Читать книгу Museum des Gewissens - Лин Хэндус - Страница 3

Prolog

Оглавление

Mundus vult decipi, ergo decipiatur.

Die Welt will betrogen sein, also soll sie betrogen werden.

Jeder, der am goldenen Krug des Reichtums teilhat, kommt zu mir, dem Künstler, um seine schöne Hülle auf die Leinwand bringen zu lassen. Sie alle geben das, was sie in großer Menge besitzen, nämlich Geld, gegen das, was ich habe, nämlich Talent. Ihre Wünsche können in einer kurzen Formel zusammengefasst werden: Geld – Talent – Porträt – Erfüllung. Ein Porträt für das Publikum zum Anschauen. Darauf können meine Auftraggeber ihr charmantes, geheimnisvolles oder schmeichelndes Lächeln zeigen. Ihren offenen, selten versteckten Erfolg. Den großen oder kleinen Reichtum, ganz nach ihren Vorstellungen. All das ist eine glänzende Fassade. Ein schön verpacktes Bonbon, das den Mitmenschen unbedingt vorgestellt werden muss.

Ein naiver Mensch wird fragen: Wozu?

Ach! Ihr Ehrlichen und Naiven! Wie, wozu? Um das hohe Niveau des eigenen Wohlstands zu bestätigen. Um erfolgreich den heutigen und den zukünftigen Status in der Gesellschaft festzulegen, um anschließend die nächste Stufe zu besteigen. Um danach kritisch und etwas herablassend vom Turm des Erfolgs auf die Bekundungen anderer herabzuschauen.

Ein Vergleich mit dem eigenen Erfolg befriedigt die Gedanken gegenüber den Verlierern. Arrogant und gelassen der Tatsache entgegensehen, dass deine Verpackung besser ist als die der Anderen.

Sie ist festlicher.

Bunter.

Größer.

Angenehmer in der Berührung.

Sie leuchtet viel heller als das blendende Rampenlicht des Erfolgs.

Nicht einer meiner Auftraggeber, die ihre Verpackung bei mir abholten, war bereit, das Präsent aufzumachen und auf dem Bild das Bonbon selbst zu zeigen. Genauer gesagt träumen sie davon, dass die tief in ihrem Inneren versteckte Füllung einem süßen Schokoladenwunder gleicht.

Alle begehren und träumen davon, dass die Füllung so süß wie auch das Bonbon sein soll. Ausschließlich süß! Weil niemand bittere Bonbons mit bitterer Füllung haben möchte.

„Was Sie nicht sagen!“, wird jeder von Ihnen und von uns einwenden. „Solche bitteren Bonbonfüllungen gibt es in der Natur nicht. Bonbons mit dem Geschmack der Täuschung oder des Verrats wurden bislang nicht auf den Markt gebracht.

Wermutpastillen.

Trüffel mit Zyankalifüllung.

Giftbonbons.

Es gibt keine offizielle Nachfrage, und dementsprechend auch kein Angebot. So ist das!“

Ach so?! Sie wurden nicht erfunden ... Es gibt sie nicht ... Vielleicht. Aber im wirklichen Leben muss nichts erfunden werden, es bietet ALLES an. Sogar eine Reihe verschiedener giftiger Füllungen. Es gibt sie! Öfters, als man sich das vorstellen kann.

Viel öfter.

Das Wesen – die Füllung kann verschieden sein.

Fantastisch.

Unannehmbar durch ihre abstoßende Wahrheit.

Abscheulich durch ihre hässliche Blöße.

Abstoßend bis zum Erbrechen.

Ekel erregend modernder Abfall.

Mit ausgestreckten Fangarmen vor dem Eingang zur Hölle.

Es gibt sie alle.

So wie jede Farbe bei maximaler Dämmerung schwarz wird, kann auch das Wesen – die Füllung eine maximal negative Größe erreichen.

Von einer zarten schneeweißen Verpackung bis zum schwarzen Abgrund einer tiefen Grube.

Von einer duftenden aromatischen Umhüllung zum absterbenden Inneren.

Von einer absolut schönen Vorderseite zu einer von Würmern durchsetzten Rückseite.

Auf unerklärliche Weise gelang es mir, dieses Wesen – die Füllung meiner Auftraggeber – nach außen zu holen. Nun stand es von Angesicht zu Angesicht mit seiner Verkleidung.

Mit seiner Hülle.

Seiner Haut.

Mit seinem Original.

Es hüllte sich darin ein.

Legte sich bequem hin.

Blieb zufrieden still.

Dieses Wesen entsprach nicht der Seele. Keine Gefühle. Keine Schmerzsensoren. Es war das Gewissen. Ein ganz einfaches menschliches Gewissen, das fähig ist, dem Besitzer seine eigenen, von ihm formulierten moralischen Prinzipien zu eröffnen. Ihm seine verschiedenen Seiten zu zeigen. Seinen strengen sachlichen Verstand und die Emotionen, die im Inneren festgestampft waren, um sich, nach außen strebend, zu verbinden.

Um zur Besorgnis zu zwingen.

Um zum Nachdenken zu zwingen.

Zur Qual zu zwingen.

Zum Schreien vor Schmerz.

Zum Verbluten.

Sich im üblen Gestank zu krümmen.

Im höllischen Schwefel zu ertrinken.

Das für ewig Verlorene zu suchen.

Menschen können nicht ohne moralische Prinzipien existieren, welche die Grenzen ihres Lebensraumes bestimmen, und voller Zuversicht nach vorne schauen.

Ohne das sogenannte Gewissen.

Es ist die Harmonie des Zusammenlebens ihres Inneren mit der Außenwelt. Die Menschen bemühen sich, das Leben bequemer zu machen. Dabei passen sie sich der Existenz des Gewissens an.

Das Gewissen ist nicht immer angebracht und erwünscht. Es ist aber wie ein Dienstmädchen, das in keinem wohlhabenden Haus fehlen darf. Sein Dasein ist ein Faktum des Wohlstands. Zugleich aber darf es das schöne Leben nicht belästigen, nicht mit seinen für die Hausreinigung vorgesehenen Utensilien und anderen Putzmitteln im Wege stehen. Das Gewissen dient der Reinigung des inneren Wesens bei jedem von uns.

Vielen wird dieses Dienstmädchen zum Verhängnis. Jeder möchte aber in Sauberkeit leben und frische Luft einatmen. Und die Menschen zwingen sich, mit dem Gewissen im Reinen zu sein oder es zu verdrängen. Mit allen erreichbaren Mitteln.

Sie gewöhnen sich an, im Leben zurechtzukommen, und ziehen es, das Gewissen, wie einen störenden Pfeil aus der Haut.

Pressen es zusammen, umschließen es fest und sichern es in einer Schatulle. Sie verbergen es dann in der letzten Ecke der dunklen Abstellkammer vor den nutzlosen und störenden Erinnerungen.

Schläfern es durch den sanften Rausch von Banknoten ein.

Durch das zarte Klirren kostbarer Juwelen.

Durch den Rausch der blauen und zärtlichen Meereswellen.

Durch eine bescheidende finanzielle Unterstützung für ein großes Spendenprojekt.

Oder, als masochistische Alternative, sie verletzen die zarte Haut des Gewissens durch die harte Peitsche der eigenen Empfindungen.

Jeder begegnet diesem Hindernis, das am Sockel der beschwerlichen Treppe des Erfolgs liegt, auf seine Weise.

Den meisten meiner Auftraggeber ist klar: Wenn sie das Gewissen nicht einschläfern oder unterdrücken, dann kann es sie zerstören.

Das Innenleben mit lautem Heulen erfüllen.

Mit quellendem Schmerz.

Die Ohren mit seinen Schreien verstopfen.

Das Herz vor Mitgefühl zerreißen.

In den Wahnsinn treiben.

Um nach alledem nicht verrückt zu werden, ist man gezwungen, sich ihm zu unterwerfen und nach seinen Gesetzen zu handeln.

Und dann muss man zum Anfang zurückkehren. Wieder arm, aber ehrlich, um dabei unglücklich und schwach zu werden. Um eines der Sandkörnchen zu sein, die millionenfach unter den Füßen von tausenden Erfolgreichen liegen. Von denen, die nach den Sternen greifen konnten.

Reich und erfolgreich werden.

Anerkannt.

Ehrenvoll.

Berühmt.

Unter keinen Umständen möchte jemand freiwillig von der höchsten Stufe des Erfolgs nach unten springen. In die tiefe Schlucht des glücklosen, armen und ungeregelten Lebens. Diese kurze Flugreise nach unten bringt nur dann für ein paar Minuten den Genuss des freien Schwebens, wenn dich ein dickes Gummiband an deinen Füßen sofort wieder nach oben zieht.

Doch zum großen Bedauern ist das Leben kein Spiel mit Gummibändern. Es bietet keine solche Chance. Deshalb ist es so: Wenn man tief fällt, kommt man nicht mehr dorthin, wo man schon einmal war. Das wissen alle und riskieren deswegen nicht ihr Leben wie beim gefährlichen russischen Roulette.

Leben oder Tod.

Im leidenschaftlichen Spiel nicht auf das hohe Risiko setzen, ohne den Joker in der Tasche zu haben.

Niemand möchte seine hart erkämpfte Wegstrecke unter der Sonne riskieren. Dieses kleine Stück paradiesischen Glücks der Wohlhabenden gegen die große Menge der am Fuße eines hohen Berges Stehenden eintauschen. Und sich in die Nässe und Finsternis begeben.

Niemand möchte von unten nach oben schauen, um nur das Licht, das hinter den vorbeiziehenden großen Wolken als helle Sonne erscheint, zu erblicken.

Jeder sucht sich seinen Platz, der zu ihm passt. Er setzt sich bequem hin. Dabei presst er sein sattes Hinterteil in den Rahmen des harten Erfolgsstuhls. Allerdings nur dann, wenn er großes Glück hat und das Leben ihm diesen Stuhl rechtzeitig bereitstellt.

Wenn ja, dann lebt dieser Glückspilz und genießt seine Ruhe und seine Zufriedenheit. Ab und zu bewegt er dabei die beiden Hälften seines ausgebreiteten Gesäßes, um den Kreislauf zu beschleunigen und sich aufzumuntern. Dann scheint es ihm, zu wenig zu sein. Er möchte noch mehr, möchte es noch teurer, schöner und gemütlicher in seinem Leben haben. Und dann geht er weiter. Dorthin, wo die nächste Stufe des selbst erdachten und erfundenen Glücks auf ihn wartet.

Auf dem Weg zum nächsten Ziel werden die moralischen Prinzipien umstrukturiert, ausgetauscht und neu geschrieben. Den Streckenhindernissen und der modifizierten ethischen Form der Reichen entsprechend, zielen sie auf die nächste Erfolgsstufe ab. Jedenfalls kann man dabei eine rosarote Brille, die die Wirklichkeit verwischt, aufsetzen. Oder die Welt mit pragmatischem Blick als Zuschauer verfolgen und das warme Gefühl der Überlegenheit gegenüber der übrigen Welt in der Seele bewahren.

Geben Sie zu, dass die ganze Welt nicht unbedingt ein Gewissen hat, das zu allen und zu jedem passt. Es gibt kein gemeinsames Gewissen, wie es auch keine gemeinsame Freiheit gibt. Die Menschheit ist nicht bereit, Hosen von einer einzigen Fasson zu tragen oder Tabak der gleichen Sorte zu rauchen. Auch ist das Gewissen letztlich kein Blumenstrauß zum Geburtstag oder kein Eis zum Dessert, um mit diesem Geschenk jedem einen Gefallen zu tun. Der eine ist allergisch gegen Blumen, der andere mag kein Eis. Es reicht vollkommen aus, wenn sich das Gewissen beim kleineren Teil der nachdenklichen Bevölkerung des Planeten wohlfühlt. Die anderen müssen erst noch die Lebensweisheit beherrschen und denken lernen. Wenn es ihnen gelingt und wenn sie den Willen besitzen, können sie ihr begrenztes Gehirn zur Lösung einer sehr schweren Aufgabe heranziehen. Ist das möglich, ohne Gewissen zu leben? Und dann: Wie?

Diese schwere Aufgabe muss unbedingt jeder für sich beantworten. Nicht für die anderen, sondern für sich selbst.

Jeder von uns möchte seinen Körper mit irgendeinem Kleidungsstück bedecken. Nein, nicht mit irgendeinem, sondern lieber mit einem guten, bequemen und modernen. Stimmen Sie mir zu, dass es unangenehm ist, sich in der Welt der Angezogenen nackt zu zeigen? Nicht jeder kann in der gesamten Buntheit der Kleider unbemerkt seine eigene Nacktheit offenbaren. Erlauben können sich dies nur diejenigen, die die anderen nicht sehen wollen, während sie sich nur im Spiegel des eigenen Wohlstandes sehen. Des eigenen persönlichen Egoismus’.

Kleider sind ein markantes Beispiel.

Im Gegensatz zum Gewissen, das man nicht unbedingt zur Schau stellen muss.

Nicht allen zeigen muss.

Bei dem man sich mit seiner Einstellung nicht großtun muss.

Das Gewissen ist viel intimer als Kleidung oder sogar Sex.

So, wie man über die Schönheit seiner Partnerin vielleicht mit einem Vertrauten diskutiert – es ist aber noch keinem in den Sinn gekommen, mit jemandem die Unbequemlichkeiten des eigenen Gewissens zu besprechen. Das ist das Gleiche, wie über seine Intelligenz zu sprechen – ein unhöfliches und oftmals auch wenig angenehmes Thema. Es ist ein höchst umstrittenes und wenig erforschtes Gebiet.

Genau deswegen verbleibt das Thema des Gewissens beim Gewissen eines jeden Einzelnen.

Es lieber nicht bewegen.

Am besten das Wort so selten wie möglich laut aussprechen.

Diese Lebensweisheit ist es, die meine Auftraggeber mich rückblickend lehrten...

Museum des Gewissens

Подняться наверх