Читать книгу Meine Welt schmilzt - Line Nagell Ylvisaker - Страница 6
Schwarzer Regenherbst und noch mehr Lawinen
ОглавлениеEs blieb nicht bei dem Unwetter von 2015. Auf den Schneesturm folgte Regen und ließ dieses Weihnachtsfest noch düsterer erscheinen.
Der Herbst 2016 war nasser als je ein Herbst zuvor, und ohne die helle Schneedecke auf den Bergflanken wurde die Dunkelheit allumfassend.
Ich war gerade unterwegs, um für die Svalbardposten über einen Wohltätigkeitsflohmarkt zu berichten, als ich die Nachricht erhielt, dass eine Schlammlawine vom Platåberg abgegangen war, sich am Friedhof vorbeigewälzt und die Straße überspült hatte. Ich machte Fotos vom Regen, vom Wasser, vom Schlamm und von den Straßenabsperrungen. Der Oktober war so verregnet, dass sich im Stadtgebiet über 20 Erdrutsche und Schlammlawinen ereigneten.
Im November, der Frost hatte sich gerade ausgebreitet, öffnete der Himmel seine Schleusen erneut. In nur vierundzwanzig Stunden fiel mehr als ein Drittel der durchschnittlichen Jahresmenge an Regen. Die Erdmassen an den schwarzen Felshängen gerieten ins Rutschen, an manchen Stellen bildeten sich Risse. Wieder gingen kleine Schlammlawinen ab. Die Behörden ließen zweihundertneunundfünfzig Menschen aus ihren Häusern evakuieren, Straßen wurden gesperrt, und ich rückte zum städtischen Hundezwinger aus, wo die meisten Leute ihre Schlittenhunde halten. Ein Erdrutsch hatte mehr als zehn Hundehütten mit sich gerissen. Glücklicherweise waren die Tiere in den hintersten Zwingern ebenfalls evakuiert worden.
Über dem Longyeardalen kreisten die Helikopter. Mit Schweinwerfern suchten sie die Berghänge nach weiteren Geröllmassen ab, die sich zu lösen drohten.
Nach Weihnachten 2016 meldete das Meteorologische Institut eine ähnliche Wetterlage wie im Vorjahr, als die Todeslawine zu Tal gegangen war. Inzwischen gab es aber in Longyearbyen ein Lawinenwarnsystem. Trond hatte Dienst bei der Feuerwehr, ging zur Bereitschaftsversammlung und half, Hotels, Wohnungen und Häuser in Nybyen zu evakuieren. Ich war unterwegs, um Schneepflüge im Blizzard zu fotografieren. Der einzige sichtbare Schaden waren eine Beule und ein abgebrochener Seitenspiegel an meinem Auto, offenbar von einem herumfliegenden Plastikschlitten verursacht.
Als der Sturm sich gelegt hatte, konnte man das Jahr folgendermaßen zusammenfassen: 2016 war das wärmste und regenreichste Jahr, das auf Spitzbergen je gemessen wurde, die Temperatur lag ganze 6,6 Grad höher als im Jahresmittel, d.h. dem Durchschnittswert im Referenzzeitraum von 1961 bis 1990. Am Flughafen Spitzbergen waren dreihundertzehn Millimeter Niederschlag gefallen, also hundertzwanzig Millimeter über normal. Wollte man das gesamte Wasser in Zehn-Liter-Eimern sammeln, müsste man auf einem Quadratmeter einunddreißig Eimer übereinanderstapeln.
2016 war im Übrigen auch weltweit das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturaufzeichnung.
Aber damit nicht genug. Noch ehe ich nach dem Sturm zwischen den Jahren den Schaden an meinem Wagen mit der Versicherung klären konnte, kam schon das nächste Unwetter herbeigestürmt.
In der Nacht zum 21. Februar 2017 brachte eine steife Brise von Osten Böen mit einer Windgeschwindigkeit von bis zu zwanzig Metern pro Sekunde. Es herrschte dichter Schneefall, und der Wind trieb eine Menge Schnee an den Talhang des Sukkertoppen. Die Bezirksleitung von Longyearbyen meldete für die Umgebung eine hohe Lawinengefahr, die Häuser in der Stadt seien jedoch nicht gefährdet. Gerade erst war ein neuer Bericht über drohende Naturgefahren veröffentlicht worden, in dem mit verschiedenen Datenmodellen ausgerechnet worden war, wohin und wie weit sich Lawinen ausbreiten konnten.
Auf dem Weg zur Arbeit fuhr ich mich in einer Schneewehe vor unserem Müllcontainer fest. Als ich endlich in meinem Büro in der Redaktion saß, bemerkte ich mit einem Blick aus dem Fenster, dass auf dem Hilmar Rekstens Vei unterhalb des Sukkertoppen ein gelb-blaues Auto vorbeiraste. Der Krankenwagen. Gleich darauf folgten Leute auf Schneemobilen und zu Fuß. Sie trugen Spaten. Mein Magen verknotete sich.
Als ich mit Kamera und Stift im Anschlag das Geschehen im Vei 228 erreichte, sah ich, dass ein ganzes Mietshaus mit sechs Wohnungen vollkommen schief stand. In einer der Wohnungen klaffte ein riesiges Loch. Autos, Mülltonnen, ein Raupenfahrzeug und Schneemobile standen kreuz und quer. Die Menschen waren auf Strümpfen aus ihren Wohnzimmerfenstern geklettert. Die Rettungsmannschaften bohrten systematisch ihre Suchstangen in den Schnee zwischen den Häusern. Elf Personen waren in dem Gebäude gewesen, als die Lawine es erfasste. Glücklicherweise schafften es alle heil nach draußen, und auch dieses Mal war wie durch ein Wunder niemand auf der Straße unterwegs gewesen, als der Schnee zu Tal donnerte. Aber die Verunsicherung war enorm. Das Lawinenwarnsystem hatte versagt. Was sollten die Eltern ihren Kindern das nächste Mal sagen, wenn Sturm aufzog?
Wir erklärten Lotte und Nor, dass eine neue Lawine vom Berg abgegangen war, dass die, die hätten aufpassen sollen, einen Fehler gemacht hatten. Aber unsere Straße kann keine Lawine erreichen.