Читать книгу Heute sterben wir noch nicht - Lily Zimmermann - Страница 6

Kapitel 3: Der Absturz

Оглавление

Betrachtete ich mein Leben vor dem Jahr, in dem ich Felix, Marcella und Coco kennenlernte, schrumpfte es in meiner Erinnerung und lief wie von selbst im Zeitraffer, ich konnte gar nichts dagegen tun. Für mich bedeutete es auch kein Drama, dass es sich in einer überschaubaren Anzahl von Sätzen zusammenfassen ließ. Ich wollte es los sein, denn Alles in ihm führte nur auf meinen großen Absturz hin.

Ich war schon immer anders, die Frau, die mich austrug, muss die Leihmutter einer fremden Art gewesen sein.

Ich war sehr sensibel und überzeugt, die Gedanken meiner Mitmenschen zu ahnen. Darüber hinaus besaß ich ein ausgefallenes Gespür für Stimmungen, persönliche Ausstrahlungen und atmosphärische Störungen in Gruppensituationen.

Meine angeborene Traurigkeit versuchte ich zu verbergen. Vergeblich. Manche meiner Mitmenschen faszinieret die Wolke Melancholie, die mich dauerhaft einhüllte, andere fühlten sich davon zurückgewiesen.

Meine Art, die Welt wahrzunehmen und auf sie zu reagieren unterschied sich von der ihren und war nicht erlernbar, nicht käuflich oder auf andere Art zu erwerben. Das merkten auch meine Mitmenschen und erklärten mich fortan einhellig zu ihrem Feind.

Ich kam nicht dahinter, wodurch ich die Wut anderer Frauen erregte. Ab einem bestimmten Zeitpunkt unserer Bekanntschaft verfolgten sie mich mit hartnäckigem Zorn, ich konnte mich verhalten wie ich wollte, sie kritisierten mich in einem fort und hielten mir immer neue Fehler vor.

Wenn ich mit Männern anfing zu diskutieren, war es auch mit deren Freundlichkeit vorbei. Es folgte mitleidiges Hätscheln und das wandelte sich schnell in Ignoranz.

Eine unsichtbare Wand aus Eis trennte mich von meinen Mitmenschen. Egal, wo ich mich aufhielt, ich fühlte mich jederzeit und überall fremd, falsch und verbannt. In diesem Teufelskreis war es kein Wunder, dass es oft zu Missverständnissen zwischen mir und anderen kam und ich mich laufend in Probleme verstrickt sah.

Dabei war von mir nichts zu befürchten, ich hielt es sowieso nirgendwo lange aus. In einem Alter von Anfang zwanzig war ich bereits mehrmals gescheitert: ein abgebrochenes Pädagogikstudium und zwei Arbeitsstellen, bei denen ich geschmissen hatte. Am liebsten wollte ich gar nicht daran erinnert werden. Mein Studium hatte ruckzuck ein Ende gefunden, nachdem in einem Schulpraktikum von einem Tag auf den anderen meine Stimme komplett versagte und daraufhin von einem Logopäden für den Lehrerberuf als untauglich befunden wurde. Wenigstens lag es nicht darin begründet, dass ich mit jemandem nicht ausgekommen war.

Diese überraschende Wende in meinem Leben ließ mir kaum Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Beflissen vor Pflichtgefühl stolperte ich in den erstbesten, naheliegenden Job in einer Kita.

Nach sechs Wochen war alles vorbei.

Vom ersten Satz an war ich eingeschüchtert. Gleich als ich hörte: „ Wir sind hier wie in einer großen Familie, die jeden auffängt.“ Ich nickte.

„Wir duzen uns alle hier.“ Na klar.

Nach der Begrüßungszeremonie mit Geknutsche und Angefasse war ich komplett durchgeschwitzt und mein Puls auf zweihundertfünfzig. Jeden Morgen und jeden Feierabend.

Jede nannte jede meine Beste, meine Liebste, Süße, Herzblatt, Engel oder sogar Seelenschwester. Ich bekam Zahnschmerzen und lief außer der Reihe zum Zahnarzt.

Die Intimitäten wurden reihum auf den Frühstückstisch geklatscht, Feedback ausdrücklich erwünscht. Ich versagte völlig. Mir kamen die Worte abhanden, ich hatte verlernt, vollständige Sätze zu bilden, alle starrten auf meinen Mund, aber die Gesichter spiegelten mir verwirrte Mienen wider. Ich konnte mich nicht verständlich machen. Deshalb nahm ich gern ihre Hilfe an, ich wollte wirklich locker und total offen werden, loslassen, was sie an Problemen aus mir heraus zerrten, mich befreien von allen Blockaden, aber ein kleines Böckchen in mir begann zu stoßen und rührte mit seinen Hörnern in meinen Eingeweiden. Das vermieste der großherzigen Gemeinschaft, die sich wie eine Mutter um den einzelnen kümmerte die Stimmung. Ich war nicht gruppentauglich.

Zu Hause hing ich über dem Klo und kotzte mir die Abdrücke ihrer tiefgreifenden Zuwendungen aus dem Leib. Ich war hilferesistent.

Sie konnten mit mir nichts anfangen und hinderten mich nicht, als ich nach sechs Wochen die Flucht ergriff. Später zu Hause fühlte ich mich wie eine Verliererin, wie eine, die verjagt worden war.

Die nächste Stelle, die ich annahm, war in einer großen Gemeinschaftskanzlei. Dort hielt ich es immerhin bis zum Ende der Probezeit aus.

Meine Tätigkeit umfasste sämtliche Hilfsarbeiten. Ich musste Postwege und Botengänge aller Art erledigen, vorsortierte Akten in die Arbeitszimmer tragen sowie die abgeschlossenen zurück in die Sammelablage, Kaffee kochen…

Ich setzte meinem sozialen Abstieg keinen Widerstand entgegen, im Gegenteil, ich brachte sogar etwas wie Einsatzeifer zustande.

Da ich über keinen eigenen Schreibtisch verfügte, schob der Büroleiter einen zweiten Stuhl an seinen, an dem ich mit zusammen gepressten Knien saß, um nirgendwo anzustoßen. Gerne ließ er sich Papiere oder das Telefon über meinen Kopf anreichen, dann kam es vor, dass sein Arm meine Haare streifte oder seine Hand zufällig auf meiner Schulter lag. Diesmal wollte ich auf keinen Fall in die Schusslinie geraten und verkrümelte mich oft in Nebenräume zum Arbeiten.

So vergingen die Wochen , ich verbrachte nach wie vor meine Pausen allein, trug in den Gesprächsrunden so gut wie nichts zur allgemeinen Meinungsbildung bei und auf den regelmäßigen Feierabendrunden fehlte ich. Mit der Zeit unterhielten sich die Kollegen über meinen Kopf hinweg, Naschereien und ähnliches reichten sie an mir vorbei und wer konnte, vermied es, mit mir allein zu sein, meine stille Gegenwart verjagte alle.

Irgendwann kam die nächste neue Mitarbeiterin ins Team. Für sie wurde mein Platz am Tisch des Büroleiters geräumt. Auf einmal hatte ich gar keinen Stuhl mehr.

Bald darauf kannte ich die Rücken meiner Kollegen besser als ihre Vorderansicht. Wenn sie in großer Runde zusammen saßen, stand ich wie ein vergessener Besen an der Heizung. Ich wurde unsichtbar für sie. Manche Tage sprach ich während der Arbeitszeit nicht mehr als die Begrüßung und die Abschiedsworte. Zu Hause ging das Schweigen weiter. Der Kontakt zu meinen ehemaligen Kommilitonen war längst verloren gegangen. Ich war allein und allein sah ich mich der Sinnlosigkeit meines Tuns ausgeliefert, die sich mit Gewissheit ausbreitete und ihre Schattenarme zogen mich zusehends in einen Strudel von Verzweiflung.

Morgens wehrte ich mich, so lange es ging gegen das Erwachen, weil meine Augen nur dichtes dunkles Nichts erblickten, das aus dem Ende der Welt aufzusteigen schien, welches geradewegs vor mir lag, jeden Morgen dunkler und näher. Schwindel drückte mich wieder ins Kissen zurück. Mein Herz raste, in den Ohren rauschte es, mein Magen krampfte sich zusammen, es fiel mir schwer, gerade zu stehen.

Ich quälte mich nur noch in die Kanzlei, bis ich an einem Wochenende beschloss, mich dort nicht mehr blicken zu lassen.

Da ich nicht mehr zur Arbeit ging, gab es keinen zwingenden Grund, die Wohnung zu verlassen. Ich redete mir ein, meine vertrackte Situation könnte sich herumgesprochen haben und überall als Brandmal an mir sichtbar sein, ja, ich glaubte tatsächlich, Unglück anzuziehen. Solche Gedanken höhlten mich aus und selbst in meinen eigenen vier Wänden wurde ich immer schwächer.

Meistens schaffte ich es gerade noch am Tag vom Schlafzimmer auf die Couch im Wohnzimmer umzuziehen und irgendwann nachts von dort wieder zurück ins Bett. Tagelang hatte ich die Wohnung gar nicht mehr verlassen, nicht zum Briefkasten, nicht zum Müll, nicht zum Einkaufen. Ich brachte es immer seltener fertig, mich überhaupt aus dem Bett zu erheben. Mein Gesicht glühte, meine Hände waren kalt, mein Körper wurde regelmäßig von Schüttelfrost überzogen. Ich lag reglos, denn alle Berührungen, sogar das Verschieben der Kleidung auf der Haut schmerzten. Es war eine tränentreibende Empfindlichkeit. Ein Summen und Ziehen im ganzen Leib, jede Bewegung löste Erschütterungen aus, die die Organe schreien ließen. Sogar die Atemluft schmerzte, wenn sie sich ihre Wege in den Brustkorb schnitt. In guten Zeiten war der Wind ein Kleid der Freiheit, in schlechten machte er meine ganze Hautoberfläche zur Wunde.

Anfangs starrte ich leer in die Luft, später schloss ich die Augen. Kniff sie regelrecht zu und wartete. Ich wartete auf das Vergehen der Zeit.

Nach anderthalb Wochen klingelte es an meiner Wohnungstür. Ich bekam nie spontanen Besuch. Es kam höchstens vor, dass der Bote eines Zustelldienstes vorübergehend eine Sendung für jemanden aus der Nachbarschaft deponierte.

Freunde hatte ich nicht.

Ich blieb liegen und ließ es klingeln. Sollte der Paketbote an einer anderen Tür klingeln.

Der Besucher blieb hartnäckig und schließlich öffnete ich. Vor mir stand Sandy, Sandy aus der Kanzlei. Sie hatte ich am wenigsten erwartet. Ich bereute auf der Stelle, die Tür geöffnet zu haben. Ihr blauschwarz gefärbtes Haar war vorn ein exakt gelegter Schrägpony und hinten wie immer zu einer Marge-Simpson-Frisur aufgetürmt, nur hing, anders als bei dieser oben aus der Spitze ein dünner Zopf bis auf die Schulter heraus. Sandy verwendete Glitzersteinchen, wo es ging: auf den Wimpern, auf einem Schneidezahn, auf Fingernägeln, Kleidung und Schmuck. Ihre Bewegungen erfolgten aufreizend langsam, weil sie ununterbrochen ihren Körper kerzengerade hielt. In der Kanzlei schenkte sie ihr Lächeln ausschließlich männlichen Besuchern und Vorgesetzten, mit mir gab sie sich nie groß ab.

Schneller als ich erwartete, stand sie in meinem Wohnzimmer. Dort schaute sie sich entsetzt um, schüttelte ihren Kopf ohne dass ein Haar ihrer Frisur verrutschte und setzte sich zögernd: „Sina, was ist los? Man hört absolut nichts von dir, keiner weiß, ob du krank bist oder gekündigt hast!“

„Welches Datum haben wir? Wie lange bin ich schon fort von euch?“, fragte ich sie mit geschlossenen Augen. Ihre wurden kugelrund: „Geht es dir nicht gut?“

„Weiß nicht. Kannst du mir sagen, warum meine Zähne so unterschiedlich gefärbt sind? Schau mal. In der rechten Hälfte des Kiefers sind sie schneeweiß und die linke ist dunkelbraun.“ Ich zog den Mund breit und die Lippen hoch.

„Deine Zähne sind ganz gleichmäßig weiß, Sina, im ganzen Mund. Jetzt mach ich mir langsam Sorgen.“

„Doch schon? Vergiss es, sicher kommt es nur von den ganzen Putzmitteln, die ich eingeatmet habe, weißt du? Ich habe nämlich schon wieder überall Ungeziefer gefunden. Trotz exzessiver Reinigungsfeldzüge durch die Wohnung suchen immer wieder Maden, Asseln und viele andere Insektenlarven mein Haus heim, ach ja, Spinnen auch.“ Sandy sprang von ihrem Sitz auf, klopfte ihre Kleidung ab und blickte suchend um sich: „ Hier sind keine Maden oder Würmer, zumindest sehe ich keine.“

„Egal, viel schlimmer ist, dass ich zum Tode verurteilt bin. Ich habe heute Nacht einen Brief erhalten, dass ich mich morgen im Gefängnis einfinden soll zur Hinrichtung. Warum habe ich vergessen. Meinst du, die haben sich geirrt?“

„Na sicher. Bei uns gibt es keine Todesstrafe. Mit dir stimmt etwas nicht.“

„Da magst du Recht haben. Mit mir stimmt ganz gewaltig etwas nicht“, antwortete ich und ließ mich vom Sessel auf den Boden rutschen, „ Obwohl ich vollkommen kaputt und müde bin, fürchte ich mich zu schlafen. Im Liegen drückt mein eigenes Gewicht mich tief unter die Erde. Mein Hals schwillt zu, der Inhalt meines Kopfes will zu den Augen heraus. Dann das Gefühl, mehrere Köpfe zu haben, in jedem herrscht ein reines Dauergewitter unzähliger blitzartiger Gedanken. Alle zischen gleichzeitig durch meine Hirne. Versuche ich, sie zu ordnen, zerbröseln sie und ich stehe mit leeren Händen da, obwohl mir der Kopf, Entschuldigung, die Köpfe rauchen.“ Ich kicherte unmotiviert. Dann schaute ich Sandy direkt in die Augen und flüsterte wie die böse Hexe im Märchen: „Nie kann ich mir merken, in welchem von ihnen der Dämon wohnt, der alle beherrscht. So bleibt zum Schluss nur Chaos übrig, unendliches Chaos.“

Sandy beugte sich zu mir herunter, da sie aus Furcht vor den Maden stehen geblieben war:“ Sag mal, hast du etwas Bestimmtes genommen? Du weißt schon, soll ich dich zum Arzt bringen?“ Ihr Haar stieß leicht an meinen Kopf und der Haarsprayfilm ihrer Frisur knisterte bei der Berührung.

Böses Lachen brach aus mir heraus: „Es hat keinen Sinn, Sandy, du verstehst gar nichts, aber das ist mir völlig gleichgültig. Denk doch, ich will nicht aufstehen, mich nicht waschen und anziehen, nicht raus aus der Wohnung, mich nicht anstrengen, wofür auch, mir sind alle anderen Menschen egal. Ich will einfach meine Ruhe!“

Endlich hatte auch Sandy begriffen, dass es sinnlos war. Ihr kurzzeitiges Interesse entsprang der Vermutung, ich wäre auf Drogen und hätte mich dadurch ein paar Tage entschärft. Aber mit so viel Exaltiertheit konnte ich nicht dienen. Ein depressiver Nachbar oder Arbeitskollege ist einfach nur langweilig.

Warum hab ich dieser tauben Nuss das erzählt, überlegte ich, Leute wie sie nutzen solche Informationen nur gegen mich.

Eigentlich stimmte ich Sandy zu. Immer nur: ich kann nicht zu hören, regt die Leute auf.

Mit jemandem, der auf die Frage: was tut denn weh? ,Alles‘ und auf die nächste Frage: seit wann? , Schon immer‘ antwortet, kann man nicht angeben. So einer ist ein Miesmacher und Spielverderber, im besten Fall ein Weichei, das sich nur ordentlich zusammenreißen müsste.

Sandy nickte stumm und weg war sie.

Nachdem Sandy gegangen war, gammelte ich weiter vor mich hin. Es wurde sogar noch schlimmer.

Heute sterben wir noch nicht

Подняться наверх