voran. Wenn auch blutenden Herzens, da sie die Folgen kannte, so verheimlichte sie doch nie auch nur das geringste Vergehen vor dem Vater. Und diese Strenge erstreckte sich sogar auf Unvorsichtigkeiten im Spiel. Wenn wir uns irgendwie wehgetan hatten, so kam noch zu dem natürlichen Schmerz die moralische und physische Mißhandlung des Vaters hinzu. Uns Mädchen schlug er nicht mehr, seit er mich einmal als sechsjähriges Kind während einer stürmischen Überfahrt über die Wolga fast zum Krüppel geschlagen hatte. Aber wenn er uns auch seitdem nicht mehr schlug, so fühlten wir uns doch nicht erleichtert, wir fürchteten ihn mehr als das Feuer; sein kalter, durchdringender Blick genügte, um uns das Blut in den Adern gerinnen zu lassen.«
Ihre Ausbildung absolvierte Wera Figner in einem Klosterinternat. Auf Vaters Anordnung und gegen den eigenen Willen nahm sie danach die Arbeit als Grundschullehrerin in Kasan auf. Erst mit der Heirat gelang es der jungen Frau, sich der väterlichen Obhut zu entziehen. Zusammen mit ihrem Ehemann verreiste sie 1872 nach Zürich, wo sie dann das Medizinstudium begann.
Sowohl Sofja als auch Wera Figner erkämpften das Recht auf Eigenständigkeit ohne große Schwierigkeiten, während die Emanzipationsbemühungen der Larissa Tschemodanowa, der sechzehnjährigen Priestertochter, einem echten Abenteuer ähnelten. Das – so wie die Figner – aus der Kasaner Gegend, aus dem Ort Wjatka, stammende Mädchen äußerte nach dem Abschluss der Grundschule den Wunsch, sich bei den Alartschinski-Kursen einzuschreiben. Auf den erbitterten Widerstand des Vaters gestoßen, stahl sie sich zweimal heimlich davon, wurde aber jedes Mal schnell gefasst und zwangsweise heimgebracht, wo sie dann unter ständiger Überwachung des von dem Vater beauftragten Hauspersonals und der jüngeren Geschwister stand. Auch Larissas Post unterzog der Pope Wassili der strengsten Kontrolle, beschlagnahmte die Bücher des Mädchens und erteilte ihm schließlich die Erlaubnis, ausschließlich die Tochter des Diakons kontaktieren zu dürfen. Als die Eltern noch obendrein entschieden, sie mit dem Dorfrichter zu vermählen, schrieb die verzweifelte junge Frau an ihre ehemalige Lehrerin Anna Kuwschinskaja, die aus Wjatka weggezogen war, und bat sie um Hilfe. Diese schlug ihrer ehemaligen Schülerin vor, eine fiktive Ehe zu schließen.
Auf der Suche nach einem passenden Heiratskandidaten fiel die Wahl auf Sergej Sinegub, einen Studenten des Petersburger Technischen Instituts. Der Gründer einer Männerkommune war Sohn eines wohlhabenden adeligen Gutsbesitzers, dazu noch hatte er eine athletische Figur, kräftige dunkle Haare, ein klares Gesicht, kurzum war er ein hübscher Bursche, demzufolge also auch eine sehr gute Partie. Er zögerte anfangs ein wenig, zum Schluss erklärte er sich doch einverstanden, woraufhin er ein Foto von Larissa in die Hand gedrückt und die wichtigsten Details über die Familie erzählt bekam.
»Als ich in meinem besten Anzug endlich Wjatka erreichte, hörte ich mein Herz in der Kehle klopfen, da man mich schon vorher gewarnt hatte, dass der Priester keinen Spaß kenne, besonders nach den zwei Fluchtversuchen des Mädchens und den Gerüchten, welche seitdem um sein Haus schwirrten wie ein Schwarm von aufgescheuchten Fliegen. Sollte die Sache schiefgehen und die Familie wieder in einen Skandal eingezogen werden, könnte mich meine Hilfsbereitschaft teuer zu stehen kommen«, berichtet Sinegub in seinen Memoiren. »Nachdem wir nun die üblichen Floskeln bezüglich meiner Reise und der Gesundheit von Familienangehörigen ausgetauscht hatten, teilte ich dem Popen Wassili mit, dass ich mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit sprechen möchte, dass diese letzten Endes der Anlass meines Besuches sei. … Mich unterbrach ein großes, schlankes, ja bildhübsches Mädchen mit wunderschönen Augen und blassem Teint: ›Serjoscha3, endlich bist du da!‹ Es hängte sich mir um den Hals und küsste mich so leidenschaftlich, wie man es auf dieser Welt selten zu erleben vermag. … Vater Wassili sprang vom Stuhl und erstarrte zur Salzsäule. …
Nach einigen Tagen, nachdem sich die Eltern von dem ersten Schock erholt hatten, zeigte sich der Vater doch bereit, mit mir zu verhandeln. … Nun zogen sich die Eltern zur Beratung zurück. Ich blieb mit der jungen Frau allein. Kreideweiß vor Aufregung und Angst setzten wir uns ans Fenster, flüsternd unterhielten wir uns, um uns besser kennen zu lernen. …
Während der Trauung fühlte ich mich elend und war vollkommen verwirrt. Vor Aufregung wurde mir unheimlich heiß, sodass ich unablässig schwitzte. Der eine Nummer zu große Kranz auf meinem Kopf rutschte stets über meine mit Schweißperlen bespickte Stirn in die Augen. Jemand merkte das und steckte mir – gottlob! – sein Taschentuch darunter. Das Zeremonieende konnte ich kaum abwarten, so vernahm ich eine unbeschreibliche Erleichterung, als wir endlich die Kirche verließen. …
Nach der Hochzeitsfeier gingen wir, die frischgebackenen Eheleute, nun in das Schlafzimmer. Es war uns unangenehm, peinlich … Aber was hätten wir sonst machen sollen, außer die Komödie zu vollenden. Das einzige Doppelbett überließ ich Larissa und legte mich selbst auf die Wäschetruhe. Sie machte das Licht aus und versank unter der dicken, kuscheligen Federdecke, während ich, zusammengekrümmt, die Nacht soldatisch verbrachte.
Als ich frühmorgens aufwachte, merkte ich, dass das Mädchen schon aufgestanden war. Um den Eindruck entstehen zu lassen, als hätten wir beide im Bett geschlafen, wälzte ich mich auf ›meiner‹ Seite ein paar Male hin und her. Beim Frühstück überschüttete man uns mit verschiedenen zweideutigen Scherzen und Anspielungen, aber das gehörte auch zum Spiel. … Endlich saßen wir beide in der Kutsche, und das Dorf verschwand bald in der Ferne, weit hinter unseren Rücken.« In Petersburg angelangt, brachte Sinegub seine »Frau« in einer Frauenkommune unter.
Sofja Perowskaja, Wera Figner, Larissa Tschemodanowa, drei unter vielen jungen Rebellinnen, glaubten fest daran, durch das Zusammenleben in der Kommune, außerhalb jeglicher Beeinflussung seitens der Männer, durch die permanente Erweiterung des eigenen geistigen Horizontes, durch die kleineren Schritte, die Frauenemanzipation und damit ebenfalls tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen bewirken zu können. Die Kommunardinnen fingen bei dem Prinzip der Unterwerfung an, indem sie diesem die Gleichberechtigung entgegensetzten und zu ihrer Absicherung das Privateigentum abschafften. Es gab eine gemeinsame Kasse, aus der alle Unterhaltsausgaben bestritten wurden. Darin flossen die Aussteuergelder der fiktiv verheirateten Frauen oder die finanziellen Mittel, welche tolerante Eltern ihren Töchtern schickten. Auch mittellosen Mädchen wie Sofja oder denjenigen aus sozial schwachen Familien stand das Kommunevermögen uneingeschränkt zur Verfügung.
Dass ausgerechnet Frauen aus Sofjas Generation die Revolte gegen die herrschenden Missstände initiierten, kam vor allem durch den Einfluss der französischen, die soziale Problematik thematisierenden Ideen der 60er Jahre auf die russischen Intellektuellen zustande. Die wissenschaftlichen Abhandlungen in der Domäne der Pädagogik und Kindererziehung postulierten unausweichlich auch die Frauenfrage. Besonders großer Popularität erfreute sich in Russland die Schriftstellerin George Sand, welche das Recht auf Glück – vor allem in der Liebe – für jede Frau forderte.
Aber ungleich mehr regte der utopistische Roman Tschto delat? (Was tun?) des Dichters und Revolutionärs Nikolaj Tschernyschewski die Gemüter der Jugend an. Seine Hauptfigur Wera Pawlowna wurde zum Idol, ihre Lebensart zum Vorbild junger Russinnen: »Während meiner sechzehnjährigen Universitätstätigkeit«, so ein Hochschullehrer aus Odessa, »ist mir kein einziger Student begegnet, der das berühmte Buch nicht bereits vom Gymnasium her kannte: Eine Gymnasiastin in der fünften bis sechsten Klasse, die sich mit den Abenteuern der Wera Pawlowna nicht bekannt gemacht hätte, wäre als dumme Gans bezeichnet worden.«
Ohne Zweifel stellte Sofja keine Ausnahme in diesem Sinne dar, was sich den Memoiren des Wassili Perowski eindeutig entnehmen lässt: »Ich kann mich nicht ganz genau erinnern, ob es Vaters erste Reise in die Schweiz war, als er auf meine Bitte die von einem russischen Emigranten namens Elpidinin herausgegebenen Werke Tschernyschewskis mitbrachte.«
Das in Russland verbotene Buch Tschto delat? (Was tun?), das der damals fünfunddreißig Jahre alte Gymnasiallehrer aus Saratow 1863 im Gefängnis schrieb, bewegte die jungen Russinnen einerseits zum Ausbrechen aus den demütigenden Familienverhältnissen, ermutigte sie zum Wagnis der Selbständigkeit. Andererseits aber erzeugte es bei den Vorreiterinnen des Feminismus die Illusion, der Weg zur Unabhängigkeit der Wera Pawlowna wäre auch im realen Leben durchführbar. Die Gründung von Frauenkommunen erfolgte deshalb exakt nach dem Romanvorbild, als eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Grundregeln, nach welchen das frei erfundene Frauenarbeitskollektiv funktionierte.
Dass aber die Realität jedoch weit komplexer war als irgendeine noch so human gedachte literarische Fiktion, erfuhr Sofja schon im Mai 1871. Die fingierte Kommune seiner Heldin ließ Tschernyschewski unangetastet von jeglichen äußeren Einflüssen existieren, während eine Abschottung von ihrer Umgebung für die Petersburger Nihilistenzirkel natürlich unmöglich war. So kamen sie zwangsläufig in Berührung sowohl untereinander als auch mit anderen Gruppierungen.
In diesem Zuge begegnete Sofja dem Studenten des Technischen Instituts Nikolaj Gontscharow. In seinem Auftrag verteilte sie die als Wisselica (Der Galgen) betitelten Flugblätter unter Studierenden. In den Flyern, deren Verfasser wie Herausgeber der junge Mann selbst war, wurde hauptsächlich die Pariser Kommune gefeiert, doch daneben fand man auch Aufrufe zur Revolution sowie zum Ergreifen von Gewaltmaßnahmen gegen hohe Staatsbeamte.
Es war aber ein offenes Geheimnis, dass die Nihilistenkreise unter polizeilicher Beobachtung standen. Die Agenten mieteten sich benachbarte Wohnungen an, um die Gespräche ihrer Bewohner belauschen zu können. Deswegen dauerte es nicht lange, bis eine Razzia in der Kuschelewer Kommune durchgeführt und Sofja zusammen mit der Kornilowa zum Verhör in die Dritte Abteilung der Kanzlei Seiner Majestät – wie der Hauptsitz der Geheimpolizei offiziell hieß – vorgeladen wurde. Mangels belastender Beweise endete der Vorfall mit zwei für die damaligen Verhältnisse relativ harmlosen Konsequenzen für Sofja: Von nun an stand sie im Fadenkreuz der Polizei, und im kommenden Jahr verweigerte man der jungen Frau den Zutritt zum Abschlussexamen zur Grundschullehrerin.
Nichts deutet darauf hin, dass seine erste Begegnung mit der Ordnungsbehörde das Mädchen in irgendeiner Weise einschüchterte, was keineswegs überrascht, denn Sofja kannte nach wie vor keine Angst. Ihre Furchtlosigkeit verstärkte noch zusätzlich die fatale Illusion der Sicherheit, welche die Autorität des Großunternehmers Iwan Kornilow den Kommunardinnen garantierte. Der Hauptgrund aber, warum sie den ersten Besuch in der berüchtigten Dritten Abteilung auf die leichte Schulter nahm, war allerdings das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie an ihre »Ersatzfamilie« so intensiv band, und für diejenigen, die sie liebte, denen sie vertraute, hätte Sofja weit mehr riskiert.
Um der Freundschaft willen protestierte Sofja auch nicht, als Alexandra Kornilowa, die bis gestern noch von dem Leben unter einem Dach mit Männern nicht einmal hören wollte, im Frühsommer 1871 einen Zusammenschluss zwischen ihrer Kuschelewer und der Wulfer Kommune in Erwägung zog. Dass die zielstrebige Kommunardin eine Verschmelzung ausgerechnet mit dieser Nihilistengruppe anpeilte, kam nicht von ungefähr. Abgesehen davon, dass diese die älteste, ja die Urmutter aller Petersburger Arbeitszirkel war, gehörte sie ohnehin zu einer der populärsten. Gegründet hatte sie der Medizinstudent Mark Natanson drei Jahre davor, zu Beginn der Studentenunruhen. Ihre Tätigkeit war zuerst bar jeglicher politisch-ideologischen Aktivitäten, ausschließlich auf die Unterstützung von Studierenden, sei es im Lernbereich, sei es im Hinblick auf die persönliche Weiterbildung, konzentriert. Unmittelbar nach ihrer Entstehung lernte die Kornilowa Natanson kennen und machte daraufhin auch Sofja mit ihm bekannt.
Was Sofjas Freundin so unverhofft dazu veranlasste, gegen eines der Grundprinzipien des Frauenkommunenkodexes zu verstoßen, bleibt unklar. Möglicherweise überredete sie dazu ein Mitstreiter Natansons, mit dem sie laut Gerüchten eine Affäre hatte, oder aber es bewegte das Bild der Pariser Kommune die junge Idealistin zu ihrer plötzlichen Gesinnungsänderung.
Wie auch immer, Kornilowas Absicht rief eine Protestwelle unter den Mitstreiterinnen hervor: »Eines Tages tauchte plötzlich ein Mädchen, spürbar aufgeregt und verärgert, bei mir auf: ›Stell dir mal vor! Die Kornilowa und die Perowskaja, die stets gegen die Einigung mit den Männerzirkeln waren, nehmen jetzt selbst an der Arbeit der Wulfer Kommune teil. Ich verlange heute noch eine Sitzung, weil ich eine Erklärung dafür will‹«, erzählt Jelisaweta Kowalskaja, Sofjas enge Vertraute, die mit sieben Jahren für ihre fronpflichtige Mutter die Freiheit erkämpft hatte. »An diesem Abend war mein Zimmer mit Frauen überfüllt. Wir warteten lange, bis die beiden endlich erschienen. Die Kornilowa kam locker und unbeschwert, mit einer beinahe provokativen Haltung, herein. Die Perowskaja dagegen schaute verlegen und niedergeschlagen, dennoch war sie offensichtlich zum Kampf bereit. Auf die beiden hagelte es Beschuldigungen hernieder, und zwar von allen Seiten. … Nachdem sich der aufgewirbelte Staub einigermaßen gelegt hatte, verteidigte sich die Kornilowa mit dem ihr so eigentümlichen Eifer, dennoch nicht überzeugend. Die Perowskaja benahm sich weit diskreter und verkündete schlicht und einfach: ›Wir haben nicht vor, euch Rechenschaft abzulegen.‹ Daraufhin standen sie auf und verließen die Versammlung.«
Zweifellos fügte sich Sofja nur schweren Herzens dem Vorhaben ihrer Freundin, zumal sie »die Gesellschaft der Frauen derjenigen der Männer vorzog, weil sie sich – wie sie selber behauptete – unter ihnen wohler fühlte«. Trotzdem gab sie nach, ließ sich führen. Hätte sie sich gewehrt, hätte ihr das auch nicht viel geholfen. Die Kornilowa war diejenige, die den Ton angab und es immer schaffte, ihren Willen durchzusetzen.
Schon im August erfolgte die offizielle Vereinigung beider Zirkel. Die neue Kommune bestand aus etwa dreißig Mitgliedern. Zu dem Zeitpunkt aber, als die Verhandlungen beider Arbeitskreise noch liefen, wurde Natanson verhaftet und nach Sibirien verbannt. Die Führung übernahm sein Kommilitone Nikolaj Tschaikowski, so ist die Gemeinschaft ungerechterweise als »Tschaikowzen« in die Geschichte eingegangen. Für die einst von Natanson festgelegten Regeln setzte sein Nachfolger weit radikalere ethische Maßstäbe, indem er von seinen Anhängern einen asketischen Lebensstil jenseits jeglichen Luxus verlangte, mit dem Ziel, die wahre geistige, dem Menschen tief immanente Befriedigung zu erreichen. Es gab kein festes Statut, sondern jede Frage wurde spontan in Anwesenheit aller Kommunarden besprochen. Der Eintritt wurde lediglich denjenigen gewährt, die sich als zuverlässig erwiesen, sich das bedingungslose Vertrauen der »Tschaikowzen« verdienten. Über den potenziellen Kommunarden diskutierte man lange, beurteilte dessen Charakter aus der Perspektive der nihilistischen Weltanschauung, wobei der kleinste Zweifel im Sinne der Unehrlichkeit oder Verlogenheit für eine Abweisung reichte. Das Aufnahmeprozedere basierte auf dem Prinzip der Einstimmigkeit: Gab es nur eine einzige Gegenstimme, musste der Aspirant eine Absage einstecken. So »blieb der Zirkel immer ein Kreis der engsten Freunde. Niemals mehr habe ich so hochmoralische, dermaßen sich selbst treue Menschen getroffen. … Bis heute bin ich ganz stolz darauf, unter ihnen gelebt zu haben«, schwärmte Fürst Petr Kropotkin, der mit neunundzwanzig Jahren der älteste »Tschaikowze« und dazu noch Sofjas männliches Pendant schlechthin war. Er kam aus einem bekannten aristokratischen Geschlecht, dessen Angehörige im Zarenhof zu den Stammgästen zählten. Auf die Karriere als Kammerpage verzichtete er zugunsten seines Interesses für Geografie und Reisen. In der Schweiz kam der Weltreisende in Kontakt mit den russischen politischen Emigranten und kehrte als überzeugter Anarchist nach Russland zurück.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der unterschiedlichen Herkunft stand der »Tschaikowze« der ersten Stunde, Sergej Krawtschinski, Sofja weit näher als ihr Standesgenosse. Mit dem Sohn eines Militärarztes verband sie eine herzliche Zuneigung, und es wäre ein Wunder, hätte sich das Mädchen dem jungen Offizier gegenüber gleichgültig verhalten, weil »ein vor Gesundheit berstender, energischer Mann mit roten Wangen, wie bei einem Bauernmädchen, etwas Originelles, ja Ungewöhnliches ausstrahlte. Schon bei dem ersten Blick auf den Jüngling mit Vorliebe für elegante Anzüge fielen sofort seine Lebensfreude und Willensstärke auf.« Darüber hinaus war er neben Sofja »der zweite allgemeine Liebling der Kommune«, und Sofja zollte allein den außergewöhnlichen Männern Aufmerksamkeit, jenen, welche sich von der Umgebung scharf abhoben, sich durch besondere Eigenschaften hervortaten. Krawtschinski erlebte Sofja »als Verkörperung der Jugend« und behauptete: »Ihrem [Sofjas – L. K.] rundlichen Gesicht haftete etwas Lebendiges, Forsches und zugleich etwas Naives an. Sie war zum Lachen aufgelegt und lachte leidenschaftlich gern, mit der unaufhaltsamen Heiterkeit eines kleinen Kindes.«
Sofja war der unbestrittene Liebling der »Tschaikowzen«-Kommune.
Die enge Beziehung zwischen Sofja und Sergej Krawtschinski stellte keine Ausnahme dar. Im Gegenteil basierte das Dasein der »Tschaikowzen« »auf Freundschaft, Sympathien, vollem Vertrauen und Gleichberechtigung aller Kommunarden«. Das einmalige Zusammengehörigkeitsgefühl trug dazu bei, dass sich die Gruppe sehr schnell zum einflussreichsten der Petersburger Zirkel profilierte. Es dauerte auch nicht lange, bis ihr Zellennetz alle bedeutenden Städte des Zarenreiches umspannte.
Zu ihrem Versammlungstreffpunkt wählten die »Tschaikowzen« ein kleines Häuschen in dem Vorort Kuschelewka. Dieses mietete Sofja unter falschen Angaben – sie gab sich als Ehefrau eines Handwerkers aus – und bezog es samt ein paar anderen Mitstreitern. Die an den übermäßigen Wohlstand gewöhnte Sofja wurde ihrer Rolle als Hauswirtin erstaunlich gut gerecht: »Niemand hätte in dieser einfachen Frau, die im Kattunkleid4, groben Stiefeln und einem baumwollenen Kopftuch das Wasser von der Newa herbeischleppte, das ehemalige Edelfräulein vermuten können. … Den Haushalt hielt sie tadellos sauber und schimpfte stets mit uns Männern, wenn wir den Schmutz von den unbebauten Straßen in die Wohnung hereintrugen. Sie versuchte dabei ihrem Gesicht einen griesgrämigen Ausdruck zu verleihen, trotzdem lächelte jeder von uns sie dabei freundlich an und nahm ihr die Rügen nicht übel, weil man mit einer Pedantin zu tun hatte«, behauptet Sofjas Pendant Petr Kropotkin, der als Einziger in der Lage war, das Ausmaß der Verwandlung der jungen Frau wahrzunehmen und dieses richtig zu beurteilen.
Doch »in ihrer Freizeit demonstrierte Sofja wenig Strenge und plauderte gerne. Ihr Lachen war so klangvoll, so ansteckend, dass es alle Anwesenden zwangsläufig mitriss.« »Nach kurzer Zeit wurde sie des Quatschens überdrüssig, und ohne unhöflich zu werden, verschwand sie diskret, mit gleicher Leichtigkeit und Natürlichkeit, mit welchen sie soeben geschwätzt und gescherzt hatte, um mit ihren flinken, leichten Schritten die Stadt zu vermessen. Mit ein wenig nach vorne geneigtem Haupt, mit zusammengezogenen Augenbrauen und den tief in den Manteltaschen gesteckten Händen schaute sie ständig auf das Pflaster. Ernst, gedankenversonnen dachte sie über die noch zu erledigenden Aufgaben fort, damit sie nur keine Zeit verlöre.«
Gewiss schmeichelte der scheuen, schüchternen jungen Frau sehr, dass sie plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und die ungeteilte Anerkennung ihrer Freunde genoss. Deswegen verschwand auch in kurzer Zeit ihr ehemaliges Unbehagen den Männern gegenüber. Dass sich die äußerst introvertierte, nicht unbedingt kontaktfreudige Sofja einer so großen Beliebtheit erfreute, ist höchstwahrscheinlich einerseits auf die Bewunderung zurückzuführen, die ihre Abstammung bei den Kommunarden erregte. Sie stand in direkter Verwandtschaft zur Zarenfamilie, nicht mehr und nicht weniger, und die Dynastie Romanow, wie übrigens jede Herrscherfamilie weltweit, umhüllte seit eh und je eine gewisse Aura der Faszination. Die jungen »Tschaikowzen« durften wohl gegen das Aschenputtel-Syndrom genauso wenig gefeit gewesen sein, wie wir es heute sind. Jeder der Autoren, unabhängig von dem Zeitkontext, der jemals über Sofja auch nur ein paar Sätze geschrieben hat, versäumte nicht, ihre Wurzeln zu erwähnen, obgleich das Mädchen selbst gar keinen Wert darauf legte.
Andererseits hatte die Generalgouverneurstochter, wie kaum ein zweites der »Tschaikowzen«-Mitglieder, mit dem Ausbrechen aus der elterlichen Obhut so viel aufs Spiel gesetzt und wie kaum ein zweiter Kamerad einen so enormen Verzicht geleistet. Obendrein stellte Sofja, zusammen mit Petr Kropotkin, einen Einzelfall dar. Das Bewusstsein, eine solche Person in den eigenen Reihen zu haben, erfüllte die »Tschaikowzen« sicherlich mit Stolz und bescherte ihnen ohne Zweifel ein erhebliches Ansehen im Vergleich mit anderen Kommunen.
In der Zuneigung ihrer Freunde schwelgend, kam Sofja niemals in Versuchung, sich mit der Arbeit der Kommune kritisch auseinanderzusetzen. Auch dann nicht, als sich die Organisation von ihrer einstigen mystischen Lehre über die geistige Erneuerung Russlands durch eine neue Moral abwandte, sich immer stärker politisierte und nun die Aufklärungsarbeit unter Jugendlichen aufnahm. Das beinhaltete ebenso die Verbreitung der vom Standpunkt des Zirkels relevanten Literatur, so brachten die »Tschaikowzen« neben den legalen Werken allmählich auch die illegalen in Umlauf. Da diese verständlicherweise ausschließlich im Ausland zu beschaffen waren und der Kommune für deren Erwerb die finanziellen Mittel fehlten, startete sie eine eigene verlegerische Tätigkeit, indem sie eine Druckerei in der Schweiz, im Zentrum der russischen Emigration, einrichtete. Neben dem Vertrieb der gekauften Publikationen übersetzte der Zirkel etliche Titel und gab diese selbst heraus, unter anderen Das Kapital von Karl Marx, die Werke der Frühsozialisten Charles Fourier oder Louis Blanc, des sozialen Ökonomen John Stuart Mill, des utopistischen Philosophen Wassili Berwi-Flerowski und des Anarchisten Joseph Proudhon. Die neue Tätigkeit trug bald Früchte, weil es »in den achtunddreißig Gouvernements Russlands kaum einen größeren Ort gab, wo die Verbreitung der ›Tschaikowzen‹-Literatur nicht betrieben wurde.«
Die Einfuhr der verbotenen Bücher brachte die Kommunarden zwangsläufig in Kontakt zu den im westlichen Grenzgebiet des Landes angesiedelten Schmugglerbanden. Wie die erste Kontaktaufnahme zustande kam, schildert Petr Kropotkin: »Aus der Schweiz fuhr ich über Wien und Warschau und stieg in einem polnischen Grenzstädtchen ab. Schon am nächsten Tag begab ich mich zum Marktplatz, wo sich viele Einwohner tummelten, aber ich hatte keine Ahnung, wen ich unter ihnen ansprechen sollte oder woran der richtige Mann zu erkennen wäre. Nachdem ich alle Straßen erfolglos durchkämmt hatte, machte ich mich am Rande der Verzweiflung auf den Weg ins Hotel. Dort überwand ich mich doch, indem ich einen in der Tür stehenden alten Mann ansprach. ›Das ist kein Problem‹, versicherte er. ›Ich hole sofort den Geschäftsvermittler der Firma – für Sie! – Internationaler Handel von Lumpen und Knochen, welche ein dichtes Schwarzhändlernetz in der ganzen Welt besitzt.‹
Nach etwa einer halben Stunde erschien er wieder in Begleitung eines jungen Burschen, der fließend Russisch, Polnisch und Deutsch beherrschte. Der ›Kommissionär‹ musterte mein Gepäck und wollte wissen, um welche Ware es sich da handelte. ›Es sind streng verbotene Bücher, daher müssen sie illegal ins Land befördert werden‹, erklärte ich, worauf er replizierte: ›Ehrlich gesagt machen wir so was nicht. Wir beschäftigen uns nur mit Seidenwaren, und die berechnen wir nach Gewicht. Würde ich das mit euren Paketen tun, käme ein ganz schönes Sümmchen auf euch zu. Außerdem gestehe ich dir ganz ehrlich, ich mag keine Geschäfte mit Büchern. Sollten wir – behüte Gott! – von der Polizei angehalten werden, haben wir sofort einen politischen Prozess auf dem Hals. Dann wird der Internationale Handel von Lumpen und Knochen das letzte Hemd verhökern müssen, um aus der Patsche herauszukommen.‹«
Da der Gruppe aber keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand, nahmen sie doch die kostspieligen Dienste der Kriminellen in Anspruch. Zahllose Nächte verbrachte Sofja mit dem Chiffrieren von Briefen an Kontaktpersonen, dem Benachrichtigen von Vertreibern über den Sendungsempfang oder aber dem Aus- oder Einpacken von Büchern.
Der Transport verlief nicht immer reibungslos. In eine der »Pannen« war Wassili Perowski, mittlerweile auch ein »Tschaikowzer«, verwickelt. Kurz nach Sofja hatte der junge Mann ebenfalls das Elternhaus verlassen und lebte in einer Männerkommune, deren Wohnung als Lager für die Lieferungen aus der Schweiz diente. Bei der Öffnung einer Sendung stellte sich heraus, dass sich darin statt Bücher Lumpenkleider, Stroh, Ziegelsteine, ja diverser Abfall befand. »Wir dachten, es sei das Handwerk der Geheimpolizei, und beeilten uns, alle Spuren rasch zu vernichten: Stofffetzen im Ofen zu verbrennen und den Rest irgendwo im Garten oder sonst wo zu vergraben«, so Perowski. »Diese Operation dauerte eine ganze Nacht. Als wir endlich erleichtert aufatmeten, fragten wir uns, wer dahinterstecken könnte, weil sich kein Polizist bei uns blicken ließ. Aus dem Telegramm unseres Schmugglers wurde uns klar, dass eine konkurrierende Bande, die sich mit unserer bekriegte, eine fette Beute in unseren Paketen vermutend, an einer der Zugstationen einen Tausch der Pakete vollzogen hatte. Unser Mann ging der Sache nach und informierte uns, die Bücher befänden sich in Riga zum Abholen parat, und verlangte die Erstattung der ihm im Laufe der Recherche entstandenen Kosten.«
Auf der Suche nach preiswerteren Kanälen beauftragten die »Tschaikowzen« ein dänisches Schiff mit der Beförderung, und diesmal ging die komplette Sendung verloren, da der Kapitän in letzter Minute doch kalte Füße kriegte und alle Pakete im Meer versinken ließ.
Was hatte eigentlich die Nihilisten veranlasst, die Bildung so zu preisen und dafür sogar Kopf und Kragen zu riskieren? Bei der Beantwortung der Frage stößt man erneut auf die bereits erwähnte, nach dem Ende des Krimkrieges initiierte Reform des Bildungswesens sowie auf den langen Schatten des Attentäters Dmitri Karakosow. Nachdem sich mittlerweile die Demonstration als ein unwirksames politisches Instrument beziehungsweise die Rückkehr zum einstigen Liberalismus als ein Traum erwiesen hatte und die Ära des Obskurantismus in die Lehranstalten zurückgekehrt war, suchten sich die Jugendlichen illegale Wege, um ihr Bedürfnis nach einer dem Zeitgeist angemessenen Ausbildung befriedigen zu können.
Mit ihrer aktiven Teilnahme an der Arbeit der »Tschaikowzen« bewegte sich Sofja, ohne das überhaupt bewusst wahrzunehmen, schon längst auf dem Gebiet des Illegalen. Aber sie ließ sich gern mitreißen, genauer gesagt ließ sie sich dort hinführen. Das leicht beeinflussbare Mädchen besaß zu dieser Zeit keine klar definierten ideologischen Ansichten und konnte sie unter den gegebenen Umständen auch nicht entwickeln. Denn der Zirkel selbst vertrat keine konsequente politische Linie, was sein widersprüchliches Handeln in aller Deutlichkeit illustriert: Die überzeugten Gewaltgegner befürworteten einerseits die geistige Erneuerung Russlands durch eine neue Moral, andererseits aber handelten sie mit verbotenen Büchern und verkehrten sogar im kriminellen Milieu. Die offenkundige Widersprüchlichkeit resultierte daraus, dass die Kommune keine einheitliche Doktrin verfolgte. Sie spiegelte lediglich die vorhandene ideologische Vielfalt unter russischen Intellektuellen wider, was sich auch eindeutig den von den »Tschaikowzen« verlegten Titeln entnehmen lässt.
Mit anderen Worten schöpfte die Kommune ihre Vitalität nicht aus dem Verfolgen von bestimmten politischen Zielen, sondern aus dem Gemeinschaftsgeist der jungen Idealisten: »Der Charakter unserer Bewegung beruhte ausschließlich auf ethischen Motiven«, so ein Mitglied. »Dabei war die Intensität des subjektiven Zusammengehörigkeitsgefühls jedes Einzelnen das entscheidende Moment und nicht die Treue zu irgendeiner Ideologie.«
Auch Sofja ging es nicht anders. Die Atmosphäre der wahren Freundschaft fesselte die junge Frau an die Kommune, und den Preis für ein Dasein jenseits der Normalität bezahlte sie deshalb gern, ganz selbstverständlich, und nicht nur das, sie war sogar zu weit größeren Opfern bereit, was die kommenden Ereignisse bald zeigen sollten.