Читать книгу Meine Welt schmilzt - Line Nagell Ylvisaker - Страница 9
Die Stadt
ОглавлениеDas Longyeardalen liegt zwischen felsgekrönten, steilen Berghängen, durch einen Fluss geteilt. Ganz hinten im Tal erhebt sich der Berg Sarkofagen zwischen den beiden kleinen Gletschern Longyearbreen und Larsbreen. Das Tal mündet in den Adventfjord, der wie der kleine Finger am langen, starken Isfjord-Arm wirkt.
Das Zentrum von Longyearbyen ist im Laufe der Jahre gewandert, je nachdem, wo in den Bergen gerade Kohle abgebaut wurde. Jetzt müssen wieder Teile des Orts umziehen. Dieses Mal auf der Flucht vor den Naturgefahren.
Nach der Lawine wurden von der Regierung neue Berechnungen für Zukunftsszenarien in Auftrag gegeben, die die durch das wärmere und feuchtere Klima, auf das wir uns zubewegen, hervorgerufenen Naturgefahren berücksichtigen.
Lottes Kindergarten auf der Westseite des Tals, zwischen Kirche und Friedhof gelegen, wurde aufgrund von Lawinengefahr geschlossen. Rund hundertfünfzig Häuser im Wohnviertel Lia, zwischen Zentrum und Sukkertoppen, an der Ostseite des Tals, müssen wahrscheinlich abgerissen werden. Um die restlichen Häuser dort zu sichern, unter anderem die Spiss-Häuser und den Teil des Zentrums direkt unterhalb der Siedlung, müssen Sicherungsanlagen gebaut werden.
Im Süden grenzt das Wohnviertel Lia ans Vannledningsdalen. 1953 forderte eine Schlammlawine aus dem Tal drei Leben, dreißig Menschen wurden verletzt. Es gab dort noch weitere Lawinen, die letzte 2012, eine Schlammlawine, die die Fußgängerbrücke über den Fluss zerstörte. Daraufhin wurden einige kleinere Wälle angelegt, aber eine große Lawine könnten sie nicht von den Häusern fernhalten, dafür sind sie nicht stark genug. Zur Frühjahrsschmelze wird der Flusslauf in viele Bäche verzweigt, um zu verhindern, dass sich weiter oben im Tal das Wasser staut, doch wenn im tiefsten Winter Regen und mildes Wetter kommen, ist so eine Umleitung nicht möglich. Auch hier sollen Sicherungsanlagen errichtet werden.
Ich kann es mir nicht vorstellen. Wie wird es werden, wenn in Lia plötzlich hundertfünfzig Häuser fehlen? Wenn der Berghang voll mit Zäunen oder Wällen steht? Werden wir uns dann sicherer fühlen, oder wird es eine Narbe sein, die uns für immer daran erinnert, wie verletzlich wir sind? Dass wir oft zu spät handeln, dass das Gedächtnis der Menschheit zu kurz ist, dass die Natur uns immer einen Schritt voraus ist?
Auch in Nybyen, weiter unten im Tal, wo die Student*innen wohnen, herrscht Lawinengefahr. Das Studierendenwerk plant neue Wohnheime am Flussufer im Zentrum. Auch Teile der Energiewerke liegen in der Gefahrenzone, ebenso wie das Wasserreservoir der städtischen Wasserversorgung.
Der Pastor und die Angehörigen vieler Verstorbener fürchten, dass die Gräber, die seit 1917 auf dem Friedhof angelegt wurden, durch Erdrutsche oder Überflutung weggeschwemmt werden könnten. Die Kirche von Spitzbergen plant inzwischen einen neuen Bestattungsort, wo sowohl die Lebenden als auch die Toten in Sicherheit sind. Die Kirche selbst steht auch im Lawinengebiet und soll rückseitig eventuell mit einem Wall versehen werden.
Aus unserem Badezimmerfenster sehe ich die großen Baumaschinen. An der Straße oberhalb wird gebaggert und gehämmert. Statsbygg errichtet neue Wohngebäude als Ersatz für die Häuser in Lia, sowohl die zerstörten als auch die gefährdeten. Die Arbeiten schreiten im Eiltempo voran. Die einzelnen Bauelemente werden in der Fabrik im norwegischen Steinkjer vorgefertigt, mit dem Schiff nach Longyearbyen transportiert und dann vor Ort montiert. Bis Weihnachten, also in sechs Monaten, sollen die ersten dreißig Wohnungen fertig sein, dreißig weitere im nächsten Sommer. Diese Häuser sind für Staatsbedienstete und Angestellte der Lokalverwaltung von Longyearbyen gedacht. Am Fluss entstehen neue dreigeschossige Wohnblocks, die auch Privatleute kaufen oder mieten können. Der Wohnungsmarkt auf Spitzbergen ist ziemlich ungewöhnlich: Die meisten Immobilien sind in staatlicher oder privatwirtschaftlicher Hand und werden den Angestellten umsonst oder zumindest bezuschusst angeboten. Selbstständige und Freiberufler*innen erhalten meist keinen Wohnungszuschuss. Sie müssen für eine Wohnung Preise wie in Oslos Nobelvierteln bezahlen, wenn sie überhaupt das Glück haben, ein Dach über dem Kopf zu finden, denn die Wohnungsnot ist groß. Ich kenne viele Leute, die in ihrem Freundeskreis von Sofa zu Sofa gezogen sind oder illegal in Bootsschuppen gewohnt haben.
Wäre es nach mir gegangen, hätten Trond und ich womöglich in einem der Spiss-Häuser gewohnt, die 2015 von der Lawine erfasst wurden. An einem Sommertag vor zehn Jahren paddelten wir über den Adventfjord zu einer Hütte von Freunden. Mein Kopf lag auf Tronds Schoß, über uns die Mitternachtssonne, und wir sprachen über die Zukunft. Nach einer Reihe von Umzügen von einer Mietwohnung zur nächsten hatten wir ein kleines Reihenhaus am Ende des Vei 236 gekauft. Bevor Kinder kamen, mussten wir etwas Größeres finden. Eine Straße weiter unten stand ein Reihenhaus zum Verkauf, das an Spitzbergen-Maßstäben gemessen ganz passabel abschnitt. Ich überlegte, ob wir es kaufen sollten. Trond, der Schreiner ist, wollte am liebsten selbst bauen, weil wir so bessere Qualität für weniger Geld bekommen würden. Zu jener Zeit gab es bereits Pläne, in der Gegend im Gruvedalen, dort wo Statsbygg inzwischen baut, neuen Wohnraum zu schaffen. Mindestens einer der Abschnitte war für Privatleute gedacht, aber die Pläne wurden immer wieder aufgeschoben.
Wir studierten eingehend die Flurkarten und kamen zu dem Schluss, dass in der Verlängerung des Reihenendhauses, in dem wir bereits wohnten, noch Platz für ein weiteres Einfamilienhaus sein müsste. Das Grundstück gehörte dem Bergbauunternehmen Store Norske, und dort war man ganz unserer Meinung. Wir zeichneten die Grundfläche und den Wendeplatz in der Karte ein, aber die Bezirksverwaltung von Longyearbyen lehnte unser Ansinnen bereits ab, noch ehe wir einen Antrag stellen konnten.
Da wir mit unseren eigenen Bauplänen nicht weiterkamen, hörte ich mich nach anderen Immobilien um. Ich fand ein Haus ganz oben in Lia. Es war eine Doppelhaushälfte, alles auf einer Ebene, mit einer wunderbaren Aussicht über Stadt und Fjord. Das Haus lag in der ersten Reihe auf dem Weg zum Sukkertoppen. Trond protestierte. Wir würden mehr für unser Geld bekommen, wenn wir selbst bauten. Später konnte ich ihn zu einer Besichtigung eines der Spiss-Häuser überreden, aber sein Urteil fiel eindeutig aus. Dieses Haus hätte vollkommen renoviert werden müssen: Elektroleitungen, Dach, Isolierung, Stelzen – viel zu viel Arbeit und viel zu teuer. Im Dezember 2015 fiel ebendieses Haus der Lawine zum Opfer.
Eine andere Familie kaufte das erste Haus, das ich im Auge gehabt hatte. Sie waren überzeugt, ein Schnäppchen gemacht zu haben.
Aber nachdem im Februar 2017 die Lawine durch eines der Nachbarhäuser gefegt war, wurde das Paar mit seiner kleinen Tochter bis nach der Schneeschmelze evakuiert. Als am 17. Dezember desselben Jahres wieder Schneemassen runterkamen, mussten sie erneut ausziehen und konnten erst Anfang Juni wieder in ihr Haus zurück.
Jedes Mal, wenn es regnet oder schneit, schätze ich mich glücklich, dass Trond so stur geblieben ist. Dass wir unser eigenes gelbes Haus in sicherer Entfernung vom Lawinengebiet gebaut haben. Wenn die Menschen in anderen Stadtteilen evakuiert werden, habe ich trotzdem ein schlechtes Gewissen, dass es uns so gut geht, während andere mit der Ungewissheit leben müssen, wann es wieder Zeit wird, die Taschen zu packen und das Weite zu suchen. Viele haben ihr Zuhause verloren und zwei Familien das Wertvollste, was sie hatten.
Wie die meisten Häuser in Longyearbyen steht auch unseres auf Stelzen, die im Permafrost verankert sind. Der Permafrost ist eine dauerhaft gefrorene Bodenschicht mit hohem Eisanteil, die sich durch die Erde bis in den Fels ausdehnt. Baute man hier sein Haus direkt auf den Grund, würde der Permafrost darunter auftauen und der Boden uneben werden. Das Haus würde sich setzen und Schaden nehmen. Darum stehen hier die meisten Gebäude so weit angehoben, dass die kalte Luft darunter zirkulieren und den Boden kühl halten kann, sodass der Permafrost so wenig wie möglich in Mitleidenschaft gezogen wird.
Vor genau zwanzig Jahren bohrten Ketil Isaksen und seine Kollegen ein hundert Meter tiefes Loch in den Janssonhaugen, zwanzig Kilometer östlich der Stadt. Die Temperaturfühler, die in diesem Loch angebracht sind, zeigen an, dass der Untergrund von einer Wärmewelle erfasst worden ist. Der Permafrost ist nur noch höchstens –5 bis –6 Grad kalt und wird in Richtung der Oberfläche zunehmend wärmer. In zehn Metern Tiefe ist die Temperatur in zwanzig Jahren um 2 Grad angestiegen.
Oberhalb des Permafrosts liegt eine Erdschicht, die im Sommer taut. Man nennt sie die »aktive Schicht«. Auf dem Janssonhaugen war diese Schicht vor zwanzig Jahren selten dicker als 1,5 Meter. Heute umfasst sie 1,8 Meter.
Durch die Erwärmung des Permafrosts und der Eisschicht im Untergrund verschlechtert sich seine Tragfähigkeit, außerdem bringt das Abschmelzen des Permafrosts auch für die Infrastruktur der Stadt Schwierigkeiten mit sich. Die Straßen sind von natürlichen Bremsbuckeln und Dellen nur so übersät. Selbst in nüchternem Zustand kann man das Gefühl bekommen, betrunken zu sein, wenn man die Fußgängerzone entlanggeht.
An den Abhängen verschiebt die abrutschende aktive Schicht die Stelzen, auf denen die Häuser stehen. Langsam, langsam, aber sicher.
Auch der Mythos, auf Spitzbergen würde aufgrund der großen Trockenheit nichts verrotten, ist inzwischen widerlegt. Zahlreiche Stelzen sind durch und durch morsch. Die Hauseigentümer müssen sie gegen neue austauschen und verwenden nun imprägniertes Holz oder Stahl. Auch um die Kirche muss man sich kümmern. Trond befürchtet schon lange, dass sie einstürzen könnte, und möchte nicht, dass wir uns bei starkem Wind in ihrer Nähe aufhalten.
Viele Häuser haben Setzungsschäden. Auch daran wird dem Klimawandel die Schuld zugeschrieben, aber Ingenieure vor Ort halten dies nicht unbedingt für gerechtfertigt. Für den guten Stand eines Hauses braucht man einen professionellen Bauplan, der den Permafrost berücksichtigt, ebenso wie hochwertige Arbeit und gute Instandhaltung.
In den siebziger Jahren, als die Spiss-Häuser errichtet wurden, bohrte man vier Meter tiefe Pfahllöcher mit einer 8-Zoll-Bohrkrone in Erde und Permafrost, in denen anschließend die 3,80 Meter langen Holzstelzen versenkt wurden.
Die neuen Gebäude in Gruvedalen ruhen auf Stahlträgern, die zwischen neun und zehn Meter tief in die Erde reichen, davon mindestens drei Meter ins Felsbett. Auch unser Haus steht auf Ständern, die im Fels verankert sind. Zusätzlich haben wir einen Meter hinter dem Haus eine Wand errichtet, die das Haus vor Erdrutschen aus dem Gruvedalen schützen soll. Auch diese Wand steht auf Pfählen im Fels. Ich habe mich überzeugen lassen, dass diese Lösung ausreicht und unser Haus so für die Zukunft gerüstet ist. Trotzdem habe ich immer wieder das Worst-Case-Szenario vor Augen, nämlich dass der gesamte Hang von Gruvedalen ins Rutschen kommt. Dass sich die Erde vom daruntergelegenen Permafrost löst und sich ins Tal schiebt. Dass unser Haus und die neuen Gebäude im Gruvedalen auf ihren hohen Stelzen stehen bleiben, während die Nachbarhäuser und die Straßen davontreiben. Ich habe Ketil Isaksen gefragt, ob der Berghang auf diese Weise abrutschen könne. Er antwortete, es sei wichtig, die bebauten Gebiete genau zu analysieren, zu überprüfen, wie hoch der Eisgehalt im Boden ist und wie die Bodenbeschaffenheit dort aussieht. Wenn man auf Rutschschichten stößt, wie beispielsweise in einer Schneedecke, ist das ein schlechtes Zeichen. Lawinen können dann durch kräftige Niederschläge ausgelöst werden oder auch dadurch, dass die Temperaturen über einen längeren Zeitraum gradweise ansteigen und so die aktive Schicht immer dicker und schwerer wird. Diese Antwort hat mich nicht besonders beruhigt.