Читать книгу Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe - Страница 7

Viertes Kapitel.

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Der Frühling lag mit seiner lichten Bläue über dem ganzen deutschen Lande. Ueberall blühte und grünte es.

Im Vorgarten von Sanitätsrat Keunecke am Hagentore in Braunschweig blühten die letzten Schneeglöckchen in dichten Büscheln. Sanitätsrat Keunecke ging langsam in seinem Vorgarten auf und ab. Es roch frisch nach Erde, untermischt mit dem letzten herben Geruch des welken Winterlaubs, das aber schon von der Sonne durchwärmt wurde.

Sanitätsrat Keunecke stand still, schnupperte in die Luft. Wahrhaftig, da duftete es schon irgendwo nach Veilchen. Sicher, an der Südmauer des Hauses nach dem Wasser zu mochten die ersten aufgebrochen sein.

„Komm, Waldi, wollen wir mal nach den Veilchen sehen“, sagte er zu seinem braunen Dackel, der frühlingsselig neben ihm herlief. Aber Waldi schien keinerlei Interesse für Veilchen oder ähnliche ungeniessbare Dinge zu haben. Was sollten ihm Veilchen? Der Knochen, den er tags zuvor seinem Nachbarn, dem schwarzen Spitz, entrissen hatte, lag wohlverwahrt in einer Ecke des Gartens. Waldi hatte eigentlich beabsichtigt, den heutigen Morgenspaziergang mit Herrchen dazu zu benutzen, um in Ruhe diesen Knochen zu vertilgen. Aber als Sanitätsrat Keunecke wieder pfiff, nun etwas schärfer, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sein sorgenvolles Dackelgesicht zeigte höchste Missbilligung, und immer wieder wandte er sich sehnsüchtig nach dem geliebten Knochenversteck um.

„Wahrhaftig, Veilchen“, sagte Sanitätsrat Keunecke vor sich hin. Durch seine Brille hatte er sie erspäht. Die ersten dunkelblauen, kleinen Blütchen, noch zag und verdeckt vom Laub, aber dennoch da! Ein unwiderlegbarer Beweis, dass der Frühling nun endlich gekommen war. Er wollte sich bücken. Da scholl eine schrille Stimme von der Veranda:

„Heinrich, Heinrich, du sollst dich doch nicht bücken! Heinrich, komm doch weg. Am Wasser zieht es. Heinrich, du bist überhaupt schon viel zu lange draussen. Heinrich, das Frühstück ist fertig.“

„Wollen wir gehen, Waldi?“ fragte Sanitätsrat Keunecke seinen Dackel.

Waldi wandte sich um nach der Richtung, aus der wieder das schrille „Heinrich“ ertönte. Sein Gesicht drückte noch tiefere Missbilligung aus. Diese Stimme und was zu ihr gehörte, war noch schlimmer, als wenn man seinen Knochen nicht holen konnte.

Er sah seinen Herrn ermunternd an, als wollte er sagen: Bleiben wir hier — seien wir mutig! Und dann begann Waldi wild in dem vermoderten Laubwerk zu scharren; das bedeutete: Siehst du nicht, dass ich hier dringend beschäftigt bin? Lass die da drin doch warten!

Sanitätsrat Keunecke musste über die sprechende Mimik Waldis lachen. Also bleiben wir hier, Waldi. Schrecklich, diese ewige Bevormundung. Stellen wir uns scheintot!

Doch dieser mutige Entschluss nutzte Sanitätsrat Keunecke nicht viel. Vom Hause her kam ein flatterndes Etwas. Ein alter Lodenmantel, halb umgeschlagen, darüber ein spitzes Gesicht mit unwahrscheinlich langer Nase und einem schief sitzenden Augenglas vor kleinen, graugrünen Augen. Das Ganze gekrönt von einem unordentlich wehenden grauen Haargewuschel. Das war Sidonie Tessel, die verwitwete Schwester des Sanitätsrats, und die eigentliche Herrin im Hause.

„Buff“, bellte Waldi kurz auf. Und dann verzog er sich. Er hatte es so im Gefühl, wenn Sidonie Tessel so ankam, dann wählte man besser die Flucht. Zwischen Waldi und Sidonie bestand eine tiefe und herzliche Abneigung. Wäre in diesem einen Punkte der alte Sanitätsrat Keunecke nicht seiner Schwester gegenüber energisch gewesen: Waldi wäre wohl nicht mehr hier. Sidonie hasste Hunde, wie überhaupt alles Getier. Nach ihrer Meinung gehörten Tiere in die Natur, allenfalls in den zoologischen Garten, aber nicht ins Haus. Sie hasste jede Unordnung und jede Ueberraschung. Vor allen Dingen waren ihr Hunde im Hause verhasst, denn kurzsichtig, wie sie war, stolperte sie bei allen Gelegenheiten darüber: „Man sieht sie nicht, dann tritt man auf sie, dann quietschen sie, dann erschrickt man und dann kriegt man Migräne!“ In diesem klassischen Satz hatte sie ihre ganze Abneigung gegen Hausgenossen wie Waldi zusammengefasst.

Waldi war in den Jahren, als Sanitätsrat Keunecke noch allein wirtschaftete, ziemlich der Selbstherrscher des Hauses geworden. Es hatte eines zähen und erbitterten Kampfes zwischen Sidonie und Waldi bedurft, um Waldi zur Vernunft zu bringen. Schliesslich hatte es Waldi eingesehen: Sidonie mit ihrem kleinen gelben Rohrstock war entschieden die Mächtigere. Es hatte keinen Zweck, die Bücklinge vom Abendbrottisch herunterzufressen und die Köpfe fein säuberlich auf den Tisch zu garnieren, wenn man hinterher Hiebe bekam. Sanitätsrat Keunecke hatte etwas Derartiges nur mit einem verweisenden: „Aber Waldi, wirst du denn niemals vernünftig werden!“ quittiert.

Und Waldi hatte nicht daran gedacht, vernünftig zu werden. Ein Dackel hatte nicht vernünftig zu sein, das lag nicht in seiner Natur. So fühlte er sich von Sidonie und ihrem schmerzenden Rohrstock geradezu vergewaltigt. Er ging ihr aus dem Wege, wo er nur konnte, und überliess auch jetzt den Sanitätsrat der schrillen Stimme und den vorwurfsvollen Augen Sidonies.

„Aber Heinrich, ich habe dich doch schon ein paarmal gerufen. Hast du nicht gehört?“

„Du mich gerufen?“ Sanitätsrat Keunecke stellte sich unschuldig wie ein vom Himmel gefallenes Kind. „Kein Wort hab’ ich gehört, Sidonie.“

„Siehst du, Heinrich, jetzt schlägt’s dir auch noch auf die Ohren“, jammerte Sidonie Tessel schrill. „Sicher ist die Erkältung weitergegangen. Komm nur schon ’rein. Willst du dir denn den Tod holen? Es ist furchtbar mit euch Männern. Unvernünftig wie die kleinen Kinder! Gott sei Dank, dass ich nicht noch einmal geheiratet hab’. Ich Aermste — wie wäre es mir da ergangen?!“

Dabei nahm sie energisch Sanitätsrat Keunecke unter den Arm und schob ihn dem Hause zu.

Sanitätsrat Keunecke, ergeben neben ihr herstapfend, dachte bei sich: Wie wär’s erst einem zweiten Manne ergangen, wenn er dich geheiratet hätte, meine Liebe! Der erste hat schon genügend auszustehen gehabt! — Aber zu sagen wagte er das nicht. Denn gegen Sidonie zog er doch immer den kürzeren. Sie war der Herr im Hause. Und hätte er sich behaupten wollen, da hätte er schon früher anfangen müssen. Damals schon, als sie Herdith — ach, gar nicht daran denken! Wenn er an Herdith dachte, dann bekam er Herzbeklemmungen.

Aber schön war das Leben nicht mehr, seitdem das Kind aus dem Hause war und man krank geworden und anfällig, ganz den Launen und der Tyrannei Sidonies ausgeliefert. Ein Glück, dass er sich angewöhnt hatte, nicht mehr hinzuhören. Was Sidonie erzählte, ging zu einem Ohr herein, zum andern hinaus. So hörte er auch jetzt nicht, was sie ihm mit ihrer klirrenden Stimme berichtete, dass Rechtsanwalt Megede sich ein Auto gekauft hätte. Unerhört eigentlich, wie die jungen Leute jetzt hoch hinaus wollten — kaum niedergelassen als Anwalt und schon ein Auto. Sein Vater wäre schön zu Fuss gegangen. Aber der Herr Sohn?

„Alles überspannt! Jeder will was Besonderes sein. Findest du nicht auch, Heinrich?“

„Ja, ja“, stimmte Sanitätsrat Keunecke zu; er hatte keine Ahnung, was Sidonie eben geredet hatte. Da war ja der erste Zitronenfalter über dem Rasenweg. Ganz dottergelb und noch etwas ungeschickt flatterte er durch die Luft.

„Und Frau Hartmann hat erklärt, sie hätte auch gern mal zum Abendbrot belegte Stullen statt Schmalzstullen. Was die Leute jetzt anspruchsvoll sind. Der eine ein Auto, der andere belegte Stullen!“

„Wieso will denn Megede belegte Stullen?“ fragte Keunecke zerstreut. Die Bäume standen schon in den ersten Knospen und hoben sich zart wie eine Zeichnung von dem weichen Frühlingshimmel ab.

„Du hast auch für nichts mehr Sinn, Heinrich“, schalt Sidonie Tessel. „Man kann dir erzählen, was man will. Du interessierst dich für nichts!“

„Oh, meine Liebe, ich interessiere mich. Also wie war das mit den Schmalzstullen?“ wiederholte Keunecke gehorsam.

Der Hausflur empfing sie in seiner steinernen Kühle. Die alten Mauern des Keuneckeschen Hauses hielten noch die winterliche Kälte fest.

„Aber Heinrich, du wirft dir doch nicht den Mantel hier draussen ausziehen. — Das will ein Arzt sein?!“

Sidonie Tessel schob ihren Bruder energisch in das Wohnzimmer hinein. In dem bullerte der alte Kachelofen lustig. Ein schöner Duft von Kaffee zog durch den Raum.

Jetzt kam Martha, das kleine Hausmädchen, und half dem Sanitätsrat aus dem Pelz. Er setzte sich an den Tisch. Der war tadellos gedeckt. Auf den Zentimeter genau standen die Tassen ausgerichtet, neben ihnen Teller und Messerbänkchen. Links lag neben dem Platz des Sanitätsrats seine Post und die Morgenzeitung, neben dem Platz von Sidonie Tessel die illustrierten Zeitschriften, die sie zu lesen pflegte.

„Martha, den Tee für den Herrn Sanitätsrat!“

„Ach schade, ich dachte, ich bekomme Kaffee.“

Sanitätsrat Keunecke sah bedrückt auf die dickbauchige Kanne, die unter einer rosagestrickten Kaffeemütze verborgen war.

„Aber Heinrich, Kaffee bei deinem Herzen? Du weisst, Kaffee ist dir schädlich. Du trinkst Tee!“ Sidonie rückte energisch die Kaffeekanne aus der Nähe des Bruders und goss ihm Tee ein.

„Puh, und noch dazu Pfefferminztee!“

„Viel gesünder als anderer. Wenn ich nicht auf deine Gesundheit achten würde, dann wärst du schon längst im Grabe.“

„Man kann auch durch zuviel Fürsorge ins Grab kommen, liebe Sidonie.“

Der Sanitätsrat konnte nun doch nicht mehr gegen seine Wut an. „Ich bin doch schliesslich kein kleines Kind, dass du mich von früh bis abends gängelst.“

„Oh, bitte — wenn es dir nicht passt, brauchst du es nur zu sagen. Aber warum du mich dann aus meinem Stift fortgeholt hast, das möchte ich gern wissen. Wie schön hatte ich es dort! Wie ruhig! Keine Sorgen. Keine Arbeit. Keinen Aerger.“

„Ja, ja, ich weiss, du hast mir ein grosses Opfer gebracht, Sidonie“, warf der alte Herr ganz erschrocken ein. Wenn Sidonie jetzt anfing, ihm aufzuzählen, was sie um seinetwillen alles aufgegeben, dann war es mit der gemütlichen Kaffeestunde und dem behaglichen Zeitunglesen wieder einmal vorbei.

Sidonie hatte ein beneidenswertes Talent, alle Dinge so darzustellen, wie sie sie sah oder sehen wollte. Dass sie ihm aus dem Stift kreuzunglückliche Briefe geschrieben, wie unglücklich sie sich da fühlte, wie nutzlos, wie fehl am Ort zwischen all den alten Damen, sie mit ihrer Tatkraft — wie sie sich nur danach sehnte, dem geliebten Bruder eine schöne Häuslichkeit zu bereiten, das alles hatte sie vergessen. Aber Sanitätsrat Keunecke war viel zu feinfühlig und viel zu schwach, um einmal bei einer richtigen Gelegenheit damit aufzutrumpfen. Seit seiner schweren Erkrankung vor zwei Jahren, dem leichten Schlaganfall, fürchtete er nichts so sehr wie Aufregungen.

„Du musst nicht böse sein, Sidonie“, bat er friedfertig. „Ich bin nun eben manchmal ein bisschen nervös.“

„Ich darf aber keine Nerven haben“, kam es spitz von Sidonie. Wütend klapperte der silberne Kaffeelöffel in der Tasse. „Männer nehmen eben niemals Rücksichten.“

„Nein — Männer sind die grässlichsten, egoistischsten und dümmsten Geschöpfe von der Welt. Ich gebe dir alles zu, aber jetzt lass mich meine Zeitung lesen.“

„Ach, ich rede dir also zu viel. Für heute kommt kein Wort mehr über meine Lippen.“

Wütend bestrich Sidonie ihre Brötchen.

Wenn sie doch einmal darin Wort halten wollte!, dachte Sanitätsrat Keunecke und schlug das Morgenblatt auf.

„Empörend!“ kam es plötzlich von Sidonie. Sie hatte ihre illustrierten Zeitungen durchgelesen und schlug mit der Hand auf ein Blatt. „Sieh nur, Heinrich, ist das nicht schamlos?“

Ergeben legte Sanitätsrat Keunecke den Leitartikel der Morgenzeitung, in den er sich vertieft hatte, beiseite. Also redete Sidonie doch schon wieder.

„Was ist denn schamlos?“

„Hier, sieh mal!“ Kampfbereit drückte Sidonie ihr Augenglas fester auf ihre spitze Nase: „Die Damenmannschaft für den Ruderwettkampf zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland ist nun bestimmt worden. Unten im Kreise die vier ausgewählten Sportlerinnen mit ihrem Trainer.“

„Na, und?“ fragte Sanitätsrat Keunecke. Er hatte nicht das geringste Interesse für Rudern und wusste auch nicht, dass Sidonie irgendwelche sportlichen Neigungen hatte. Im Gegenteil, das war ja der Zankapfel zwischen ihr und dem Kinde, Herdith, gewesen.

Er zog das Blatt näher heran. In einem Ovalbilde sah man vier junge Mädchen im Ruderdress auf einem Bootsrand sitzen, in ihrer Mitte, von zweien umschlungen, einen jungen Mann, gleichfalls im Ruderanzuge. Darunter stand:

Skull-Vierer „Frohe Fahrt“.

Die Damen Marion Karnau, Kläre Grasshoff, Tina Lüders, in der Mitte Fräulein Herdith Assmussen, Schlagmann des Skull-Vierers neben dem erfolgreichen Trainer Jobst Reichardt.

„Na, und?“ fragte Sanitätsrat Keunecke noch einmal, jetzt mit etwas zitternder Stimme.

Da war das Kind, Herdith! Wie fröhlich sie aussah! Wie hübsch selbst auf diesem unscharfen und unretuschierten Bild!

Ja, so war sie. Hübsch, sonnig und jung. Wie lieb hatte er sie gehabt!

Warum war sie gegangen? Warum hatte sie sich nicht mit Sidonie vertragen können? Das hätte er eigentlich zum Dank für alles, was er für sie getan, erwarten können. Ach, nicht daran denken! Da kam schon wieder diese Beklemmung. Er fuhr sich mit der Hand zum Herzen.

Aber diesmal sah Sidonie Tessel es nicht. Empört starrte sie auf das Bild. Ihre Nase schien noch spitzer zu werden.

„Deine Nichte — nein, noch schlimmer, meine Nichte in einer Zeitung und in solchem Zustande! Halbnackt, einen fremden Mann umarmend! Es ist unerhört. Was wird nur Ihre Exzellenz im Johanna-Stift sagen, wenn sie dies Bild sieht?“

Sanitätsrat Keunecke lag es auf der Zunge, zu erwidern, dass seine Schwester Sidonie sich in der Zeit ihres Stiftaufenthalts wie Hund und Katze mit der alten Exzellenz gestanden hatte, einer reizenden alten Dame übrigens. Aber das passte auch so zu Sidonies Art, Menschen, die sie sonst nicht leiden konnte, zu Kronzeugen anzurufen, wenn es ihr in den Kram passte.

„Aber liebe Sidonie, von halbnackt kann wohl nicht die Rede sein! Das ist ein Rudertrainingsanzug, wie alle Ruder und Ruderinnen heutzutage ...“

„Wenn ich sage, es ist halbnackt, dann ist es halbnackt! Oder genügt es dir noch nicht? Nackte Beine, nackte Arme, Hosen — — wenn ich einem Menschen in meiner Jugend je so unter die Augen gekommen wäre!“

„Meines Wissens hast du ja niemals Sportneigungen wie Schwimmen oder dergleichen gehabt.“ Der alte Herr konnte sich nun doch seinen Spott nicht verkneifen. „Also lag auch keine Veranlassung dazu vor, liebe Schwester.“

„Verteidige du nur noch die moderne Zeit, das steht dir gerade an! Wenn du nicht immer so für alle Verrücktheiten der modernen Jugend gewesen wärst, dann wäre deine Nichte, oder vielmehr meine Nichte, vielleicht auch nicht so ein überspanntes, unleidliches Mädchen geworden.“

„Gesegnete Mahlzeit!“

Sanitätsrat Keunecke stand auf.

„Ja, bist du denn schon satt? Der Kollege Hübner hat doch ausdrücklich gesagt, du sollst ordentlich essen, damit du wieder zu Kräften kommst.“

„Der Kollege Hübner hat vor allen Dingen gesagt, ich soll mich nicht aufregen.“

„Ja, wer regt dich denn auf?“ fragte Sidonie fassungslos. Da fuhr sie zurück und jagte Waldi aus seinem Halbschlaf auf, den er nach erledigter Knochenmahlzeit unter dem Tisch gehalten.

„Du!“ brüllte Sanitätsrat Keunecke; wahrhaftig, er brüllte es. Schrie es, stopfte sich seine Zeitungen unter den Arm und verliess den Raum.

Sidonie wollte ihm nach. Aber Waldi, in dem instinktiven Gefühl, wie Hunde es für ihren Herrn haben, spürte: Nun war seine Stunde gekommen. Er fuhr gerade unter dem Tisch hervor, als Sidonie ihrem Bruder nach wollte. Sidonie, kurzsichtig, stiess an ihn an; es tat nicht weh, aber Waldi heulte grässlich auf.

„Du abscheuliches Vieh!“ Sidonie fuhr zurück, dann holte sie zum Schlage aus. Aber Waldi war schneller, er raste mit fliegenden Ohren an seiner Feindin vorüber; Herrchen hatte ja die Tür offen gelassen. Ehe Sidonie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, war Waldi auf und davon.

Und in Sanitätsrat Keuneckes Arbeitszimmer wurde der Schlüssel energisch im Schloss herumgedreht.

Waldi aber verzog sich befriedigt in die Küche. Bei Martha, dem kleinen, verschüchterten Hausmädchen, fand er immer Verständnis, Freundlichkeit und etwas, was er am meisten schätzte: etwas zu fressen.

Sidonie Tessel aber begab sich, in tiefster Seele gekränkt, zu ihrer augenblicklichen Busenfreundin, Frau Mathiess nebenan, um ihr von diesem Auftritt zu berichten. Es war wirklich unerhört, diese Affenliebe zu Herdith machte den guten Heinrich immer noch verdreht! Dabei war Herdith in Sidonies Augen ein Schandfleck der Familie. Konnte sie nicht dankbar sein, dass sie, die elternlose Waise, hier im Hause des Onkels ein Unterkommen gefunden? Hatte sie nicht die Pflicht gehabt, bescheiden und ohne viel zu mucksen hier haustöchterliche Pflichten zu übernehmen? Hätte sie nicht froh sein müssen, in ihrer Tante Sidonie eine Lehrmeisterin in allen häuslichen Tugenden zu finden? Aber nein, sie hatte selbständig sein wollen. Sie hatte erklärt, sie fühle sich überflüssig, da das Hauswesen ja doch nur von Tante Sidonie geleitet werde und überdies Martha vorhanden wäre. Um nur ein bisschen Staub zu wischen, zu stopfen und Handarbeiten zu machen, dazu fühle sie sich zu jung und tatkräftig.

„Das Kind hat ganz recht“, hatte Heinrich Keunecke erklärt und erlaubt, dass Herdith auf die Handelshochschule ging, Vorlesungen hörte, Sprachkurse besuchte und ihr Examen machte.

„Du wirst ja sehen, was du davon hast“, hatte Sidonie prophezeit. Ihr lag nichts daran, dass die Nichte aus dem Hause ging. Sie brauchte immer Menschen um sich herum, die sie tyrannisieren konnte. Im Stift hatte sie das mit mehr oder weniger Erfolg versucht. Nun war ihr Bruder, krank und von Natur gegen einen robusten Menschen schwach, ein willkommenes Objekt ibrer krankhaften Herrschsucht.

Aber Herdith, die nach Tante Sidonies Meinung eigentlich verpflichtet gewesen wäre, sich allen Launen der Tante zu fügen, hatte sich keineswegs einschüchtern lassen. Es war zu immer heftigeren Kämpfen gekommen, die Herdith aus Rücksicht auf Onkel Heinrich möglichst vor ihm zu verbergen trachtete. Aber sie sah ein, es ging auf die Dauer nicht. Ihre und Tante Sidonies Ansichten platzten immer wieder aufeinander.

„Ein junges Mädchen tut dies nicht — ein junges Mädchen tut das nicht“, damit hatte Sidonie immer wieder versucht, Herdiths gesunden Drang nach Selbständigkeit zu unterdrücken. Ein paar Dinge waren dazugekommen, die Heinrich Keunecke bis jetzt nicht wusste, und die Herdith ihm rücksichtsvoll verschwiegen hatte. Aber eines Tages, nach dem bestandenen Sprachlehrerinnenexamen, hatte sie Onkel und Tante vor die Tatsache gestellt, sie ginge nach Berlin. Sie hätte eine Stellung als Sekretärin.

Heinrich Keunecke, der nicht wusste, was sich während seiner Krankheit abgespielt hatte, war in tiefster Seele getroffen. Herdith war der einzige Lichtblick in seinem Hause, das seit Sidonies Einzug zu einer Stätte des Unfriedens geworden. Zum ersten Male, dass er scharf gegen seinen Liebling wurde.

„Entweder du bleibst hier, oder wir sind geschiedene Leute“, hatte er ihr erklärt.

Aber Herdith hatte, bleich, traurig, aber fest, immer wieder das eine gesagt: „Es muss sein, Onkel. Ich kann nicht hierbleiben, glaub es mir! Es ist besser für uns alle, wenn ich gehe.“

Und dann war sie gegangen. Heinrich Keunecke hatte sich eingeschlossen an diesem Morgen, als sie fort wollte. Er hatte ihr nicht Lebewohl gesagt. Wie eine Fremde war sie aus dem Hause gegangen.

So blieb denn Sidonie Siegerin. Von Tag zu Tag wartete Sanitätsrat Keunecke, dass Herdith ihm schreiben würde, aber keine Zeile kam, obwohl Herdith wusste, der Onkel war noch bettlägerig und elend. Und Sidonie triumphierte. Immer wieder liess sie spitze Bemerkungen fallen über die abgrundtiefe Undankbarkeit der jungen Menschen von heute. Und Heinrich Keunecke litt schweigend.

Aber immer öfter gingen seine Gedanken zu Herdith. Wie war es hell und sonnig im Hause gewesen, als sie hier war mit ihrem lieben sonnigen Lächeln! Ob sie auch keine Not litt? Die kleine Rente, die sie von der Mutter her hatte, konnte nicht reichen, um ihr einigermassen das Leben in der grossen Stadt zu sichern. Was sie verdiente, ahnte er nicht. Wenn sie nicht das Bedürfnis hatte, ihrem alten Onkel einmal von sich zu berichten — schliesslich hatte man auch seinen Stolz! —

Aber je länger das Kind fort war, um so schwerer war es für den alten Mann, der nicht einmal mehr seine Praxis so wahrnehmen konnte, wie er es gewohnt war. Er würde sich doch zu einem Assistenten entschliessen müssen. Sonst ging einem nach und nach die ganze Praxis verloren, oder man ruinierte sich das bisschen Gesundheit, das man sich mühsam wieder erworben hatte.

Ach, alles wurde schwer, wenn man alt wurde und einsam war und von den Launen von Menschen abhängig. Dem alten Sanitätsrat Keunecke war jetzt recht wehmütig zumute. Er sass in seinem Lehnstuhl am Fenster. Die Zeitung lag ihm im Schoss. Er sah darüber hinweg in den frühlingshellen Garten. Vorhin hatte er sich noch so über das erste Werden und Blühen gefreut. Jetzt war ihm alles vergällt. Auch die Zeitung war nicht dazu angetan, ihn fröhlicher zu machen. Ueberall Sorgen, Unruhe, ein Durcheinander auf der Welt. Am besten wäre es schon, man wäre bei der Krankheit neulich geblieben. Was hatte man schliesslich zu erwarten? Wieder neue Krankheit, ein Alter in Einsamkeit. Sidonie wurde auch immer schrullenhafter. Sicher würde sie wieder ein paar Tage gekränkt sein. Und er wusste nicht, was schlimmer war: wenn sie von früh bis abends lamentierte und an ihn herumerzog — oder wenn sie mit diesem schweigenden, verkniffenen Gesicht herumging und förmlich eine Eisatmosphäre um sich verbreitete, in der es wie von lauter spitzen Eisnadeln zu stechen schien.

Erster Preis: Du!

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