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Kapitel 1: Gruppentherapie
ОглавлениеIch war viel zu früh da, dieses Preußentum steckte mir zu tief in den Knochen. Damit war man heutzutage vollkommen unpopulär. In Zeiten der Handydauerträger mit programmierten Terminerinnerungen und Hochpräzisionsuhren gehörte es längst zum guten Ton, grundsätzlich zu spät zu kommen.
Ich bewegte mich in Richtung des Gruppenraumes, zu schlapp für irgendeine Stimmung. In den vergangenen drei Tagen war ich jedes Mal die letzte im Fernsehraum gewesen, leider waren nicht alle Zimmer der Klinik mit einem Fernsehapparat ausgestattet. An allen Abenden hatte ich mir französische Filme angeschaut, die immer noch auf dieselbe Art gedreht wurden: ausufernde Szenen von Belanglosigkeiten, dieselben klapprigen Autos und Frisuren ohne Schnitt. Die Franzosen bringen es fertig, eine Mahlzeit mit riesigem Getue vorzubereiten, versetzen dabei eine ganze Gesellschaft in Aufregung und am Ende liegen auch nur Messer und Gabel auf dem Tisch.
Ich ging den Stationsflur entlang. Der Gruppentherapieraum lag am hinteren Ende links, das letzte Zimmer vor einer stummen Glastür, die den Flur beendete. Gleichzeitig bildete die Wand, in der sie eingelassen war, die Außenwand des Gebäudes. Früher, bevor in das Haus eine Klinik einzog, ließ sie sich öffnen und führte direkt auf die Feuerflucht, dicht an der Hausfassade entlang, gewissermaßen als Verlängerung des Flures. Jetzt zog sich ein riesiger, zwanzig Zentimeter breiter und fünf Zentimeter dicker Stahlriegel quer über die Tür. Zusätzlich hing ein Schild davor mit dem Hinweis: kein Ausgang. Auf den Stühlen im Gang hatte ich schon öfter gewartet und dabei den Beschiss mit der Tür entdeckt. Denn nur, wer genauer hinblickte, bemerkte, dass vom alten Fluchtweg zwar das Geländer noch vorhanden war, aber nicht der Boden. Makaber. War die Warnung eine versteckte Aufforderung an die Insassen? Ich dachte an meine Mitpatienten, von denen die meisten gebückt schlurften wie die Wolgatreidler, mit dem Blick ins Leere oder nach unten, als folgten sie ausgestreuten Brotkrümeln. Es war eindeutig ein Irrtum, zu glauben, man trüge seine Probleme versteckt nach innen.
Ich hielt diese Gedanken in meinem Tagebuch fest, das ich fast immer bei mir trug und fragte mich, ob ich bei meinem Einzug hier denselben Anblick geboten hatte. Im Tagebuch nachlesen konnte ich es nicht, leider war ich damals nicht in der Verfassung gewesen, auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen.
Die Station hier bestand eigentlich aus zwei Stationen, einer geschlossenen und einer offenen, die im sogenannten Wachzimmer aneinander grenzten. In diesem wurden die akuten Neuzugänge gesammelt, wo sie solange unter Kontrolle des Personals standen, bis eine Diagnose erstellt war und sie einer der beiden Stationen zugeteilt werden konnten. Wir auf der offenen Station hatten mit den wirklich harten Fällen nichts zu tun, aber über die Geschehnisse im Wachzimmer drang schon ab und zu etwas nach draußen.
Am meisten hatte mich bisher die Geschichte von Rudi berührt, die sich kurz nach meiner Ankunft hier ereignete. Rudi war nur wenig älter als ich, aber absolut überzeugt, ein ehemaliger B52-Bomberpilot im Vietnamkrieg gewesen zu sein und das quälte ihn. Er wollte dafür büßen und zündete sich eines Tages im Waschraum selbst an. Zwar wurde er erwischt und gerettet und auf eine andere Station verlegt, bis seine Brandwunden verheilt waren, aber seine inneren Qualen blieben unbehandelt. Als er wieder bei uns auftauchte, stellte man ihn unter Dauerbeobachtung. Sogar zum Schlafen blieb eine Sitzwache an seinem Bett, um ihn an weiteren Suizidversuchen zu hindern. Aber nicht mit Rudi. Irgendwie schaffte er es, wahrscheinlich im Mund, eine Rasierklinge ins Bett zu schmuggeln. Nachts tauchte er unter seiner Decke ab und schnitt sich die Pulsadern auf, quasi unter den Augen seines Aufpassers.
Eine Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Schwester Renate stand neben mir und sagte: „ Die Therapiestunde wurde auf heute Nachmittag verlegt, meine Liebe. Haben Sie das nicht mitbekommen?“
Schwester Renate war meine Lieblingsschwester hier.
Mit ihrem Silberblick und der großen Nase zog sie sofort alle Blicke auf sich. Und erst mit ihrem Lachen, wenn sie sich auf ihren langen geflochtenen Rapunzelzopf gesetzt hatte und deshalb den Kopf nicht bewegen konnte!
Nach Renates Auskunft hatte ich noch Stunden Zeit. Ich beeilte ich mich nicht, zurückzugehen, stattdessen wandte ich mich erneut meinem Tagebuch zu. Es war der Spiegel meiner Verfassung. Aus erster Hand enthielt es meine gesamten spontanen und unverfälschten Gedanken, Gefühle und Wertungen, alles, was ich nie einem anderen, schon gar keinem Therapeuten erzählen würde, verwebt mit Erinnerungen an das letzte Jahr, die von Zeit zu Zeit auftauchten. Vor jedem Gesprächstermin überlegte ich, wie weit ich meine Antworten frisieren sollte, um einerseits die Ärzte zu beschäftigen und sie dennoch genügend auf Abstand zu halten. Ich war der Meinung, ganz gut damit zu fahren, schließlich war ich nicht freiwillig hier.
In der Zeit meines Aufenthaltes hier war ich schon viel ruhiger geworden. Ich sperrte mich nicht mehr gegen Problemdiskussionen vor Fremden, im Gegensatz zu meinen ersten Auftritten in der Gruppenrunde. Damals war ich störrisch und hatte keine Lust, immer wieder den ganzen Horror auszubreiten. Wiederholt bockig ließ ich die Weigerung, mich zu öffnen, heraushängen: „ Es ist leider ein Versehen, dass ich hier gelandet bin, statt auf dem Friedhof. Ganz sicher war es keine Rücksicht auf den, der die Schweinerei weggemacht hätte, auch kein Mitleid mit dem Straßenbahnfahrer, dessen Augen wie Kesselnieten aus seinen Höhlen traten, als ich angerannt kam….. am ehesten wohl Blindheit, die mich gegen die Bahn laufen ließ statt davor. Glück war es jedenfalls nicht….“
Ich sah eine Person auf mich zu stampfen und erkannte den langen Brand, der eigentlich auf die Nachbarstation gehörte. Ab und zu gelang es ihm, in seinem unstillbaren Drang zu laufen, von dort auszubüchsen. Er lief ohne Sinn und Verstand, unermüdlich und in demselben Tempo wie ein Schlittenhund. So lange, bis er vor einer Wand stand. Dann änderte er die Richtung und lief in gleicher Weise zurück. Unterwegs griff er sich blind diverse Dinge, die ihm in den Weg kamen, am liebsten Essen, das herumstand oder ein anderer Patient in der Hand hielt, nur, um es nach einem Bissen achtlos in die nächstbeste Ecke zu feuern. Die nicht essbaren Sachen verteilte er beliebig überall. Er lief die letzten Schritte bis zur Glastür an mir vorbei, drehte um und ehe ich mich versah, riss er mir mein Tagebuch aus den Händen und war in Null-Komma-Nichts verschwunden.
Ich kam zu spät, die Gruppentherapie hatte bereits begonnen. Unsere Psychologin, Frau Dr. Smolenskaja schaute mich tadelnd an. Na und, schließlich musste ich die ganze Zeit mein Tagebuch suchen, ohne Erfolg. Vor ein paar Wochen noch hätte ich vorgezogen, lieber zu schwänzen als in eine begonnene Veranstaltung zu platzen. Inzwischen machte es mir nichts mehr aus, es war mir scheißegal, wenn sie glotzten. Mir war ein wirksames Mittel dagegen angeboren, Kurzsichtigkeit. Für einen Kurzsichtigen ist das Gesicht seines Gegenübers schon ab etwa drei Meter etwas konturlos. Besonders den Augen fehlt Tiefe und Ausdruckskraft. Mit denen kann er dadurch problemlos beliebig lange einen direkten Augenkontakt aushalten. Das Gegenüber empfindet den Blick des Kurzsichtigen umgekehrt als sehr intensiv und fast immer wendet er, völlig verunsichert, als erster seine Augen ab, wie ich feststellen konnte.
Zwischen Odile und Vicky war ein Stuhl frei. Gegenüber, zwischen Arndt und Berger, saß Angie. Mit den beiden Männern verband mich besondere Vertrautheit, nicht zuletzt wegen ihrer skurrilen Krankheitsgeschichten. Zur Zeit jedoch schmollte ich mit ihnen, weil sie meiner Meinung nach Angie zu sehr hofierten, die ich wiederum überhaupt nicht ausstehen konnte. Für mich war sie eine Lügnerin.
Ich schickte eine Geste der Entschuldigung an die Smolenskaja und versuchte dann, das laufende Gespräch aufzufangen. Angie war darin verwickelt. Sie hatte ein Gesicht wie ein Posaunenengel, die Haare fielen wie Palmwedel über ihren Kopf, in vielen Stufen, sehr dick und sehr blond. Sie reichten ihr bis auf den Rücken, waren aber längst nicht so lang wie meine. Ich musterte sie und dachte: wenn man die Haare länger betrachtete, sahen sie doch eher wie der Pompon eines Cheerleaders aus. Sie faselte gerade über die Romantik des Todes. Ich beugte mich vor, um sie besser zu verstehen, da unterbrach sie ihren Redefluss, gab geräuschvoll mehrere erregte Atemzüge von sich und fächerte sich Luft zu. Vicky beendete als erste das betretene Schweigen, das entstanden war.
Ihr Einwand kam zögerlich: „Ich weiß nicht, mir ist es unangenehm, mir solche Szenen auszumalen. Ich möchte eher davon loskommen, sonst geht es mir nie besser.“
Ihre Freundin, die kleine, derbe Barbara neben ihr nickte und brummte mit ihrer tiefen Stimme, die stets ein wenig missbilligend klang: „Ich glaube, in den meisten Fällen ist es ein spontaner Entschluss. Da denkt man nicht darüber nach, wie man eine filmreife Szene hinkriegt.“
Ich nickte. Als es mir sehr schlecht ging, gab es jeweils nur einen einzigen Tag, und schon den glaubte ich nicht zu überleben. Wie hätte ich da im Voraus planen können?
Ich setzte zu einer Antwort an. Im selben Moment meldete sich ein paar Stühle entfernt Robert zu Wort, ein ruhiger, unauffälliger Mann Mitte dreißig, der sich praktisch nie von allein äußerte. Er flüsterte vor Scham: „Genau, das Wissen, dass das eigene Leben auf ganzer Linie gescheitert ist treibt einen in die totale Vernichtung, das ist keine Party.“ Sein Satz endete in einem Schluchzen.
„Das kann ich bestätigen.“ Die Blicke, die sich bei Roberts Schluchzen gesenkt hatten, hoben sich und wandten sich in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„ Die Bereitschaft zum Suizid verspürst du in dir oder auch nicht. Wenn der günstige Moment hinzukommt, dann tust du es oder auch nicht. Aber ernsthaft Gedanken darüber, wie er hinterher für die anderen aussieht, macht sich jemand, der akut unter Druck steht nicht. Sonst könnte er es nicht tun.“ Von wem war das gewesen? Ich musterte die Runde. Ah, unser Lehrer. Lehrer war wirklich Lehrer gewesen, zumindest so lange, bis man ihn vom Dach eines Zwanziggeschossers schleppte. Der musste es wissen. Wollte es richtig machen, mit Abschiedsbrief wie, wo und wann, hatte sich Mut angetrunken und dabei übertrieben, war auf dem Dach gestolpert und hatte sich mit einer Gehirnerschütterung außer Gefecht gesetzt.
Lustlos kippte ich auf meinem Stuhl nach hinten und stellte fest, dass immer wieder die gleichen Dinge erzählt wurden, manche kamen tatsächlich nie heraus aus der Falle.
Aber ich wusste auch, wenn es einem selbst besser ging, wurde man schnell unduldsam gegenüber den anderen in der Gruppe und befahl mir, nachsichtiger zu sein. Nur Angie hatte in meinen Augen keine Nachsicht verdient. Ich stellte mir vor, wie sie ihren Abgang als Event plante: um Gottes Willen keine Dreckwäsche hinterlassen, alle offenen Rechnungen bezahlen, Ehrensache, den Kühlschrank leeren, vielleicht sogar abtauen, ebenso den Müll entsorgen, und nicht vergessen, alle Termine abzusagen, am besten rechtzeitig vorher keine neuen mehr vereinbaren, wohin mit dem Vibrator, noch einmal die Blumen gießen, essen oder nicht, was mach ich bloß, wenn die im Supermarkt meinen Lieblingswein zum Abschied nicht haben, schminken oder nicht, und was zieh ich an? Ich grinste vor mich hin.
„Und was ist jetzt so lustig an dem Thema?“ Angies spitze Stimme zerstach meine Gedanken.
„Nichts, außer der miesen Show, die du hier abziehst“, giftete ich zurück, „Was meinst du, wie lange du dich so schön und konserviert wie Schneewittchen im Glassarg hältst? Soll ich dir sagen….“
„ Jetzt lasst sie doch mal“, wies Arndt uns zurecht, „ Todesszenarien sind für viele sehr ergreifend und beängstigend. Dass sie sich davon mit eigenen Fantasien ablenkt, werdet ihr Angie wohl zugestehen.“
Was war denn mit dem los, fragte ich mich. Litt er unter den Spätfolgen seiner schiefgegangenen Schlaftablettenüberdosis? Ich konnte nichts dafür, dass er seiner Mutter nicht den Gefallen getan hatte, an Stelle seiner Schwester zu ertrinken. Seine Mutter ließ ihn sein Leben lang dafür bezahlen. Natürlich verstand ich, dass Arndt sich geweigert hatte, sie zu pflegen, als sie nach einem Treppensturz im Rollstuhl saß und sich nicht mehr selbst versorgen konnte, jeder von uns hätte das getan. Pech für Arndt war, dass er dennoch richterlich dazu verdonnert wurde. Er versuchte, sich mit dem Freitod aus der Misere zu flüchten, hatte es aber vermasselt, weil er zu wenige Tabletten nahm.
Ich ignorierte ihn einfach und sprach im selben Ton weiter zu Angie: „Deine Todessehnsucht ist lächerlich und ärgerlich, weil sie unecht ist und weil du nur damit spielst.“
Sie protestierte und spuckte dabei vor Aufregung ein wenig: „Ich spiele nicht damit, nur, der erste Eindruck ist wesentlich. Stell dir mal vor, mein kleiner Sohn findet mich.“
Sie wollte allen Ernstes eine schöne Leiche sein, falls ihr Sohn sie finden sollte!
„Prima“, schrie ich sie an, „dann tust du ihm genau das an, was du deinen Eltern vorwirfst: ihn frühzeitig bis auf den Grund seiner Seele zu verletzen und für ein normales Leben untauglich zu machen, du dämliche Kuh.“
Berger sprang auf, rannte zum Fenster, lief dort unruhig hin und her, hielt sich die Ohren zu und rief: „Es wird nicht besser, niemals. Das hält keiner aus.“
Ihm zuliebe war ich bereit, Ruhe zu geben. Er tat mir leid, seine Geschichte war eine von unseligem Pech. Nur einem winzigen Missverständnis war es zu verdanken, dass er Insasse einer solchen Einrichtung geworden war.
In der Zeit davor war Berger ein fröhlicher Bürger gewesen und hatte als ein solcher begonnen, sich ein Wochenendhäuschen zu bauen. Eines Tages stand er vor dem laufenden Betonmischer, ein Kiesel drückte in seinem Schuh und er schüttelte seinen Fuß, um ihn los zu werden. Zufällige Spaziergänger deuteten seine Bewegungen als Zuckungen von einem, der unter Strom steht. Ihr erster Gedanke war: Stromfluss unterbrechen. Mit einer Schaufel schlugen sie Berger aus dem vermeintlichen Stromkreis. Ergebnis: Pneumothorax, Schädel-Hirn-Trauma, Koma…. Seitdem war er wesensverändert, von Ängsten und Depressionen geplagt.
Die Smolenskaja ging zu Berger und redete ruhig auf ihn ein. Aber er wollte am Fenster stehen bleiben.
Angie redete weiter und blickte mich provozierend an: „ Ich möchte wirklich liebend gern meinen Schmerz hinausschreien, aber ich werde ihn nicht los. Er wurzelt so tief und verzweigt in mir, würde ich versuchen, ihn herauszureißen, es würde mich zerfetzen. Eines ist aber noch schlimmer als der Schmerz: vom eigenen Ich entfernt zu sein.“
Arndt streichelte Angies Arm. Diese letzten Sätze hatten eine merkwürdige Wirkung auf mich. Ich glaubte plötzlich, meine Worte zu hören. Meine Worte aus ihrem Mund und ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte, wieso Angie sie benutzte. Woher kannte sie meine Gedanken?
Arndts Zärtlichkeit für sie regten mich zusätzlich auf.
„Sag mal, merkst du nicht, wie sie uns alle verarscht, wie sie sich lustig über uns macht?“, fuhr ich ihn an, „Gerade von dir habe ich in diesen Dingen ein klares Gespür erwartet.“
Arndt schaute betreten und schwieg.
Die Smolenskaja löste die Stille auf, die sich zwischen allen Anwesenden festgesetzt hatte: „ Ich glaube, wir brechen an dieser Stelle das Thema ab. Die Diskussion, wer hier lügt oder nicht, führt nur ins Leere und ich werde das eine oder andere Problem mit den Betreffenden im Einzelgespräch klären. Wollen wir uns lieber unserer Aufgabe vom letzten Mal zuwenden, Ideen für das Theaterstück zu sammeln?“
Keiner wollte beginnen.
Angie räusperte sich: „Dann fang ich mal an. Es sind natürlich alles noch lose Gedanken, ja?“ Sie räusperte sich noch einmal, hüstelte, bauschte ihre Haare und sprudelte los: „Also, ein Selbstmörder trifft bei einem Suizidversuch einen zweiten Selbstmörder und sofort ist ihr beider Vorhaben, sich das Leben zu nehmen, undurchführbar. Sie ziehen gemeinsam umher, suchen Gleichgesinnte und bilden eine Bande. Sie entführen den Angehörigen eines superreichen Familienclans, um mit dem erpressten Geld ihre Situation zu verbessern. Die reiche Familie zahlt nicht und ist gar nicht an der Freilassung interessiert, will eher die Situation nutzen, den Entführten günstig los zu werden, denn er ist genauso ein depressiver Versager und Selbstmörder wie seine Entführer …….“ Die meisten unserer Gruppe waren plötzlich munter, einer klatschte sogar Beifall und eine heitere Aufmerksamkeit verbreitete sich.
Nur ich war vollkommen überrumpelt, und saß wie gelähmt da. Oh mein Gott, dieses Gefühl, als sie über den Schmerz sprach, war begründet. Es waren wirklich meine Sätze, die sie zitiert hatte. Und das Theaterstück, das sie gerade vortrug, war exakt die Idee, die ich vor ein paar Nächten in mein Tagebuch geschrieben hatte!
„…..die Geisel verbündet sich mit der Bande und die haben nun die finanziellen Mittel, auf sich aufmerksam zu machen. In kurzer Zeit werden sie eine populäre Bewegung, die sich sogar zur politischen Wahl stellt. Mit ihren Forderungen gewinnen sie viele Stimmen, wie z.B. das verfassungsmäßige Grundrecht auf Depression, einen Depressionsbeauftragten in jedem Betrieb, einen jährlichen Volkstag „Pflicht zur Traurigkeit“ und so weiter…“
Mein Gesicht glühte und ich kochte innerlich so dermaßen, dass ich vernehmlich nach Luft schnappte. Besorgt fragte mich Odile: “Was ist, geht es dir nicht gut?“ Ich antwortete nicht, starrte nur kopfschüttelnd die schnatternde Angie an. Sie war so abgebrüht!
Unruhe hatte sich im Raum verbreitet, fast jeder redete mit seinem Sitznachbarn, einige spannen die Geschichte weiter, auf einmal wollte jeder das Stück mitentwickeln.
Frau Dr. Smolenskaja, die mitgeschrieben hatte, rief: „ Ruhe. Ich bitte Sie, lassen Sie immer nur einen reden, damit alle den geäußerten Gedanken folgen können“ Und zu Angie sagte sie freundlich: „ Sehr schön, Frau Feldt, Ihre Ideen klingen nach völlig neuen Ansätzen. Das halten wir auf jeden Fall fest. Weitere Vorschläge bitte.“
„ Mach weiter, Angie“, feuerte Ben sie an. Einige andere aus der Gruppe nickten.
Angie lächelte geschmeichelt: „ Ich habe noch tausend andere Ideen, ich habe sozusagen den ganzen Kopf voll damit.“
Nein, schrie es in mir, sie darf nicht weiter reden, ich muss sie stoppen. Wenn sie jetzt erzählt, wie wir Tante Ruth vom Friedhof geklaut haben, schnapp ich sie mir.
Wie befürchtet setzte Angie ihre Prahlerei fort: „Zum Beispiel fallen mir einige schräge Friedhofsszenen ein, schön gruselig mit Grabräuberei…..“
Das war das Signal. Wütend platzte ich heraus: „ Was fällt dir ein, dich mit fremden Federn zu schmücken, anderen ihre Gedanken und Ideen zu stehlen! Machst du das immer so, dann weiß ich ja, wo du deine Krankheit her hast, alles getürkt nämlich. Ist überhaupt irgendetwas echt an dir?“
Mit dem letzten Satz stürzte ich auf sie los, ignorierte Dr. Smolenskajas warnende Stimme: „ Oh ,oh ,oh , Frau Sonnenschein bleiben Sie auf Ihrem Platz“, packte Angie am Hals, ehe jemand reagieren konnte und schüttelte sie: „ Du verlogenes Miststück, rück das Buch heraus.“ Sie duckte sich, um auszuweichen und schleuderte ihren Kopf hin und her. Arndt versuchte, Angie mit seinem Oberkörper zu schützen und zwei weitere Personen wollten mich von ihr wegziehen. Erst als ein gellender Schmerzensschrei durch den Raum hallte, ließ ich von ihr ab und die zwei, die Angie zu Hilfe geeilt waren, blieben erschreckt neben mir stehen. Überrascht blickte ich auf meine Hand, in der ich Angies Wollschal hielt, den ich ihr über den Kopf gezerrt hatte und ein Büschel Haare. Im Gerangel waren Angies Haare nach vorn gefallen und dadurch haufenweise angetackerte Strähnen von Kunsthaar sichtbar geworden, zwei von diesen Extensions hatte ich ihr abgerissen. Jeder im Raum starrte darauf. Angie, immer noch vornüber gebeugt, hielt sich ihren Kopf und heulte. Bei Angies Schrei war Dr. Smolenskaja aufgesprungen, drängte sich nun aufgebracht zwischen uns und schimpfte mit donnernder Stimme: „Genug jetzt. Aufhören und Hinsetzen, jeder auf seinen Platz. Es reicht. Sie benehmen sich schlimmer als kleine Kinder.“ Beim letzten Satz hatte sie mich angeschaut und stand jetzt mit ausgebreiteten Armen vor Angie.
Mir reichte es nicht, blitzschnell schlüpfte ich unter ihrem Arm durch und holte mit der rechten Hand aus. Jemand packte mich am Arm, um mich vom Prügeln abzuhalten, aber der Schwung reichte, mein Ring rutschte vom Finger, flog durch den Raum, sprang klingelnd an ein Stuhlbein und trudelte irgendwo auf dem Filzteppich aus. Alle schauten erschrocken hinterher. Dies wäre der Moment gewesen, zu lachen, sich zu entschuldigen, zu erklären, dass ich ihr bestimmt keine Ohrfeige verpasst hätte, aber ich wollte nicht. Wütend blitzte ich in die Runde:
„Sie soll aufhören, geklaute Geschichten zu erzählen. Es sind meine. MEINE, versteht ihr? Sie hat mein Tagebuch gelesen.“ Meine Stimme versagte.
Keiner antwortete. Ich konnte es nicht ertragen, wie sie jetzt mit offenem Mund hier saßen, während sie vorher zu blöd gewesen waren, diese Hochstaplerin zu durchschauen.
So warf ich Arndt nur angewidert den Wollschal zu und rannte aus dem Raum.