Читать книгу Erster Preis: Du! - Lisa Honroth Löwe - Страница 8
Fünftes Kapitel.
ОглавлениеZum ersten Male seit Wochen hatte sich der Frühlingshimmel über Berlin vormittags bezogen. In der Nacht hatte ein heftiger Westwind sich aufgemacht und schwere Wolken vom Ozean mit herübergebracht. Vormittags flaute der Wind ab, die Wolken hingen nun niedrig und schwarzgrau über der Stadt. Die Passanten auf der Strasse gingen schneller. Jeden Augenblick konnten die Wolken da oben brechen und ihre Regenfluten über die Stadt ausgiessen.
Da fielen auch schon die ersten Tropfen, und auf einmal schüttete es wie ein Wolkenbruch in prasselnden Fluten hernieder. Im Augenblick waren die Strassen wie leergefegt. Das war ein böses Ereignis für all die jungen Mädchen und Frauen, die ihre neuen Frühjahrskostüme gerade spazieren führten, aber für die Autodroschken ein willkommener Zwischenfall. Sonst standen sie in langen Reihen und konnten Stunde um Stunde auf Fahrgäste warten. Jetzt waren sie im Augenblick alle besetzt, rollten durch das Regengrau auf den feucht glänzenden Strassen entlang. Das Wasser spritzte hoch auf unter ihren Rädern bis zu den Bordsteinen. Die wenigen Passanten brachten sich ängstlich vor den Schmutzspritzern in Sicherheit.
Die Kaffeehäuser und Restaurants waren im Augenblick überfüllt. In den Toreingängen stauten sich die Menschen.
Ein junger Mann in schäbigem, abgetragenem Regenmantel und einem Hut, dessen Band abgegriffen und glänzig war, zögerte einen Augenblick. Dann trat er schnell in ein Kaffeehaus ein, das in einer Hauptstrasse des Zentrums gelegen war. Es hatte grosse, glänzende Spiegelscheiben. Man sah auf weiss gedeckte Tische mit elegantem Gerät. Tiefe Klubsessel standen um die niedrigen Tische. Die Wände waren mit roten Seidentapeten bespannt. Das Ganze machte einen vornehmen und soliden Eindruck.
Das Publikum freilich war einigermassen merkwürdig. Es war eine eigentümliche Mischung von protziger Eleganz und einer gewissen abgerissenen Saloppheit. Neben Herren in den neuesten, modischen Frühjahrsanzügen sassen andere, deren Anzüge schon ziemlich mitgenommen waren oder zeigten, dass sie als die billigsten irgendwo „von der Stange“ gekauft waren. An den Kleiderhaken hingen protzige Pelze. Doch konnte man deren Inhaber in Verdacht haben, dass sie diese jetzt bei der Frühlingswärme trugen, weil sie keinen andern Mantel hatten. Daneben hingen fadenscheinige Ulster.
Alle Tische waren voll besetzt. Die verschiedensten Sprachen schwirrten durcheinander. Neben deutsch hörte man hauptsächlich polnisch und russisch, auch die breiten Laute des Holländischen klangen dazwischen. Auffallend viele der Gäste trugen protzige Brillantringe an den Fingern. Alle Männer hier schienen sich irgendwie zu kennen. Immer wieder stand einer von einem Tisch auf, begab sich zu einem andern und mischte sich in das leise und lebhaft geführte Gespräch. Ab und zu trat einer von den Männern mit einem andern näher an eine der grossen Lampen heran. Aus kleinen Schächtelchen oder Seidenpapier wurden Steine herausgeholt, die im Lichte aufsprühten, wurden unter die Lupe genommen, hin und her gewendet. Und dann ging der Handel los.
Das Kaffeehaus war der Treffpunkt einer gewissen Sorte internationaler Juwelenhändler. Jedoch würde man die wirklich soliden, grossen Geschäftsleute hier vergebens gesucht haben. In all den verschiedenen Gesichtern, massigen wie schmalen, hellen wie dunklen, lag irgend etwas Eigentümliches: ein Zug von Schlauheit, Unsolidität und Skrupellosigkeit. Frauen sah man nur vereinzelt. Ein paar wirkliche Damen hatten sich bei dem Wetter hierher geflüchtet und blickten etwas erstaunt auf die eigentümlichen Gäste des Kaffeehauses. Unaufhörlich rannten die Kellner mit gefüllten Tabletts durch das grosse Lokal. Der Rauch lag dick und trübe im Raum. Die Lampen versuchten vergeblich das Grau des Regentags völlig vergessen zu lassen.
Der junge Mann blieb einen Augenblick vor dem Büfett stehen. Er grüsste mit einem vertraulichen Lächeln die hübsche, gut zurechtgemachte Büfettdame. Die gab ihm ebenso lächelnd den Gruss zurück.
„Na, Herr Tessel, mal wieder da? Sie haben sich ja so rar gemacht!“
„Schlechte Zeiten, Fräulein!“
„Noch immer nichts gefunden, Herr Tessel?“ Der junge Mann zuckte die Achseln.
„Das letzte ist nichts gewesen. Ich habe ja mehr Fahrgelder verbraucht, als ich Provision verdient habe an den Waren. Na, mal sehen, vielleicht findet sich doch noch was. Einen Kaffee, bitte!“ Er ging in den hinteren Raum, setzte sich in eine Ecke und war bald in einen Berg Zeitungen vertieft. Was ihn besonders interessierte, waren die Stellenangebote. Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und trug sorgfältig eine Reihe Adressen ein. Dazwischen aber hatte er immer noch Zeit, mit schnellen Augen umherzublicken, einen lächelnden Blick mit der Büfettdame zu tauschen und alles zu beobachten, was um ihn herum vorging.
„Sehen Sie mal, da ist ja der Tessel“, sagte ein dicker Mann mit breiten, roten Händen und aufdringlichen Brillanten an den kleinen Fingern. „Kommt der auch mal wieder hierher?“
Sein Begleiter sah flüchtig hinüber.
„Wirklich! Na, sieht auch ziemlich ramponiert aus, scheint noch nichts Rechtes gefunden zu haben.“
Der dicke Mann lächelte.
„Der Tessel weiss nicht, was er will. Entweder man versucht es auf die bürgerliche Art und Weise, dann darf man aber nicht immer wieder was anderes wollen. Oder aber man entschliesst sich, weniger bürgerlich zu sein — na, sagen wir, Geschäfte zu machen —, dann darf man hinterher nicht immer wieder Gewissensbisse bekommen. Solche Leute sind für uns nicht sicher. Wenn sie einen Kriminalbeamten sehen, fällt ihnen schon das Herz in die Hosen. Nee, danke!“ Er brannte sich eine neue Zigarre an.
Draussen prasselte der Regen immer noch. Eine junge Dame kam hastig herein. Sie hielt den triefenden, winzigen Seidenschirm ängstlich von sich ab, damit das hellgraue Frühlingskostüm nicht gefährdet wurde. Suchend sah sie sich um. Alle Tische waren besetzt. Sie ging durch das Lokal.
„Dort hinten ist noch ein Platz frei, meine Gnädigste!“ Der Geschäftsführer wies auf einen kleinen Tisch im Hintergrund.
Als die junge Dame am Tisch von Franz Tessel vorüberkam, sah der auf, stutzte. Die junge Dame beachtete ihn nicht. Aber Franz Tessel verfolgte genau, wohin sie ging. Jetzt setzte sie sich an den bezeichneten Tisch.
„Einen Tee mit Zitrone und Rum!“, bestellte sie beim Kellner. Dann nahm sie ans ihrer grossen, grauen Wildledertasche Puderdose und Lippenstift und begann die Spuren des Regens von ihrem hübschen, pikanten Gesicht zu verwischen.
Franz Tessel zögerte ein Weilchen. Dann legte er entschlossen seine Zeitungen beiseite und steuerte auf den Tisch der jungen Dame zu.
„Guten Tag, Marion!“
Marion Karnau sah auf. Einen Augenblick wusste sie nicht recht. Dann erkannte sie den jungen Mann.
„Ach, Franz! ’n Tag, wie geht es dir denn?“
Lässig reichte sie ihm die Hand in dem feinen, silbergrauen Handschuh. Dabei streifte ihr Blick schnell und prüfend über seinen Anzug, der einen verdächtigen Glanz zeigte.
„Wie’s einem bei diesen Zeiten gehen kann, Marion.“
Franz Tessel stand unschlüssig einen Augenblick am Tisch.
„Darf ich mich einen Augenblick zu dir setzen?“
„Bitte!“ Es klang ziemlich kühl. Aber Franz Tessel schien es nicht zu bemerken.
„Nein, wie ich mich freue, dich zu sehen, Marion“, er schaute sie mit einem bewundernden Lächeln an, „das sind doch jetzt — warte mal, lass mich mal nachrechnen —, das sind drei Jahre her.“
„Wie genau du das weisst!“
„Das werde ich nie vergessen, Marion. Ich weiss immer noch ganz genau, wann ich dich gesehen habe. Du weisst doch, seine erste und wirkliche Liebe vergisst man nicht.“
Er sagte es mit einem etwas dreisten Lächeln, aber er hatte die Genugtuung, zu sehen, dass Marion von dieser etwas plumpen Schmeichelei irgendwie befriedigt schien.
„Wie machst du es nur, Marion? Von Jahr zu Jahr wirst du hübscher! Na, und immer noch nicht verlobt?“ Er sah auf ihre Hände: „Noch keinen Verlobungsring? Du bist doch sicher eine der Umschwärmtesten!“
„Ich habe noch Zeit“, sagte Marion. „Und was machst du denn?“
„Gott, was soll ich machen? Ich habe mal Arbeit, und mal habe ich keine. Offen gestanden, es geht mir im Augenblick ziemlich dreckig, Marion. Sag mal —“ er rückte ein wenig näher —, „könntest du nicht mal was für mich tun?“
„Ich? Aber was für ein Gedanke! Wie soll ich etwas für dich tun können?“
„Nun, durch deinen Vater.“
Franz Tessel liess Marion keine Zeit, etwas zu erwidern. Er sprach hastig auf sie ein.
„Sieh mal, Marion, die Geschäfte deines Vaters vergrössern sich doch immer mehr. Er ist doch jetzt einer von den ganz Grossen in der Wirtschaft. Gerade heute habe ich gelesen, er hat ein grosses Aktienpaket der Groschwitzer Zellstoffabriken erworben. Die haben doch hier ihre Zentrale. Er wird doch jetzt auf die Zentrale hier einen Einfluss haben. Marion, wenn du mir da irgend etwas verschaffen könntest? Der Direktor ist ein Herr Fredrichs. Ich habe schon neulich mal herumgehorcht. Da war eine Stelle frei als Korrespondent. Ich bin aber natürlich zu dem Direktor nicht vorgedrungen, nur zu der Sekretärin. Na, und die wird keinerlei Interesse haben, mein Gesuch irgendwie beschleunigt weiterzugeben. Weisst du, wer das ist?“
Marion zuckte gelangweilt mit den Achseln. Alles, was Franz Tessel da erzählte, interessierte sie nicht im geringsten. Sie wusste von den Geschäften ihres Vaters fast nichts. Ihr genügte, dass er viel Geld verdiente, und dass sie dieses Geld mit vollen Händen ausgeben konnte.
„Die Sekretärin von Direktor Fredrichs ist meine Kusine Herdith.“
Marion richtete sich auf, sah Franz Tessel mit grossen Augen an.
„Herdith Assmussen?“
Franz Tessel nickte.
„Herdith Assmussen in eigener Person. Ist das nicht ein komisches Zusammentreffen?“
„Ja, sehr komisch.“ Marion sagte es mechanisch. Ihre Gedanken schienen nach einer bestimmten Richtung zu gehen.
„Sag mal, Franz“, fragte sie dann plötzlich, „wie stehst du eigentlich mit Herdith?“
„Na, gar nicht, seitdem sie mich damals hat abblitzen lassen. Du weisst doch, damals gab’s doch den Krach zwischen ihr und meiner Mutter. Und dann kam der Krach zwischen Herdith und Onkel — und sie ging fort. Dummes Ding! Hätte sie mich damals geheiratet, dann wäre alles gut geworden. Sie brauchte nicht ums tägliche Brot zu schuften. Na, und ich — ich wäre eben auch gesichert. Aber ich war ihr eben nicht gut genug — sie wollte höher hinaus, die Herdith! Und was hat sie nun? Gar nichts! Aber du kannst dir vorstellen, Marion, dass ich auf die Fürsprache meiner lieben Kusine Herdith bei Direktor Fredrichs nicht rechnen kann. Da wollte ich dich bitten, Marion. Es geht mir wirklich schlecht, ich ...“, ein Schein von Rot lief über sein Gesicht, „... ich weiss nicht mehr recht, wie ich mich durchjonglieren soll. Wenn du mir helfen könntest!?“
Marion Karnau sah ihren Jugendgespielen Franz Tessel prüfend an. Ja, er sah wirklich schlecht aus und richtig herabgekommen. Ein Gedanke blitzte in ihr auf.
„Ich weiss nicht, ob ich etwas für dich tun kann, Franz. Ich muss mir das alles erst durch den Kopf gehen lassen. Aber wenn du in Verlegenheit sein solltest —“, sie nahm aus ihrer eleganten Tasche einen Schein heraus, schob ihn schnell zu Franz hinüber; der wurde rot — er zögerte einen Augenblick, aber dann griff er nach dem Geld:
„Ich dank dir schön, Marion. Du kannst dir vielleicht nicht vorstellen, wie es einem zu Mute ist, wenn man nicht mehr weiter kann.“
„Deine Mutter unterstützt dich nicht mehr?“
Franz zuckte die Achseln.
„Doch, ab und zu tut sie es schon. Aber ich habe einen Haufen Schulden. Das Leben ist teuer, Marion. Ich möchte mal aus all den Sorgen heraus. Ich würde es dir nie vergessen, Marion.“
Marion nahm ihr kleines Notizbuch vor.
„Gib mir auf alle Fälle deine Adresse, Franz. Irgend etwas wird sich schon finden. Und nun ...“, sie sah zum Fenster hinaus, der Regen hatte nachgelassen, ein erster schwacher Sonnenstrahl kam zwischen den Wolken hervor, „... nun werde ich ja gehen können. Ich habe meinen Wagen an die Leipziger Strasse bestellt, der wird schon warten.“
„Darf ich dich begleiten, Marion?“
„Nein, danke!“ Sie streifte mit einem Blick seine Erscheinung. Er wurde rot. Er verstand, er war keine Begleitung für eine Marion Karnau.
„Kellner, zahlen!“ Marion winkte dem Kellner, der sich zwischen den Tischen hindurchwand.
„Darf ich nicht?“ fragte Franz Tessel mit einer Art Galgenhumor. „Jetzt kann ich dich sogar einladen.“
„Nein, danke, ich erledige es selbst.“ Franz wollte ihr in ihre Jacke helfen, die über dem Stuhl hing. Aber sie litt auch das nicht, der Kellner war ihr behilflich.
Franz biss die Zähne zusammen. Sie zeigte ihm ein bisschen allzu deutlich, die gute Marion, dass er deklassiert war. Früher, als sie irr Braunschweig lebte, ein Backfisch war, da hatte sie nicht so spröde getan. Freilich, damals war er noch reich gewesen. Sein Vater hatte damals noch nicht alles durch den Bankkrach verloren. Er war noch der Sohn eines angesehenen Hauses gewesen. Jetzt stand Marion Karnau oben, und er unten. Aber er musste klug sein. Wenn er irgend etwas erreichen wollte, durfte er nicht den Empfindlichen spielen.
Marion gab ihm die Hand.
„Leb’ wohl, Franz! Also, wenn mir irgend etwas einfällt, gebe ich dir Nachricht.“
„Wäre sehr freundlich von dir, Marion.“
Schon fast im Weggehen sagte Marion wie beiläufig:
„Nach Braunschweig kommst du wohl gar nicht mehr? Hörst wohl nichts mehr von deinen Leuten? Schade, es würde mich so einiges interessieren.“
„Was denn, Marion?“
Marion sah auf ihre kleine Armbanduhr:
„Jetzt muss ich fort; das erzähl’ ich dir ein andermal, Franz. Wenn ich dich einmal brauche und du mir gefällig sein kannst, wird es dich nicht reuen.“
Sie nickte noch einmal und ging. Franz Tessel starrte ihr nach. Was meinte sie nur mit dem Gefälligsein?, dachte er. Sie hat das doch nicht so von ungefähr gesagt. War immer eine kleine, gerissene Kröte, die gute Marion! Warten wir es ab. Sonst muss man sich wieder einmal sanft in Erinnerung bringen.