Читать книгу Heute sterben wir noch nicht - Lily Zimmermann - Страница 8
Kapitel 5: Este Schritte
ОглавлениеArztbesuche konnte ich mir sparen, sie führten zu nichts. Schuld daran waren die Wartezimmer, saß ich in einem, war ich prompt gesund. Sie wirkten dermaßen zermürbend auf mich, dass ich vergaß weshalb ich da war und spätestens im Sprechzimmer hatten sich alle Beschwerden verflüchtigt. Ich schilderte zwar aufgetretene Symptome, aber ich erschien nicht glaubwürdig. Und genauso war es; die Ärzte glaubten nicht, dass es mir schlecht ging. Sie hatten einen merkwürdigen Blick drauf, von dem ich mich entlarvt fühlte. Ja, ich las in ihren Gedanken, dass sie mich für eine Simulantin hielten, die sich vor der Arbeit drücken wollte.
Das Wartezimmer in der Praxis, zu der Felix mich geschleppt hatte, verschreckte mich nicht. Im Gegenteil, Apricot-Töne an Wänden und in den Bodenbelegen verwandelten jedes einfallende Licht in warmes Leuchten, viele Grünpflanzen sprossen und rankten um die Wette und die Wände waren übersät mit Bildern, von Postkartenformat bis Fenstergröße, kurz, in diesem Wartezimmer saßen die Patienten wie auf einer Kurortpromenade im sonnigen Meran.
Die Ärztin, elegant mit leicht mondänem Touch, saß aufmunternd lächelnd vor uns: „Weshalb sind Sie zu mir gekommen?“
„Weil er es so wollte“, wies ich mit dem Kopf auf Felix neben mir.
„Ach ja, der junge Mann, der sich so rührend um Sie gekümmert hat, wie ich hörte…“, Felix nickte, als sie ihn ansah „…und der sich auch weiterhin kümmern wird? Sie regeln die Angelegenheiten mit dem Arbeitgeber und so weiter?“ Felix nickte wieder.
Ich schluckte, als würde mir gerade erst bewusst werden, was das hieß. Felix hatte mich geduscht, meine Haare gewaschen, mich angezogen und gekämmt. Er hatte sich um die Wäsche und das Essen gekümmert. Er kannte mich so, wie ich ihn mir bis jetzt nicht einmal vorgestellt hatte. Hitze schoss mir ins Gesicht.
„Warum wollte ihr Freund, dass Sie kommen?“
„Ich habe unaufhörlich Schmerzen und mir ist ununterbrochen schlecht.“
„Was genau schmerzt?“
Mein Gott, wo sollte ich anfangen mit dem Aufzählen: das Hüftgelenk, das Stützen der Hände auf die Oberschenkel, die Schultern, wenn die Arme baumeln, die Knie sowieso, die Finger, wenn ich sie zur Faust ballte, beim Kauen kommen mir die Tränen, ich konnte keine Flasche aufdrehen und mir keine Scheibe Brot abschneiden.
„Eigentlich alles, angefangen von den Fußsohlen vom Stehen, bis… ja, manchmal schmerzt der Ring am Finger.“
„Und können Sie die Übelkeit beschreiben?“
Warum war sie so erpicht, das Kotzen geschildert zu bekommen? War der nie schlecht? Nein, beantwortete ich mir nach einem Blick auf die Ärztin die Frage selbst, sie ist der Typ Frau, der ab vierzig nicht mehr altert, die hat keine Probleme.
„Sie traut sich nicht raus, nicht zur Arbeit und überhaupt nicht unter die Leute. Seit Wochen verkriecht sie sich zu Haus“, half Felix mir auf die Sprünge.
„Gab es einen Anlass? Meiden Sie bestimmte Leute? Geraten Sie oft in Streit mit anderen? Warum verstecken Sie sich?“, fragte die Ärztin mich weiter.
„ Es ist völlig egal, was für Leute ich draußen treffe. Es reicht schon, wie sie gucken, mich angucken, das allein macht mich völlig fertig. Vielleicht fordere ich es heraus, wissen Sie, ich bin nun mal kein Menschenfreund, aber bisher ist mir davon noch nicht schlecht geworden.“
Die Ärztin starrte auf ihren Stift: „Am besten, ich gebe Ihnen einen Fragebogen, den Sie sich bitte ganz in Ruhe anschauen und beantworten. Dann sehen wir weiter. Melden Sie sich einfach, wenn Sie fertig sind.“
Fühlten Sie sich in den letzten vier Wochen häufig traurig? Hatten Sie in den letzten vier Wochen oder länger….? Vier Wochen? Mir fiel schon schwer, die letzten fünf Tage zu rekonstruieren. Ich las die Fragen und wusste keine Antworten, dabei waren mir die helfend vorgegeben mit „trifft überhaupt nicht zu“, „trifft manchmal zu“, „weiß nicht“, „trifft oft zu“, „trifft in vollem Umfang zu/immer zu“. Dazu hätte ich mich intensiv in meine Gefühle und Erinnerungen versenken müssen. Wenn ich in mich ging, erblickte ich nichts, alles war leer. In meiner Außenhülle musste es einen oder mehrere Risse geben, durch die meine Substanz entwichen war.
Ich hatte Felix versprochen, nicht wegzulaufen, konnte aber auch nicht ewig hier hocken. Deshalb beschloss ich, spontan und aufs Geratewohl die Kreuzchen zu setzen. Und los ging es: Leere und Sinnlosigkeit? Ja. Bindungslos und ausgegrenzt? Ja. Natürlich bin ich überzeugt, dass jemand mein Handeln lenkt, klar stehe ich ab und zu neben mir und schau mir selber zu. Schon lange bin ich lebensmüde und kraftlos. Angst? Sicher, immer. Wut, Hass, Aggressionen? Ja, ja, ja. Hinter die Fragen Nr. 43:Unbehagen in der Öffentlichkeit, Nr.26: der Überzeugung, nicht willkommen zu sein, wenn ich auf eine Gruppe Menschen stieß und Nr.32: dass allgemeines Lachen in meiner Nähe für mich hieß, ausgelacht zu werden, setzte ich Ausrufezeichen.
Felix befand sich gerade ein paar Tage auf einer Recherchereise, was bei seinem Job häufig vorkam. Die Zeit ohne ihn kam mir endlos vor, sofort machte ich mich wieder ganz klein und verkroch mich. Erstaunlich schnell hatte ich mich an seine Fürsorge gewöhnt, ohne ihn wirklich näher kennengelernt zu haben.
Jeden Morgen, wenn er anrief, musste ich ihm versichern, weiter zu allen angesetzten Untersuchungen zu gehen. Untersuchungen, die Schilddrüsen-Ultraschall, Kopf-CT, Wirbelsäulenröntgen umfassten und diverse Laboruntersuchungen von Hormonen, Rheumawerten und weiß ich wie vielen Faktoren noch, die alle bewirken konnten, dass ich mich seltsam benahm. Nach Auswertung aller Befunde stand ein ausführliches Gespräch an. Bis dahin war ich auf jeden Fall krankgeschrieben, wahrscheinlich sogar länger. Das Schöne am Kranksein war, dass ich nicht mehr in die Kanzlei musste.
Nach alter Gewohnheit wäre ich bei so feuchtkaltem Wetter nicht aus der Wohnung gegangen. Es kostete mich grundsätzlich jedes Mal eine Riesenüberwindung, allein loszuziehen, schweißnass mit Herzrasen, feuchten Händen, Grummeln im Bauch und Unruhe, von der mir schwindelig wurde. Abends fragte Felix am Telefon regelmäßig nach, wie die jeweilige Untersuchung gelaufen war.
Die von meiner neuen Hausärztin empfohlene Radiologie-Gemeinschaftspraxis war ein großes, modernes Zentrum mit allen hochentwickelten Untersuchungstechniken, untergebracht in einem mehrgeschossigen, fast vollständig verglasten Neubau. Ich ging auf den Kasten an der Straßenecke zu und wurde mit jedem Schritt kleiner. Im Stil der allerjüngsten Bauzeit passte sich die Form solcher Eckgebäude neuerdings exakt dem Straßenverlauf an den Kreuzungen an, was viele spitzwinklige Häuser, die fast bis zum Straßenrand reichten, hervorbrachte und ein bedrückendes Gefühl von Platzmangel und tiefer Häuserschluchten erzeugte. Dem von mir angesteuerten Haus war jedoch erfreulicherweise nach Altberliner Art die Spitze gestutzt worden und an der entstandenen stumpfen Ecke befand sich der Eingang. Zum Glück mit Automatiktür, sonst hätte ich nicht gewusst, durch welche Scheibe ich hinein gelangen sollte.
Im Erdgeschoß traf ich auf mehrere Anmeldeschalter und einen Betrieb wie auf dem Flughafen, was Lautsprecherdurchsagen und elektronische Anzeigetafeln noch verstärkten.
Eingeschüchtert und voller Abwehr blieb ich stehen. Die Personen ringsherum wurden in vielstellige Nummern transformiert und digitalisiert. Mich plagten abschreckende Vorstellungen. Bei mir würde sich garantiert ein winziger Zahlendreher einschleichen und ich wäre dann für alle Zeit unauffindbar, einfach verschwunden. Oder, die Befunde konnten falsch zugeordnet werden, die harmlosen Ergebnisse den Kranken und die tödlichen Diagnosen den Gesunden. Ich musste hier weg.
Ich erinnerte mich, dass es in der Nähe ein kleines Ärztehaus gab, zu dem auch eine eigene kleine Röntgen-und Laborabteilung gehörte und verließ das hektische Glashaus.
Die Röntgenabteilung des kleinen Ärztehauses befand sich in einem Nebengebäude. Um zu ihr zu gelangen, musste ich durch die Toreinfahrt und betrat einen verlassenen Hinterhof. Die Hauswände passten zu dem Grau des Himmels, aber es war nicht allein der feine Nieselregen, das alles so trostlos erscheinen ließ. Kein Mensch war zu sehen, kein Geräusch zu hören, das auf irgendeine Tätigkeit hinwies. Nur geschlossene Fenster und Türen, nicht einmal Mülltonnen gab es. Im hinteren Seitenflügel entdeckte ich eine Tür, die wie eine Feuerschutztür aussah. Ich ging darauf zu und las auf dem angebrachten Schild, dass ich hier richtig war.
Ich musste in den dritten Stock. Der Fahrstuhl war in den Schacht des Treppenhauses gebaut. In seinem Gehäuse, gebildet von mächtigen Stahlgittern, sah ich die Kabine hoch über mir an riesigen Seilzügen, die mir seltsam schlaff vorkamen. Ich traute der Konstruktion nicht und stieg die Stufen zu Fuß hinauf.
Oben herrschte dieselbe Tristesse. Der Boden des Flures war mit Linoleum ausgelegt, das Muster erinnerte mich an geplatzte Senfbecher auf Tonerde. Die Wände in verschiedenen Braun- und Lehmtönen gestrichen, passten dazu. Keine Fenster, die Türen geschlossen. Und immer noch kein Mensch. Aber vor einer schlammfarbenen Tür ein weiteres Schild, hilfreich für einen verirrten Besucher, darunter ein Kasten, in den ich meine Karte und den Überweisungsschein legen konnte. Jetzt war ich angemeldet, ohne ein Wort, ohne Fragen. Ich horchte in die Stille.
Heute sollte nur meine Halswirbelsäule durchleuchtet werden, nichts Besonderes.
„Frau Sonnenschein, Kabine Zwei.“ Jäh aus meinen Gedanken gerissen, hörte ich eine Stimme und gleichzeitig öffnete sich eine Tür, auf der tatsächlich eine Zwei zu erkennen war. Aha, dort hinein.
Drinnen befolgte ich alle Hinweise zur Vorbereitung und trat dann nur mit Slip und Socken bekleidet durch die zweite Tür der Kabine in das Untersuchungszimmer. Dort traf ich auf eine Schwester, die mir ihren Rücken zuwandte. Sie ignorierte meinen Gruß, drehte sich mit einer Patientenakte in der Hand zu mir und fuhr mich an: „Wissen Sie, das Röntgen allein bringt keine Verbesserung, auch wenn Sie jetzt alle vier Wochen kommen oder noch öfter. Das habe ich Ihnen schon beim letzten Mal gesagt.“ Wo war ich denn hingeraten? Unwillkürlich suchte ich nach Dienstgradabzeichen auf den Schultern ihres Schwesternkittels. Irritiert blinzelte ich sie an: „Wie bitte? Ich war noch nie hier.“ Ich konnte es beschwören. Außerdem hätte ich solchen Umgangston sicher kein zweites Mal auf mich genommen. Aber das konnte man dieser Person schlecht sagen. Sie war zwar nicht viel größer oder kräftiger als ich, aber sie war zumindest angezogen. Und schon griff sie mich weiter an: „ Erzählen Sie mir doch nichts. Ich habe es hier schwarz auf weiß. Sie sind doch Frau Sonnenschein, Sina?“
„Ja.“
„ Und Sie kommen zum HWS- Röntgen?“
„ Ja, stimmt auch.“
„ Jahrgang ´91?“
„ Hm.“
„ Na also. Wie ich schon sagte, das ist doch keine Therapie hier. Bei Ihren Beschwerden muss etwas anderes veranlasst werden.“ Dabei gab sie Daten in eine Tastatur ein und verstellte zwei Hebel am Röntgengerät, das in der Mitte des Raumes aufgebaut war. In mir stritten sich Empörung, Ratlosigkeit und Selbstzweifel. Mir fiel ein, dass ich noch vor wenigen Tagen nicht in der Lage gewesen war, Fragen nach meinem Befinden und meinen Aktivitäten der letzten vier Wochen zu beantworten. Ist es möglich, bin ich schon dermaßen vergesslich? Nein! Ich habe definitiv noch nie Beschwerden mit der Wirbelsäule gehabt und war noch nie hier gewesen, sprach ich mir selbst Mut zu.
Die Schwester zeigte auf eine Aufnahmewand und forderte mich auf, davor zu treten. Stirn und Kinn in einer Lederhalterung wie Zaumzeug, bekam ich einen schweren Sattel um die Hüften gehängt. Dann berührte mich etwas Kaltes im Nacken und ich fuhr erschrocken zurück. Mein Kopf stieß an einen harten Gegenstand und meine Feindin feuerte ihren nächsten Befehl ab: „Nicht bewegen! Ich durchleuchte jetzt. Sie rühren sich erst, wenn ich es sage.“ Sie lief hinaus und rief mir zu: „Einatmen, Luft anhalten “, es piepte, „und ausatmen.“
Wahrscheinlich werden Krankenschwestern naturgemäß irgendwann übergriffig und besserwisserisch. Jahrelang von Patienten um Hilfe gebeten, können sie gar nicht mehr aufhören, immer allen zu sagen, wo es lang geht, dabei stets überzeugt, nur die eigene Meinung sei richtig.
Aber ganz hatte ich mich noch nicht ergeben.
Als sie mir den Bleischutzgürtel abnahm, startete ich einen letzten Versuch, meine Ehre zu retten: „Entschuldigung, wenn ich wieder davon anfange, aber ich kann mich nicht erinnern. Wann sagten Sie, war ich das letzte Mal hier?“
Sie hielt mir die Karteikarte vor. „Vor vier Wochen. Hier haben Sie das Datum.“ Ich schaute auf die Karte: „Das bin ich nicht.“
„Wieso nicht?“
„ Weil ich im Mai Geburtstag habe. Die Patientin, die vor vier Wochen hier war, ist im Oktober `91 geboren. Wir sind zwei verschiedene Personen und ich bin heute zum ersten Mal hier. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?“, trumpfte ich auf. Na bitte, ich bin doch nicht blöd.
Meinen Ausweis vor der Nase schüttelte die gute Schwester den Kopf und legte eine neue Akte an, vor sich hin murmelnd: „Das gibt es doch nicht. Alles gleich, alles bis auf den Monat.“
Sie entschuldigte sich nicht und würdigte mich keines Blickes. Ich zog mich wieder an und sie rief mir hinterher: „Haben Sie einen Röntgenpass, in den jede durchgeführte Untersuchung eingetragen wird?“
„Nein.“
„Dann stelle ich Ihnen jetzt einen aus. Nur, um Irrtümer in Zukunft auszuschließen. Sie müssen ja sowieso noch auf den Arztbefund warten.“ Den vorwurfsvollen Blick dabei konnte sie sich nicht verkneifen.
Sie hielt mir den Pass hin, als ich aus der Kabine trat:„ Auf Wiedersehen, ich sag lieber nicht ‚bis zum nächsten Mal.’“ Stumm griff ich ihn, wartete auf meine Bilder und den dazu gehörigen Befund und ging grußlos. Ganz kurz dachte ich daran, die zwei neuen Patienten im Wartezimmer aufzuhetzen, die in der Zwischenzeit eingetroffen waren.
Draußen auf der Straße schaute ich auf mein neues Dokument. Dort stand unter meinem Namen wieder der 05.Oktober, das Geburtsdatum der anderen. Wütend schleuderte ich die kleine Faltkarte von mir.
Nach ein paar Schritten besann ich mich und kehrte um. Ich hob den Ausweis wieder auf und warf ihn, wie ein ehrlicher Finder in den Postkasten am Ärztehaus. Mit Schadenfreude stellte ich mir das Gesicht meiner Doppelgängerin bei ihrem nächsten Besuch vor, wenn ihr Schwester Feldwebel meinen Röntgenpass als Beweis für ihre Untersuchung unter die Nase rieb.
Das konnte man wohl eine Entschädigung nennen. Ich dagegen würde mich nun doch überwinden müssen und die noch ausstehenden Untersuchungen im anonymen Glaskasten machen lassen, aus dem ich zuvor geflohen war.