Читать книгу Meine Welt schmilzt - Line Nagell Ylvisaker - Страница 7

Schlaf, du kleiner, zarter Spross

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Im Februar 2018, als das Licht langsam zurückkehrte und die Saison für Skitouren längst im vollsten Gange hätte sein sollen, ertranken prominente Gäste aus aller Welt geradezu im Regen. Sie waren gekommen, weil der größte Speicher für botanisches Saatgut aller Art, der Weltweite Saatguttresor Spitzbergen, sein zehnjähriges Jubiläum feierte.

Das Lager liegt im Berghang oberhalb des Flugplatzes in Longyearbyen. Über dem Eingang leuchtet Tag und Nacht ein bläuliches Licht in unterschiedlichen Schattierungen, es sieht aus wie ein riesiger, ewiger Diamant. In den Berghallen hinter dem Diamanten liegt Saatgut von über fünftausendvierhundert Pflanzenarten, Bohnen, Mais, Korn und Reis. Hier im Permafrost sollen sie gut gekühlt sicher verwahrt werden, selbst wenn mal der Strom des Kälteaggregats ausfällt. Die Samen sind eine Versicherung für Kriegszeiten, für den Fall von Krankheiten, Naturkatastrophen und dem Anstieg des Meeresspiegels. Im Herbst 2015 wurden hundertachtundzwanzig Kisten aus Syrien hierhergebracht, nachdem die Saatgutbank in Aleppo ausgebombt worden war. In Syrien wurden viele der wichtigsten essbaren Pflanzen zum ersten Mal kultiviert. Die meisten unserer üblichen Kornarten, wie Weizen und Gerste, stammen dorther.

Indem man die Samen aufhebt, kann man die Nutzpflanzen einem sich verändernden Klima anpassen und die verwenden, die am besten damit zurechtkommen. Nun ist es die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieses Lager dem neuen Klima auf Spitzbergen nicht angepasst war. Als die staatliche Bauverwaltungsfirma Statsbygg das Saatgutarchiv errichtete, wurde zunächst ein tiefer Schacht ausgehoben, der bis auf den Felsen reichte. Dann wurde ein Zufahrtstunnel angelegt, der mit loser Erde umbaut wurde. Aber der Permafrost kam nicht zurück, und die Masse rund um den Tunnel gefror nicht wie gedacht. Wenn es regnete oder taute, lief Wasser in den Tunnel und hinunter in die Samenlagerhalle im Berg. Mehrfach musste die Feuerwehr ausrücken und das Wasser abpumpen, die Samen sollen dabei niemals in Gefahr gewesen sein.

Zu der buchstäblich ins Wasser gefallenen Jubiläumsfeier hatte der Minister für Landwirtschaft und Ernährung, Jon Georg Dale von der Fortschrittspartei, ein Geschenk in Höhe von hundert Millionen Norwegischen Kronen mitgebracht. Das Lager sollte nun unter anderem einen neuen, wasserdichten Zufahrtstunnel erhalten, eine stabile Betonkonstruktion.

Das Saatgut wurde mit der Tanz- und Gesangvorführung Gefrorene Lieder im Kulturhaus gefeiert. Ich saß neben Eli Anne im Saal. Nackte Füße trampelten rhythmisch auf dem Boden, Körper erblühten, verblühten, eine Mutter hütete ihr Kind, ein Kind, das fror. Auf einer Leinwand wuchsen große Schornsteine in den Himmel, die Gase und Partikel ausspuckten. Die Aufführung traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich sah meine eigenen Kinder vor mir. Wie würde ihre Zukunft aussehen? Was machen wir mit der Natur? Mit unserem Leben?

Nachdem der Ernst ausgetanzt hatte, traten wir hinaus in die spiegelblanke Dunkelheit.

»Eigentlich finde ich es gut, dass es heute regnet«, sagte Eli Anne zu mir und wickelte sich den Schal fester um den Hals.

»Weil du dann besser an deiner Doktorarbeit schreiben kannst?«, fragte ich, denn wenn es schön kalt war und das Licht rosa, war sie häufig auf Skiern unterwegs.

Wir schlitterten vom Eingang des Kulturhauses zum Fußgängerweg, der unter dem Split nicht ganz so glänzend schimmerte.

»Nein, es ist gut, dass es regnet, weil so viele wichtige Leute hier sind«, erwiderte sie. »Es ist gut, dass sie sehen, was hier passiert. Dass die Sache mit dem Wetter wirklich dramatisch ist.«

An diesem Abend entschied ich, den Rest des Jahres darauf zu verwenden, genau das herauszufinden: Was zum Teufel passiert hier eigentlich?

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