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Klima auf Speed

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Am ersten Sommertag des Jahres 2018 sitze ich in meinem Arbeitszimmer in unserem neuen gelben Haus am Ausgang des Longyeardalen. Fast zwei Jahre sind vergangen, seitdem wir eingezogen sind. Inzwischen haben wir die meisten Bilder aufgehängt, auf der Veranda liegt Spielzeug herum, und ich habe ein Büro mit Panoramablick im ersten Stock. Ich kann den offenen Adventfjord sehen und bis zum von dicken Wolken verhangenen Berg Hjorthfjellet auf der anderen Seite des Fjords schauen. Schneereste klammern sich noch an die Hänge, aber ansonsten herrscht Matschzeit. Die Kinder, inzwischen knapp drei und fünf Jahre alt, lieben das. Sie hopsen durch die Pfützen, schmieren sich von oben bis unten ein und schminken sich mit Schlamm.

Der wärmste Mai seit Beginn der Messungen in Longyearbyen geht zu Ende.

Vor drei Wochen lief ein Schmelzwasserbach durch die Straße. Die Kinder sprangen darin herum und ließen Papierschiffchen schwimmen. Unter dem Wasser lag noch dickes Eis, darin Spuren von Autoreifen. Wir haben neue Nachbarn vom Festland mit kleinen Kindern, die es genau wie unsere kaum erwarten konnten, endlich Fahrrad zu fahren. Ich machte die Neuankömmlinge mit der Realität bekannt: Es würde noch Wochen dauern, bis das Eis geschmolzen sei, erklärte ich ihnen. Nur sieben Tage später wurde meine Besserwisserei widerlegt. Wir konnten die Fahrräder auf trockenen, mit Split bestreuten Asphalt stellen, und unsere Große fuhr zum ersten Mal auf zwei Rädern.

Die Temperaturen im Mai reihen sich ein in einander übertrumpfende, immer neue Rekorde. Spitzbergen und die ganze Barentsregion sind der sich am schnellsten erwärmende Teil der Erde. Während die Vereinten Nationen vehement vor den Konsequenzen einer globalen Erwärmung von mehr als 2 oder 1,5 Grad seit vorindustrieller Zeit warnen, ist die jährliche Durchschnittstemperatur in Longyearbyen seit Beginn der Aufzeichnungen 1898 bereits um 3,8 Grad angestiegen. Wenn wir die Rechnung im Jahr 1961 anfangen, dem Jahr, als der Referenzzeitraum begann, so ist die Durchschnittstemperatur auf Spitzbergen seither um 5,6 Grad gestiegen. Im Vergleich dazu hat sich die Temperatur in Oslo im selben Zeitraum um 2 Grad erhöht. Die globale Temperatur ist um 0,9 Grad angestiegen. Auf Spitzbergen ist der Temperaturanstieg demnach dreimal höher als in Oslo und sechsmal höher als im Rest der Welt.

Während ich hier sitze und die Schiffe betrachte, die über den Fjord gleiten, nähert sich der Tag, an dem die Temperatur hundert Monate hintereinander über dem Durchschnittswert lag.

Woran liegt es, dass Spitzbergen sich im Vergleich zum Weltmittel so viel schneller erwärmt? Und ist die Erwärmung an den Lawinen schuld, die auf die Stadt niedergegangen sind? Mit diesen Fragen wende ich mich an den Klimaforscher Ketil Isaksen vom Meteorologischen Institut.

Seit er als junger Student 1995 herkam, beobachtet Isaksen die Veränderungen auf Spitzbergen. Als Erstes fiel ihm auf, dass die Häuser in Longyearbyen keine Dachrinnen hatten. Es regnet so gut wie nie, lautete die Erklärung, wir leben hier in der arktischen Wüste.

Heute deutet einiges darauf hin, dass sich genau das ändern wird.

»Als Klimaforscher interessieren mich vor allem Trends, und die Trends, die ich zurzeit auf Spitzbergen feststelle, sowohl als Ergebnis meiner eigenen als auch der wissenschaftlichen Arbeit anderer, erschrecken mich. Sie machen mich nicht nachdenklich. Nicht besorgt. Sie erschrecken mich«, schrieb er nach dem schwarzen, klitschnassen Herbst 2016 in der norwegischen Tageszeitung Aftenposten.

Damals kamen ungewöhnlich hohe Niederschlagsmengen und Temperaturen in kurzer Zeit zusammen.

Er ist nach wie vor erschrocken, befürchtet, dass wir die Kontrolle längst verloren haben. Wissenschaftler*innen verwenden Modelle, doch das Klima in einem Computerprogramm zu berechnen, ist kompliziert. Beispielsweise schmilzt das Meereis schneller, als die Modelle es vorsahen, der Permafrost taut schneller, und jüngste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die globale Erwärmung weit höher ausfallen könnte, als die Wissenschaftler*innen noch 2016 annahmen.

Isaksen beunruhigt vor allem, dass die Machthaber weltweit den Ernst der Lage offenbar nicht erkennen – selbst nach vielen Jahren der immer lauter werdenden Warnungen von Klimaforscher*innen aus der ganzen Welt. Die Schadstoffausstöße müssen umgehend gesenkt werden, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Welt sich nennenswert in Richtung der Ziele des Pariser Abkommens bewegt, die globale Erwärmung unter 2 – besser unter 1,5 – Grad nach vorindustrieller Temperatur zu halten. Niemand kann kontrollieren, was passieren wird, wenn die Temperatur diese Grenze übersteigt.

Trotzdem hat Isaksen noch nicht alle Hoffnung verloren. Der Schadstoffausstoß kann sich schnell ändern, wenn internationale Abkommen getroffen oder wenn erneuerbare Energien konkurrenzfähig zu fossilen Energien werden.

Der Hauptgrund für die raschere Erwärmung der Region Spitzbergen ist das schmelzende Meereis. Früher bildete das schneebedeckte Eis eine Isolationsschicht zwischen dem wärmeren Wasser und der kalten Polarluft. Als das Eis noch die Fjorde bedeckte, waren an klaren, kalten Tagen im März und April Temperaturen von –25 Grad vollkommen üblich. Jetzt, da das Eis fort ist, erwärmt das Wasser die Luft, und es wird nur noch selten kälter als –15 Grad. Seit 1961 sind die Winter auf Spitzbergen im Schnitt 9 Grad wärmer geworden.

Dass die Temperaturen hier schneller als an anderen Orten in der Arktis steigen, liegt vor allem daran, dass sich hier heutzutage deutlich weniger Wintermeereis bildet als früher.

Nicht nur schützte das Eis im Winterhalbjahr die kalte Atmosphäre vor dem wärmeren Wasser, es reflektierte auch die Sonneneinstrahlung, wohingegen das unbedeckte Meer sie aufnimmt. Neuschnee reflektiert bis zu 90 Prozent der Sonnenenergie, Sommermeereis rund 60 Prozent, das offene Meer jedoch schickt nur etwa 10 Prozent zurück. Der Rest erwärmt das Wasser.

Die Schneesaison wird ebenfalls immer kürzer, der Frühling setzt früher ein, und der Herbst kommt später. Wo vor ein paar Jahren Schnee die Sonnenenergie reflektierte, nimmt der Boden sie jetzt auf und erwärmt sich ebenfalls. All das trägt zur Gesamterwärmung bei.

Das Meer, die Atmosphäre und das Wetter sind miteinander verbunden. Alle Prozesse beeinflussen sich gegenseitig.

»In der Region Spitzbergen sind Meeres- und Luftströmungen besonders einflussreiche Klimafaktoren, und weniger Eis und Schnee verstärken die Erwärmung. Das ist ein ziemlich komplexes Gebilde. Die wissenschaftlichen Meinungen darüber, was den größten Einfluss auf die Erwärmung hat, gehen weit auseinander. Wahrscheinlich, weil jeder sein Fach am besten beherrscht«, sagt Isaksen.

Und was ist mit den Lawinen? Können wir die Klimaerwärmung auch dafür verantwortlich machen?

Isaksen ist der Meinung, es sei zu früh, um eindeutig festzustellen, ob die Lawine 2015 eine direkte Folge der gestiegenen Temperaturen sei oder ob sich in der Natur dem Sukkertoppen an diesem Tag alles verschwor: eine glatte Unterlage, eine Menge Schnee und starker Wind aus der »richtigen« Richtung. Hätte das Unglück unter ähnlichen Wetterbedingungen vor dreißig Jahren ebenfalls passieren können, oder waren wärmere Temperaturen im Jahr 2015 der Grund für die höheren Niederschläge und die schwierigen Schneeverhältnisse?

Sieht man diese Lawine im Zusammenhang mit der Schneelawine im Jahr 2017 und sämtlichen Erd-, Wasser- und Schlammabgängen, die sich seither ereignet haben, zeichnet sich ein deutlicher Trend ab: Wenn die Temperatur steigt, kann die Luft mehr Feuchtigkeit speichern, und die Niederschläge nehmen zu. Mit höheren Niederschlagsmengen steigt auch die Gefahr für alle Arten von Lawinen.

Wenn wir den CO2-Ausstoß von heute beibehalten, wird die Durchschnittstemperatur in Longyearbyen in einzelnen Wintern vermutlich noch in diesem Jahrhundert über 0 Grad liegen. Im Vergleich: Die durchschnittliche Temperatur in den Wintermonaten seit 1898 lag bei –13,6 Grad. Knisternd kalte Tage, an denen der Atem in Wolken vor dem Mund steht, knirschender Schnee wie Sandpapier und Eiskristalle an den Wimpern.

Immer mehr Winterniederschläge werden in Form von Regen fallen, so wie bei der Feier zum Jubiläum des Saatgutlagers.

Der März 2018 hatte gerade begonnen, da kam der Winter zurück. Das Regenwasser wurde zu einem Eispanzer. Die Nachbarskinder rutschten auf Schlittschuhen über unsere Straße. Sie fuhren Achten und drehten Pirouetten in der überfrorenen Tundra. Andre fuhren weit hinaus ins Adventdalen. Auch wir wackelten aufs Eis hinaus, hämmerten dagegen und sahen die gelbraunen Grasbüschel darunter. Die Welt war kalt, rosa, blau, lila und unendlich schön. Wir zählten die Tage bis zur Rückkehr der Sonne, bis die Sonnenstrahlen über den Bergkamm klettern und endlich hinunter ins Tal fallen würden.

Kurz darauf ereilte uns die Nachricht, dass die drei vergangenen Wintermonate die wärmsten gewesen waren, die man je registriert hatte.

Meine Welt schmilzt

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