Читать книгу Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe - Страница 4
Erstes Kapitel.
ОглавлениеDirektor Fredrichs, ziemlich am Schluss, diktierte:
„... wir werden uns also gestatten, in den nächsten Tagen persönlich bei Ihnen vorzusprechen ...“
Herdiths schmale, braune Hände flogen auf den Tasten.
„Bei Ihnen zu versprechen“, wiederholte sie und wurde rot.
„Wo sind Sie denn heute mit Ihren Gedanken, Fräulein Assmussen?“
Direktor Fredrichs schüttelte ärgerlich den Kopf. Aber wie er Herdiths schuldbewusstes Gesicht sah und den heimlichen Blick nach der Uhr, die, gross und sonnebeleuchtet, auf Direktor Fredrichs Schreibtisch stand, lächelte er:
„Aha, Wochenendunruhe, Fräulein Assmussen — nicht wahr? Na, machen wir Schluss. Den Brief noch, und Sie können gehen.“
„Danke, Herr Direktor!“
Herdith sagte es leise. Sie schämte sich wirklich. Wie konnte sie so fahrig sein? Aber bei dem Wort „vorzusprechen“ hatte sie natürlich an „versprechen“ gedacht. Sie hatte Jobst Reichardt versprochen, vor Beginn des Trainings da zu sein. Und nun würde sie es noch nicht einmal pünktlich zu Beginn schaffen! Ihre Hände rannten noch schneller über die Tasten. Sie hatte eine wahre Wut gegen die Firma Eckmann, der dieser Brief des Chefs galt. Eckmann hätte es auch nicht so eilig haben brauchen; ob er seinen Posten Papier einen Tag später oder früher bekam, war doch gleich.
„Uff!“ Sie reckte die Arme; man war fertig. Ordentlich steif war man in den Gliedern von der ewigen Hockerei an der Maschine. Da würde das scharfe Training im Vierer ordentlich gut tun. Mit einem energischen Schwung knallte sie den Schreibmaschinendeckel auf die Maschine.
So, nun Ordnung machen! Drüben von der Nikodemuskirche schlug es bereits halb zwei Uhr. Eine ärgerliche Falte stand in Herdiths braungebrannter Stirn. Kein Gedanke, dass sie pünktlich sein konnte. Energisch bürstete und wusch sie sich ihre Hände. Schnell mit dem Kamm übers Haar. Köfferchen in die Hand, die kleine, weiss gestrickte Mütze auf den blonden Kopf. Blick in den Spiegel nicht nötig, kostete nur Zeit.
Mit einem kleinen Wonnegefühl empfand sie das Zuschlagen der Bürotür. Wie wartete man immer auf diesen Augenblick! Man arbeitete gern. Man war glücklich, dass man Arbeit hatte. Aber das konnte einem kein Mensch auf Gottes weiter Erde einreden, dass Arbeit schöner wäre als Wochenende.
Im Hause wurde es schon still. Die Angestellten waren wohl schon gegangen. Nur ein paar Nachzügler eilten, fröhlich plaudernd, dem Ausgang zu. Auf allen Gesichtern stand ein Gedanke: Wochenende. Frühling! Frei sein!
An der Ecke des ersten Stocks stiess Herdith auf Herrn Fröschke, den Abteilungsleiter aus dem Stockwerk über ihr.
„Na, Fräulein Assmussen, immer die Letzte? Immer fleissig, fleissig!“ sagte er etwas asthmatisch, denn er steckte gut in seinem Fett. Er warf einen wohlgefälligen Blick über Herdiths schlanke Gestalt und ihr helles, verbranntes Gesicht.
„Bitte, Fräulein Assmussen!“ Galant hielt er ihr den Fahrstuhl auf. Herdith stieg ein.
„Vielen Dank, Herr Fröschke!“
„Na — was tun Sie denn heute mit Ihrem schönen Sonnabend, Fräulein Assmussen?“
„Rudern, Herr Fröschke!“
Herr Fröschke schüttelte verständnislos seinen kugelrunden Kopf, seine blauen Augen quollen beängstigend hervor.
Sieht wirklich wie ein Frosch aus!, dachte Herdith.
Herr Fröschke war nur unter dem Spitznamen „Frosch“ im ganzen Hause bekannt.
„Das begreife ich, dass Sie das nicht verstehen, Herr Fröschke! Für Sie wäre das wohl nichts?“
„Nein, wirklich nicht!“ meinte Herr Fröschke melancholisch. „Wenn man sich die ganze Woche im Betrieb abrackert und dann in so ’n Boot — und dann noch eins, zwei, eins, zwei. Und dann ist es heiss. Und man schwitzt. Und zu trinken gibt’s auch nichts. Nein, Fräulein Assmussen, das denk’ ich mir durchaus nicht schön! Sehen Sie, da ist es doch viel hübscher, man nimmt seinen kleinen Wagen —“
„Wenn man einen hat!“ schaltete Herdith ein.
„Wenn man keinen hat, hat ’n anderer einen!“ Herr Fröschke sah Herdith aufmunternd an. „Und dann fährt man so zu zweien hinaus in die schöne Gotteswelt. Sichert sich irgendwo ein nettes Plätzchen, trinkt ein gutes Möselchen — es kann auch eine Bowle sein, die Damen lieben ja Bowlen mehr.“
„Ach so, Sie fahren mit einer Dame?“
In Herdiths Augen funkelte es vor Vergnügen.
„Wenn ich eine habe, die mir zusagt, Fräulein Assmussen!“
Gott sei Dank, dass wir nun gleich da sind!, dachte Herdith. Der fängt wahrhaftig an, mir eine Liebeserklärung zu machen.
„Was machen Sie denn da?“ sagte sie entgeistert.
Herr Fröschke hatte ganz wie in Gedanken an den Klingelknöpfen des Fahrstuhls gespielt. Ssst! — fuhr der Fahrstuhl aufwärts.
„Aber wir wollen doch ’runter, Herr Fröschke!“
Herr Fröschke legte sein Gesicht in bekümmerte Falten:
„Ach natürlich wollen wir ’runter, Fräulein Assmussen! Tausendmal Entschuldigung. Ja, wenn man so abgearbeitet ist wie ich, da wird man zerstreut.“
„Na, nun lassen Sie mich mal machen.“ Herdith schob Herrn Fröschkes Hand energisch von den Klingelknöpfen weg. Der war imstande und schunkelte sie so eine Weile auf- und abwärts.
Jetzt waren sie wieder knapp vor dem Erdgeschoss angelangt. Da gab sich Herr Fröschke einen Ruck:
„Fräulein Assmussen, würden Sie nicht mal mit mir so einen kleinen Wochenendausflug machen? In allen Ehren natürlich, in allen Ehren.“
„Dachten Sie etwas anderes?“ fragte Herdith lachend. „Aber tut mir leid, Herr Fröschke, es geht nicht! Sehen Sie, ich brauche das Training, ich muss auf Linie halten. Einen recht schönen Tag, Herr Fröschke!“
Sie war aus dem Fahrstuhl heraus. Noch als sie auf die Elektrische sprang, musste sie über das verdutzte Gesicht von Herrn Fröschke lachen.
In der Stadt brütete schon die Mittagshitze. Der Frühling tat, als ob er der Sommer wäre. Herdith stand vorn auf der Elektrischen. Da war ein wenig Luft und Windzug. Draussen würde es schön sein. Sie schloss die Augen. Da hatte sie das Bild: das Wasser, umkränzt von dem Grün der Wälder. Segelboote, weiss auf dem schäumenden Blau dahinschiessend. Sonne. Fröhliche Menschen, braun gebrannt, gesund, frei von Stadtenge und Stadtkleidung.
Die Boote glänzten in der Sonne. Fröhliches Getümmel. Die Kameraden vom Klub. Die Kameradinnen. Und zwischen ihnen Jobst Reichardt mit seinem kantigen, braunen Gesicht, in dem die grauen Augen so hell standen, dem der blonde Schopf immer ein wenig unordentlich in die Stirn wehte.
Ach, es war schön, wenn man jung ist, wenn Wochenende war! Wenn man Jobst Reichardt entgegenfuhr!
Herdith hielt sich an der Stange der dahinsausenden Bahn fest. Eine blonde Strähne ihres Haares wehte im Winde. Die Elektrischen klingelten so lustig. Die Blumenauslagen in den Fenstern leuchteten in der Sonne. Kinder spielten Kreisel und Murmeln auf einem Spielplatz. Die Frauen hatten schon helle Frühlingskostüme. An mancher Bluse steckte ein kleines Sträusschen.
„Jugend!“ sangen die Schienen, auf denen die Bahn dahinfuhr, „Jugend!“ schien der Wind zu singen — „Jugend!“ die Frühlingsluft und die kleinen weissen Sommerwölkchen, die über dem Tiergarten dahinzogen. Nur noch eine Haltestelle, dann war der Potsdamer Platz da. Dann musste sie aussteigen und mit der Vorortbahn weiterfahren.
Sie sah hastig auf die Normaluhr. Herrgott, schon zwei Uhr! Wenn sie nur den Anschluss nach Babelsberg noch erreichte, sonst waren wieder zwanzig Minuten verpatzt!
Sie stand schon halb auf dem Sprunge, auszusteigen. Da fuhr ein feuerrot lackierter kleiner Wagen dicht an ihr vorbei und bog in die Bellevuestrasse ein. Am Steuer sass eine junge Dame im schneeweissen Automantel; schneeweisse Handschuhe, eine giftgrüne Kappe, darunter ein dunkles, pikantes Gesicht. Herdiths Fröhlichkeit wich einem jähen Aerger. Natürlich, wenn man in einem eigenen Wagen fahren konnte wie Marion Karnau! Wenn man nichts zu tun hatte als an sich zu denken und zu machen, was einem passte, dann konnte man gut pünktlich sein. Wenn sie einen Wagen hätte — vor ein paar Tagen war Jobst Reichardt sehr ärgerlich gewesen, dass sie wieder zu spät zum Training gekommen war.
„Weiss ich alles, Herdith!“ hatte er ihre Erwiderung abgeschnitten. „Aber jetzt, wo’s um die Wurst geht, ein paar Wochen, ehe wir gegen den Klub in Prag antreten, jetzt muss eben Zeit sein. Die anderen sind doch auch pünktlich da.“
Herdith hatte schon ein heftiges Wort auf der Zunge. Aber da sah sie Marions spöttisches Gesicht. Der den Gefallen tun, einen Krach mit Jobst Reichardt zu haben? Nein, lieber herunterschlucken! Aber wenn sie an Marions Stelle gewesen wäre, dann hätte sie vermutlich gesagt:
„Vielleicht kann ich dich einmal abholen, Herdith?! Da kommst du doch schneller heraus!“
Ja, Kuchen! Marion würde sich schonen. Die freute sich ja nur, wenn es zwischen ihr und Jobst Reichardt etwas setzte. Herdith hatte eine gänzlich unkameradschaftliche Wut auf Marion. Und die Wut war noch in ihr, als sie jetzt in ihrem Abteil im Wannseezug sass und Babelsberg entgegenrollte.
Das Klubhaus stand hell und festgefügt in der Sonne, wie angelehnt an den dunklen Kiefernwald dahinter. Vor dem Hause war es weiss von hellem Licht und hellem Sand. Dazwischen leuchtete das goldene Braun der Boote. Einige standen noch draussen. Andere wurden herausgebracht. Ein fröhliches Gewimmel von Menschen überall. Junge Mädchen und junge Männer im Ruderdress. Dazwischen andere in bunten Badeanzügen. Lachen, Rufen, Scherzen, Sorglosigkeit überall.
Marion Karnau hielt mit ihrem kleinen roten Wagen vor der Einfahrt.
„Herr Reichardt schon da?“ fragte sie den vierzehnjährigen Jungen des Bootwarts.
„Jawohl, Fräulein, dort steht ja sein Rad!“ Er zeigte auf ein Motorrad, das seitlich am Zaun lehnte.
Marion stieg aus. Sie ging ums Haus herum. Dort in der Sonne sah sie Jobst Reichardt. Sein blonder Schopf wehte. Er sprach mit ein paar Klubkameradinnen, die gemeinsam mit ihm an dem Rennboot des Klubs hantierten.
Marion zog aus ihrer giftgrünen Ledertasche das Spiegelchen. Schnell fuhr sie sich noch einmal mit der Puderquaste über ihr pikantes Gesicht, zog die Lippen schnell nach. So — nun war sie mit sich zufrieden.
„’n Tag, Reichardt!“ Sie rief es laut über die anderen hinweg, nickte den Kameradinnen zu.
„Guten Tag, Marion!“ sagte der; sah nur flüchtig auf. „Na — warum sind Sie denn noch so pikfein? Wir wollen doch gleich starten. Wenn nur Herdith bald da wäre! Machen Sie wenigstens los.“
Er sprach schon wieder mit den anderen jungen Mädchen, die um ihn herumstanden.
„Grobian!“ sagte Marion leise vor sich hin. Da hatte sie nun ihren neuen Mantel an, ihre neue Mütze auf und war, wie ihr Vetter Thom vor der Abfahrt versichert hatte, zum Anbeissen! Aber Jobst Reichardt hatte ja nichts anderes im Kopfe als das Rudertraining, Sieg, Kampf. Er schien der Meinung, dass eine Frau im Ruderdress allein Wert hätte.
Ich glaube wirklich, dachte Marion böse, während sie langsam den Ankleidekabinen zuging, um sich umzukleiden, er wäre imstande und heiratet eine Frau nicht, weil sie hübsch ist oder reich, oder sonst was — nur, weil sie am besten rudern kann. Dann hätte er eigentlich auch noch vor kurzem sie wählen müssen. Da war im letzten Moment Herdith Assmussen dazwischengekommen. Wie sie Herdith hasste! Ohne Herdiths Auftauchen wäre sie jetzt Schlagmann und unbestrittene Beste im Skull-Vierer des Klubs. So aber hatte sie Herdith den Platz abgeben müssen. Das kam davon, wenn man solche Leute wie Herdith in den Klub aufnahm. Sie hatte sich ja den Mund fusselig geredet. Wer war schon Herdith Assmussen?
Eine kleine Sekretärin in irgendeinem Geschäft. Sie gehörte eigentlich gar nicht in den Vierer!, dachte Marion. Aber die anderen hatten sie überstimmt, und Jobst Reichardt hatte sehr energisch erklärt:
„Was haben Sie gegen Herdith einzuwenden, Marion? Dass sie arm ist und für sich selber sorgen muss? Das erhöht meine Achtung vor ihr. Sie ist ein feiner Kerl und ein guter Kamerad — die beste unter Ihnen allen! Wenn Sie Wert darauf legen, mich als Trainer zu behalten, dann kommt Herdith Assmussen in den Vierer.“
Da hatte Marion nichts mehr zu sagen gewagt, denn sie spürte, es war Jobst Reichardt ernst. Ehe sie den verlor, nahm sie lieber diese eklige Herdith in Kauf.