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Kapitel 4: Rettung in letzter Minute

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In der Kanzlei brauchte ich mich nicht mehr blicken zu lassen, Sandys Bericht über ihren Besuch bei mir würde zur Kündigung führen, das war klar. Dieses „ich kann nicht“ erkannte kein Arbeitgeber der Welt als Grund an, der Arbeit fern zu bleiben. Leute wie Sandy und ihresgleichen legten keinen Wert auf mich. Ihr Verhalten, einfach zu gehen und mich im Schlamm stecken zu lassen, hatte dies verdeutlicht. Es war mir egal. Jetzt, von allen Nachstellungen Neugieriger verschont, konnte ich mich richtig gehen lassen. In Wahrheit hatte ich längst die Kontrolle über die Entwicklung der Dinge verloren.

Ich musste mir eingestehen, dass es mir auch auf dieser neuen Arbeitsstelle wieder nicht gelungen war, von anderen angenommen zu werden und ich war überzeugt , selbst schuld daran zu sein, weil ich viel zu schwach war und nicht gut genug, nicht interessant genug, nicht schön genug und so weiter war. Ehe sich solche Gedanken festsetzten und zum quälenden Gedankenkarussell wurden, war es besser, gar nicht mehr zu denken.

Übrig blieb nur die Verlassenheit, in der ich mich wie in einer Wüste befand. Und wie aus der Wüste gibt es aus der Verlassenheit kein Entrinnen.

Ich wachte morgens auf und musste erst eine große Schicht auf mir lastender Betonplatten sowie ganze Ladungen Geröllmassen über mir wegschieben, bevor ich aufstehen konnte. Ich ging mit dem Gefühl von riesigen Gewichten an Händen und Füßen. An der Schlafzimmertür war ich schon wieder kaputt und wollte zurück ins Bett, es war die gleiche Entfernung wie zur Toilette. Die Banalitäten der Körperpflege erschöpften mich vollkommen, was ich weglassen konnte, ließ ich weg: Zähne putzen, eincremen, kämmen zum Beispiel. Wozu, sah doch keiner. Ein Kleidungsstück herauszusuchen überforderte mich. War auch unnötig, ich ging sowieso nicht hinaus. Meistens ließ ich alles einfach auf den Boden fallen.

Ein übermäßiges Schlafbedürfnis schluckte die meiste Zeit des Tages. Leider war es immer nur eine kurze Erlösung, ich erwachte nie erholt, die Erschöpfung wuchs wie ein abgeschlagener Drachenkopf nach. Es gelang mir kaum noch, aufzustehen, wusste nichts mit mir und dem Tag anzufangen. Musik störte mich, sie schmerzte in den Ohren. Nachrichten ertrug ich nicht, im Gegenteil, das ganze Elend war mir zu viel und sämtliches mögliche Engagement dagegen erschien mir sinnlos. Die Welt ließ sich nicht ändern. Von mir aus konnte der Komet, der das Leben auf der Erde irgendwann auslöschen sollte, ruhig ein paar Millionen Jahre früher kommen. Um diese Menschheit war es so schade nicht. Die Zeitungen enthielten von vorn bis hinten nichts Interessantes, ihre Überschriften berührten mich nicht. Auf ein Buch konnte ich mich nicht konzentrieren, ich verstand manche Worte einfach nicht, egal, wie oft ich sie vor mich hin sprach. Und Filme erst. Sie waren viel zu anstrengend. Ich fürchtete die ganze Zeit, mir die Personen und ihre Probleme nicht merken zu können, die Zusammenhänge nicht zu verstehen und hoffte, dass sie zu Ende gingen, bevor ich den Faden ganz verlor.

Nichts erfreute, berührte oder interessierte mich, in mir fand ich nur Leere. Die Leere war mein Bewusstsein und das Warten meine Leidenschaft. Ich wartete und wartete. Wartete, dass diese Qual, die sich Leben nannte, endlich vorbei war. Mit jedem Morgen fragte ich: Wie lange noch?

Nach etwa zwei Wochen drang ein weiteres Mal das Schellen meiner Türklingel durch meine Wohnung. Hinzu kam ein lautes Klopfen. Ich setzte mich schwerfällig auf, zu mehr Aktivität reichte meine Kraft nicht. Derjenige vor der Tür blieb hartnäckig, wechselte zwischen Klingeln und Klopfen. Gleichzeitig rief eine Stimme etwas, das ich nicht verstand. Es war nun unmöglich, die Augen wieder zu schließen, die Stimme wurde lauter, und vom Rütteln an meiner Tür schreckte ich zusammen. Endlich verstand ich, was gerufen wurde: „Hallohallo, Feuer im Haus! Liebe Nachbarn verlassen Sie umgehend ihre Wohnungen, schnell, schnell. Es brennt im Vorderhaus. Feu—er! Feuer im Haus Nr.13!“

Sterben war ja eine Sache, die an sich in Ordnung war. Aber unbedingt verbrennen musste es nicht sein. Obwohl mir alles wehtat, erhob ich mich, ging zur Tür und öffnete.

„Endlich, Mensch, das wird aber Zeit! Ich wusste, dass du da bist. Deine verrammelten Fenster machten mir Angst, es könnte etwas Schlimmes passiert sein“, rief jemand und stellte seinen Fuß in die Tür.

Ich brauchte eine Weile, ehe ich ihn erkannte. Es war mein Nachbar Felix aus dem Hinterhaus. Er war groß und muskulös und ungefähr in meinem Alter. Schon oft war er mir in Lederkombi mit Motorradhelm in der Hand im Hausflur über den Weg gelaufen. Dicke, störrische Haarwellen und seine schwarzen Augen machten ihn endgültig zum Bären. Wenn wir uns zufällig am Briefkasten getroffen hatten, rumorte er auffällig lange in seinem herum und trat so lange auf der Stelle, bis ich meinen wieder verschloss. Ich spürte seine Blicke, mir brach der Schweiß aus dabei, wagte mich aber nie, einen zu erwidern. Seine Wohnung im Hinterhaus lag auf derselben Etage wie meine. Mein Wohnzimmer sowie die Küche führten nach hinten hinaus, so dass wir uns gegenseitig in die Wohnungen blicken konnten. Zum Rauchen lehnte er sich aus dem Fenster und manchmal verließ ich meine Küche oder Wohnzimmer währenddessen, weil ich mir einredete, er verfolgte mich mit seinen schwarzen Augen.

Er drängte sich an mir vorbei in die Wohnung und schaute auf mich herunter: „Ich war kurz davor, die Polizei zu holen, zum Glück hat der Trick mit dem Feuer funktioniert.“

Ich konnte nichts erwidern, in meinem Inneren arbeitete es. Mir war, als stiege Wasser meinen Körper hinauf, rasch erreichte es den Hals. Ich pustete die Ausatemluft hinein, um es zurückzudrängen und mehr Raum um mich zu schaffen, reckte mich, hob das Gesicht zum Himmel, um länger Luft zu bekommen, stand stocksteif, denn jede Bewegung würde Wellen schlagen, die noch höher an mir hinauf reichen. Aber es half nichts, ich kämpfte einen aussichtslosen Kampf, das Wasser würde mich überfluten.

Felix umfasste meine Schultern: „Heute schaust du besonders traurig. Was ist denn bloß passiert?“

Es war, wie er sagte: es handelte sich um Traurigkeit, die mich derart überfiel. Das war bei mir normal. Ich kannte ihre Herrschaft, seit ich mich erinnern kann. Es gab Phasen, da stieg sie auch nur bis zur Herzgegend und hielt ihren Pegel, in anderen ertrank ich jeden Tag mehrmals. Und Felix hatte noch etwas richtig erkannt: die Traurigkeit, dieses Elend, steckte tief in mir, war ein Teil von mir.

In dem Loch, in dem ich saß, konnte ich Felix zwar hören, aber nicht antworten. Jeder der unzähligen Schübe von Melancholie hatten beim Abebben einen Film auf meinem Körper hinterlassen, je mehr Schichten die Schübe auf mir ablagerten, desto enger umhüllten sie mich, zwängten mich ein. Nach und nach erstarrten die Muskeln aller Glieder und genauso froren alle anderen Prozesse in mir ein, erst die Gedanken, zuletzt die Gefühle.

Sein Griff wurde fester, seine Stimme lauter: „Verdammt nochmal, rede mit mir.“

Er wusste es doch schon. Und war gekommen, um mich aus diesem Loch herauszuholen.

Mit einem Mal konnte ich richtig heulen.

Heute sterben wir noch nicht

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