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Lene und die Liebe

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Wie an den meisten Abenden machte sich Ernst Papanek von Sandleiten aus auf den Weg Richtung Alsergrund. Von der Alser Straße bog er in die Lazarettgasse und ging an einer Reihe großbürgerlicher Privatkliniken vorbei bis zur Nummer 20. »Fango-Klinik« stand in schwarzen Lettern auf dem imposanten Eckhaus. Papanek grüßte den Portier, dann stieg er in den zweiten Stock in die Privatgemächer der Familie Goldstern hinauf, wo ein Dienstmädchen gerade den Tisch deckte. In betuchter Umgebung speiste Papanek mit seiner zukünftigen Frau Lene, deren Geschwistern und Eltern zu Abend. Ein ungewohntes Ambiente für den Arbeitersohn aus Rudolfsheim.

Ernst und Lene trennten Welten. Während er als Kind neben der Schule Semmeln ausgefahren hatte, um den Familienhaushalt aufzubessern, hatte Lene Klavier- und Französischunterricht bei Privatlehrern genossen. Was beide zusammenbrachte war – wie konnte es anders sein – die Sozialdemokratie.

***


Glückliche Familienidylle: Ernst Papanek präsentiert sich 1926 mit seiner Frau Lene und seinem Erstgeborenen Gustav Fritz – benannt nach Gustav Mahler und Fritz Adler.

Helene, genannt Lene, kam am 10. Juni 1901 als zweites Kind von Samuel und Manja (Marie) Goldstern auf die Welt. Die Goldsterns waren eine wohlhabende jüdische Familie, die ursprünglich aus Lemberg in Galizien, in der heutigen Westukraine, kam. Über Generationen hinweg zählten sie zu den reichsten und einflussreichsten Lemberger Familien und brachten eine hohe Anzahl an Bankiers und Rabbinern hervor. Die Goldsterns galten als »Kohanim«, als direkte Nachfahren des biblischen Aaron, und gehörten damit zur religiös privilegierten Priesterkaste.59 Später siedelten sich einige Goldsterns in Odessa an, wo 1865 Samuel als Sohn eines Getreidegroßhändlers geboren wurde. Wegen revolutionärer Umtriebe musste Samuel Goldstern mit zwanzig Jahren aus Russland fliehen und kam nach Wien.

Lenes Mutter Manja, eine geborene Bernstein, stammte aus einer reichen jüdischen Familie im ukrainischen Winnyzja und kam aus Russland zum Studieren nach Wien. Nach nur einem Semester wurde sie allerdings von ihrer Tante mit Dr. Samuel Goldstern verkuppelt, der nach seiner Ausweisung aus Russland in Wien sein Medizinstudium beendet hatte.60 Nach der Hochzeit kaufte das Ehepaar gemeinsam die Fango-Heilanstalt, ein Sanatorium, das sich auf die heilende Wirkung von vulkanischem Fango-Schlamm aus Italien spezialisiert hatte. Neben der Klinik, in der jährlich über vierzig Tonnen Heilschlamm verwendet wurden, gehörten Samuel und Manja auch noch zwei Miethäuser, die zum Familieneinkommen beitrugen.61

Ihre Kindheit verbrachten Lene und ihre drei Geschwister Lucie, Alexander und Claire umgeben von Gouvernanten, Dienstmädchen und Privatlehrern. Die Wohnung der Goldsterns hatte keine Küche, alle Mahlzeiten wurden aus der Klinikküche geliefert. Weil es in der Lazarettgasse auch keine Geschäfte gab, war Lene ganze zehn Jahre alt, als sie das erste Mal ein rohes Ei sah.62

Obwohl Samuel Goldstern aus einer religiösen Familie stammte, spielte das Judentum in Lenes assimiliertem Elternhaus keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Jedes Jahr um die Weihnachtszeit ließen die Goldsterns einen großen Christbaum in der Fango-Klinik aufstellen und die Kinder verteilten Geschenke an die vielen Mitarbeiter.

Ab ihrem zehnten Lebensjahr besuchte die blondgelockte Lene ein Realgymnasium in der Josefstadt, eine der wenigen Schulen Wiens, die damals Mädchen auf die Matura vorbereitete. Die aufgeweckte Lene, die zuhause oft im Schatten ihrer älteren Schwester Lucie stand, genoss die Schulzeit sehr. In den stürmischen Zeiten gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Klassenbeste von ihren Mitschülerinnen als Vertreterin für ein neues Schülerparlament gewählt – und hier kreuzten sich die Wege der reichen Bürgerstochter und des Arbeitersohnes.

Ernst Papanek, der Vertreter seines Gymnasiums, hatte eine Führungsrolle in der sozialistischen Mittelschülerbewegung und es dauerte nicht lange, bis er und Lene sich anfreundeten. Rasch formte sich eine Clique sozialistischer Jugendlicher, zu der auch Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, gehörte. Man traf sich in Dirndlkleid und Lederhosen zum Wandern, zum Volkstanz und vor allem zum Diskutieren politischer Theorien. Lene las Marx und Engels, ging in die Arbeiterbezirke Wiens, um Mitgliedsbeiträge für die SDAP einzusammeln, und demonstrierte für die Freilassung Fritz Adlers. »Ich werde nie die Begeisterung vergessen, die mich dazu gebracht hat, in einer Menschenmenge zu marschieren«, erinnerte sie sich später.

Außer Lene war Mutter Manja Goldstern die Einzige in der Familie, die sich für Politik interessierte. Während sich Vater Samuel Goldstern ganz auf die Klinik konzentrierte, hatte Manja kein Problem damit, wenn ihre junge Tochter an Demonstrationen teilnahm. Manja ließ ihren Kindern viele Freiheiten und betonte weltoffene Werte wie Aufrichtigkeit, Toleranz und Respekt, obwohl sie zugleich sehr strenge Moralvorstellungen hatte. Sie war es auch, die alle ihre Töchter darin unterstützte, zu studieren – keine Selbstverständlichkeit für die Zeit.

Samuel Goldstern verlangte, dass zumindest eines seiner Kinder Medizin studierte, um später die Klinik zu übernehmen. Der Familienpatriarch setzte alle seine Hoffnungen auf den einzigen Sohn Alexander, doch der stellte schon als junger Bub klar, dass er daran kein Interesse hatte. Also begann Lene 1919 Medizin zu studieren und gewann dadurch in den Augen ihres Vaters an Achtung. »Er war sehr von meinem Bruder Alex enttäuscht und nannte mich jetzt seinen Sohn«, erklärte sie Jahrzehnte später.

Während ihres Studiums engagierte sich Lene Goldstern gemeinsam mit Ernst Papanek bei der Greisenhilfe und den Spielkameraden, unter anderem inszenierte sie Theaterstücke mit den Straßenkindern: »Ich war sehr begeistert davon, an all diesen sozialen Aktivitäten beteiligt zu sein und Menschen zu helfen, und eine Sozialistin zu sein.«

Für die ersten ein, zwei Jahre ihrer Freundschaft blieben Ernst und Lene nur das: Freunde. Ernst Papanek hatte wie erwähnt eine ganze Reihe an Verehrerinnen und eigentlich war er mit Lenes bester Freundin Bertl zusammen. Eines Tages gestand er Lene jedoch, dass er Bertl gar nicht wirklich mochte und nur nicht wusste, wie er die Beziehung beenden sollte. Sie überzeugte ihn, dass Ehrlichkeit die beste Methode sei, er sprach mit Bertl, und kurz darauf waren Lene und Ernst ein Paar. So sehr man als Unverheiratete im bürgerlichen Wien eben ein Paar sein konnte. In späteren Jahren sprach Lene Papanek immer von einer »Affäre«.

Fast jeden Abend aß Ernst bei den Goldsterns, danach nahm Lene ihn mit auf ihr Zimmer. Er hatte ihr ein Buch von Paolo Mantegazza, einem frühen Pionier der Sexualwissenschaft, geschenkt und es war oft bereits spät in der Nacht, wenn er die Fango-Klinik verließ. »Ich wusste nicht, was sich meine viktorianische Mutter dabei dachte«, erinnerte sich Lene Papanek später. »Ich wollte sie nicht verletzen, also erzählte ich ihr nichts, und sie fragte nicht.«


Nach seiner Hochzeit lebt das junge Ehepaar erst in der Fango-Klinik, die von Lenes Vater Samuel Goldstern geleitet wird, dann zieht es an den Flötzersteig.


Oft trifft sich hier nun die Familie in unterschiedlichen Konstellationen, vor allem um die Buben Gustav und Georg zu besuchen.


Die Großmütter Manja Goldstern und Rosa Papanek haben den kleinen Gustl in ihrer Mitte, rechts auf der Bank sitzt Lene Papanek.


Ernst Papaneks Geschwister mit ihren Ehepartnern, Lene und Rosa halten die Buben auf dem Schoß.

Lene und Ernst hatten gleichzeitig mit dem Medizinstudium begonnen, Lene aber nahm es wesentlich ernster. Ernsts schlechte Noten und der fehlende Studieneifer störten sie nicht, ein Problem gab es jedoch: »Ich bewunderte ihn sehr, mit einer Ausnahme. Ich konnte Kahlheit nicht aushalten und Ernst bekam eine Glatze. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich immer gesagt hatte, es ist mir egal, wie ein Mann aussieht, wenn er nur sich selbst treu bleibt.«

***

Es ist nicht ganz einfach, sich auf die Spur von Lene Papanek zu begeben. In Erinnerungen von Weggefährten überstrahlt der charismatischere Ernst sie meistens, nach Lene muss man richtiggehend suchen. Einen besseren Einblick erhält man nur in autobiografischen Fragmenten, die sie gegen Ende ihres Lebens zusammen mit mehreren Ghostwritern geschrieben hat. Und im Gespräch mit Gus, dem ältesten Sohn der Papaneks.

Im Oktober 2019 besuche ich Gus Papanek in Brookhaven, einer luxuriösen Seniorenwohnanlage in Lexington. Die Stadt im Bundesstaat Massachusetts liegt eine halbe Stunde von Boston entfernt und ist in Amerika berühmt, weil hier 1775 der erste Schuss im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fiel.

Gustav (Gus) Papanek war lange Zeit Wirtschaftsprofessor an der renommierten Harvard University und reist noch heute – mit über 90 Jahren – durch die Welt, um Regierungen zu wirtschaftspolitischen Themen zu beraten. Das Wochenende meines Besuches ist etwas stressig, weil Gus gemeinsam mit seinem Sohn Tom dabei ist, das Haus zu verkaufen, in dem er jahrzehntelang mit seiner verstorbenen Frau gelebt hat. Trotzdem nimmt er sich einige Stunden Zeit, um mir aus dem Leben seiner Familie zu erzählen. Der ältere Herr freut sich, dass ich ein Buch über seinen Vater schreibe. »Wir alle haben Ernst sehr bewundert und möchten, dass alles getan wird, damit an ihn erinnert wird«, erklärt er mir lächelnd, während wir Lunch bestellen.

Bei dreierlei Burgern und Cobb Salad erzählt mir Gus lebhaft von seiner Kindheit im sozialdemokratischen Wien, beim Cheesecake mit Vanilleeis sind wir in Frankreich angelangt, wo der Dreizehnjährige gemeinsam mit den anderen Flüchtlingskindern im Heim lebte. Nach Kaffee und Tee ziehen wir uns in seine gemütliche neue Wohnung zurück und Gus berichtet mir von der abenteuerlichen Flucht der Familie nach Amerika. Beim Sprechen stützt der 93-Jährige oft seinen Kopf auf eine Hand. Sonst verraten nur ein Spazierstock und ein Computerbildschirm mit Extra-Zoom in Größe eines Fernsehers das Alter des Nationalökonomen. Gegenüber seinem Schreibtisch stehen dutzende Familienfotos, die ganze Wohnung schmücken eindrucksvolle Kunstgegenstände aus Pakistan, wo Gus, seine Frau Hanna und ihre Kinder viele Jahre lebten. Neben dem Regal hängt eine Zeichnung von Schiele, ein Original. »Den Schiele hat meine Mutter Lene damals für nur 900 Dollar in New York gekauft«, erklärt mir Gus. »Heute ist er natürlich ein Vielfaches wert.«

Als Tom seinen Vater für die Hausübergabe abholt, schenke ich Gus zum Abschied ein Mitbringsel aus seiner alten Heimat: Mozartkugeln. »Wie kann ich jetzt aufhören, wo du mir Mozartkugeln mitgebracht hast?«, fragt mich der Süßigkeitenliebhaber lachend und erzählt mir dann noch eine halbe Stunde von der Beziehung seiner Eltern.

»Mein Großvater Samuel war gar nicht begeistert von der Idee, dass seine Tochter diesen armen und radikalen Buben heiraten wird, der aus einer ganz unwichtigen Familie kommt«, beginnt er. »Außerdem galt Lene als die hässliche Schwester in der Familie und wie konnte Ernst, der bei so vielen jungen Frauen beliebt war, sie heiraten wollen? Ihr Vater war überzeugt davon, dass Ernst sie nur wegen ihres Geldes heiraten wollte. Er hat meiner Mutter gesagt, Ernst wird nie in seinem Leben etwas verdienen, er kümmert sich die ganze Zeit nur um die Partei und politische Fragen.«

Nach einer Pause fährt Gus fort: »Aber ich glaube, meine Eltern haben sich sehr geliebt. Ich denke, Ernst wusste zu schätzen, dass Lene eine kluge, toughe, kämpferische Frau war. Meine Mutter war immer eigensinnig und hat sich von ihrem Vater nicht beeinflussen lassen.«

***

Lene und Ernst waren bereits seit über fünf Jahren ein Paar. In den Augen aller Goldstern-Frauen gehörte Ernst längst zur Familie, doch noch immer wehrte sich Lenes Vater gegen die Hochzeit. Er holte sich sogar Hilfe beim Anatomie-Professor Julius Tandler, bei dem Lene und Ernst Vorlesungen belegt hatten. Wenig überraschend hatte dieser nichts Gutes über den schlechten Studenten zu sagen, doch Lene blieb dabei: Sie würde Ernst heiraten.

Samuel Goldstern ließ sich schließlich auf einen Kompromiss ein. Er verlangte, dass Lene ihr Studium abschloss, bevor sie heiratete, damit auf dem Diplom ihr Mädchenname stehen würde. Lene promovierte am 23. Juni 1925 – zwei Tage später heiratete die 24-Jährige den ein Jahr älteren Ernst.

Nach der Hochzeit lebten die Papaneks erst einmal in der Fango-Heilanstalt. Lene arbeitete als Ärztin für ihren Vater. Mit der Zeit schaffte sie es bis zur Oberärztin, doch die Arbeit in der Kurklinik langweilte sie oft. Es war eine Mischung aus Verantwortungsgefühl ihrem Vater gegenüber und dem guten Gehalt, das er ihr zahlte, die sie dort hielt.

Am 12. Juli 1926 kam der erste Sohn der Papaneks auf die Welt: Gustav Fritz, benannt nach Gustav Mahler und Fritz Adler. Ein Foto kurz nach Gustls Geburt zeigt die strahlenden Eltern, die beim Anblick ihres Sohnes um Jahre jünger wirken. Fünf Jahre später, am 2. April 1931, folgte dann Georg Otto, genannt Schorschi. Diesmal war Otto Bauer der Namenspatron.

Nach der Geburt ihres Erstgeborenen zog die kleine Familie in ein Reihenhaus in der Antaeusgasse 46, das Ernst Papanek durch Beziehungen zur Partei mieten konnte. Das Haus war Teil einer sozialdemokratischen Siedlung am Flötzersteig in Penzing und lag eine gute Stunde von der Fango-Klinik entfernt am westlichen Rand Wiens. (Heute sind die Häuser durch viele moderne Anbauten erweitert, aber die wehrhaften Torbögen und moosbewachsenen Mauern erinnern noch immer an die sozialdemokratische Siedlung der 1920er Jahre.)

Vor dem Haus wuchsen Erdbeeren, Blumen und ein Kirschbaum, im Garten auf der Rückseite gab es eine Sandkiste für Gustl und Schorschi. Ihre Söhne erzogen die Papaneks atheistisch – ganz nach dem Motto »Religion ist Opium für das Volk« – und sozialdemokratisch. So ließen sie sich zum Beispiel nicht mit Mama und Papa, sondern mit ihren Vornamen ansprechen. »Die armen Papanek-Kinder haben keine Eltern – sie haben nur Ernst und Lene«, klagte sogar Otto Glöckel, immerhin der »Papst« der sozialdemokratischen Erziehung.63

Nach der Geburt Gustls blieb Lene ein Jahr zuhause, dann arbeitete sie wieder. Bei Schorschi nahm sie sich sogar nur einen Monat Babypause. Zeit ihres Lebens hatte die Ärztin sehr fortschrittliche Ansichten über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. »Eine Frau kann sehr wohl eine Ehefrau und Mutter sein und einen Beruf haben«, erklärte sie Ende der 1970er Jahre. »Frauen heute sollten wirklich den Mut haben und es ausprobieren.« Ein Kindermädchen, Mitzi, kümmerte sich um die Buben, während die Eltern arbeiteten.

Auch in ihrer Ehe hatte Lene sehr klare Ansichten und ihr war durchaus bewusst, worauf sie sich mit der Heirat eines Vollblut-Sozialdemokraten eingelassen hatte. »Als Ernst und ich heirateten, kannten wir uns schon so lange. Wir mussten nicht experimentieren und erst Dinge über uns herausfinden«, schrieb sie in ihren unveröffentlichten Memoiren. »Ich war nicht enttäuscht, dass Ernst so viel Zeit für die Politik verwendet hat. Ich habe immer gesagt, Politik ist sein Leben und ich bin seine Geliebte.«

Es war Lene Papanek, die das Geld für die Familie verdiente (in diesem Aspekt hatte ihr Vater Recht behalten), aber deswegen machte sie Ernst keine Vorwürfe. Lene glaubte fest daran, dass Liebe kein Grund sei, Gegenliebe zu verlangen, und dass jeder das Recht habe, persönliche Entscheidungen zu treffen.

Auf die Probe gestellt wurden Lenes Ansichten im Sommer 1927. Es war eine Zeit der politischen Unruhen in der jungen österreichischen Republik und Lene war schwanger. Gustl war ein Jahr alt und sie hatte gerade wieder angefangen zu arbeiten, Ernst studierte noch am Pädagogischen Institut und brachte kaum Geld nach Hause. Lene wollte nicht so rasch nach Gustl ein zweites Kind und ihre Eltern drängten sie zu einer Abtreibung. (Wegen auffälliger Herzgeräusche war der Eingriff legal möglich, heißt es in der Familie.)

Ein paar Tage nach dem Eingriff kam es am 15. Juli 1927 zum Justizpalastbrand. Tausende von wütenden Arbeitern protestierten gegen das als ungerecht empfundene Urteil im sogenannten »Schattendorfer Prozess«, dabei brach Feuer im Justizpalast aus. Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz und weitere sozialdemokratische Führer versuchten, die aufgebrachten Demonstranten zu beruhigen, doch diese weigerten sich, Löschwägen durchzulassen. Die Polizei fing an, in die Menge zu schießen. Am Ende des Tages gab es 89 Tote.

Auch Ernst Papanek fuhr zum Justizpalast, um beruhigend auf die Arbeiter einzuwirken. Die ganze Nacht über meldete er sich nicht, niemand wusste, wo er war und ob er noch lebte. Lene saß schlaflos neben dem Telefon, mehr besorgt als wütend.

Um 10 Uhr morgens rief Ernst endlich an. »Ich war froh, dass ihm nichts passiert war«, erinnerte sich Lene Papanek noch Jahrzehnte später. »Und ich war stolz, dass er so einen Einfluss auf die Arbeiter hatte und Seitz helfen konnte. Aber ich war auch verletzt und hatte das Gefühl, dass er mich und unsere Liebe vergessen hatte. Er hätte sich Sorgen um mich machen sollen, so kurz nach der Abtreibung.«

Mit etwas Abstand stellte sie resigniert fest: »Das ist der Nachteil, wenn man mit einem Mann verheiratet ist, der sein Leben der Rettung der Menschheit gewidmet hat.«

Auf Wiedersehen, Kinder!

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