Читать книгу Tränen der Hoffnungslosen - Lisa Winter - Страница 6
Leben ohne Sanira
ОглавлениеEsmeralda war im Nachtdienst. Julia und Jens hatten frei und waren zusammen. Es war sehr ruhig auf der Station. Nachdem vor der allgemeinen Nachtruhe alle Patienten versorgt worden waren und sie alle Medikamente für die Nacht an die Patienten ausgegeben hatte, begab sie sich ins Schwesternzimmer, nahm sie sich eine Illustrierte, die ein Patient zurückgelassen hatte. Während sie die Seiten des Magazins durchblätterte hörte sie Radiomusik, bis eine männliche, neutral klingende Stimme die Musik unterbrach:
„Achtung Autofahrer!
Auf der A 6, zwischen Frankfurt und Darmstadt, gab es einen tragischen Auffahrunfall, in den mehrere Fahrzeuge verwickelt wurden. Ein Lastkraftwagen hatte plötzlich in einer uneinsehbaren Kurve gebremst, um vor einem unerwarteten, vor ihm liegenden Stau, anhalten zu können. Folgende Fahrzeuge waren nicht mehr in der Lage rechtzeitig zu stoppen. Aufgrund der Auffahrunfälle ist die Fahrbahn auf beiden Seiten der Autobahn gesperrt. Wir bitten die Autofahren, die sich auf der A 6, zwischen Frankfurt und Darmstadt befinden, wegen Aufräumarbeiten, auf die A 61 Richtung Mainz-Frankfurt, auszuweichen.“
Esmeralda nahm diese Nachricht kaum zur Kenntnis.
Ihre Station lag auf der gleichen Etage wie die Notaufnahme. Mit einem Ruck flog die Tür zum Schwesternzimmer auf.
„Komm Esmeralda, wir werden in der Notaufnahme gebraucht. Es gab fürchterliche Unfälle auf der Autobahn. Viele Verletzte werden gebracht!“
Samuel, ein Pfleger, man nannte ihn Sam, stand in der Tür. Esmeralda eilte mit ihm durch den Flur zur Notaufnahme. Als sich die schwere undurchsichtige Milchglastür zur Notaufnahme automatisch öffnete hatte, klangen hektische, wirre Stimmen und quietschende Geräusche von eilig geschobenen Tragen durch den Flur. Die verletzten Menschen auf den fahrbaren Krankenliegen hatten teilweise blutende Verletzungen auf ihren Körpern. Von einigen Verletzten tropfte Blut aus Wunden von ihren Gesichtern auf den Fußboden. Bei anderen hingen die Arme schlaff herunter. Andere wurden mit Verbänden an Kopf und Körper auf Rollstühlen zur Notaufnahme geschoben. Die riesige Tür, die zum Ausgang zur Straße führte, war weit offen und bot den Blick auf mehrere Krankenwagen mit grell aufleuchtenden Scheinwerfern. Esmeralda rannte mit Sam zum diensthabenden Notarzt.
„Geht beide in den Raum 2 A. Da liegen zwei Schwerverletzte, die schnellstens versorgt werden müssen. Dr. Fischer ist dort. Er wird Euch Anweisungen geben. Schnell, beeilt Euch!“ befahl er, während er eine bewusstlose Frau untersuchte.
Esmeralda und Sam eilten zu ihrem angewiesenen Platz.
Im Raum 2 A lagen auf den Krankenligen eine Frau und daneben ein Mann, beide ohne Bewusstsein. Die Frau hatte einen dunklen Teint. Bei dem Anblick erschrak Esmeralda und hörte ihren Pulsschlag hinter ihren Schläfen pochen. Neben der Frau lag ein Mann. Ein weißer, blonder Mann. Er trug eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, so dass Esmeralda sein Gesicht nicht genau erkennen konnte. Sie trat näher an die Liege der Frau und erkannte ihre Mutter. Mit geschlossenen Augen schien Sanira nicht zu atmen. Dann blickte Esmeralda auf den Mann. Tatsächlich! Es war ihr Vater.
„Messt den Blutdruck der Beiden. Schnellstens, jede Minute ist lebenswichtig! Sie sind direkt in den LKW reingefahren. Sie mussten von der Feuerwehr aus ihrem Autowrack herausgeschnitten werden. Hier habe ich das Antihistaminikum aufgezogen. Die Frau hat einen Schock. Esmeralda geben Sie ihr die Spritze.“
Doch Esmeralda wurde es übel und schwarz vor den Augen. Sie verlor die Kontrolle über ihre Beine und sackte in sich zusammen, fiel auf den Boden, bevor sie ohnmächtig wurde.
„Was ist denn das für eine Krankenschwester? Wieso fällt sie zusammen wie ein Kartenhaus?“
Dr. Fischer war wütend.
Sam beugte sich über Esmeralda.
„Wach auf Esmeralda, was ist los?“
Dr. Fischer gab auch Esmeralda eine Injektion, nachdem er Sanira versorgt hatte. Langsam kam Esmeralda wieder zu sich.
„Meine Mami, … ist sie tot? Was ist mit meinem Vater?“, stammelt sie mühsam hervor.
„Sind das Ihre Eltern?“ Dr. Fischer begriff.
Schon stand Esmeralda wieder auf ihren Beinen und wollte zu ihren Eltern gehen. Doch Sam hielt sie zurück.
„Komm ruhe dich aus. Wir sorgen für sie. Es wird alles getan, um deine Eltern zu retten.“
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Esmeralda die helfenden Hände über ihren Eltern. Eine Schwester führte sie zurück in das Schwesternzimmer.
„Lege dich auf die Liege und ruhe dich aus. Wir übernehmen deinen Dienst. Gut, dass es auf unserer Station ruhig ist. Wenn wir Neuigkeiten wegen deinen Eltern haben, werden wir dich rufen. Bleib ruhig und versuche etwas zu schlafen.“
Esmeralda war viel zu besorgt und zu nervös, um Ruhe zu finden. So entschied sie, wieder zur Notaufnahme zurück zu gehen. In 2 A sah sie, wie mehrere Ärzte um das Leben von Sanira kämpften.
„Sie hat keinen Herzschlag mehr!“, rief eine Schwester.
Mit einer Maschine versuchten die Helfer ihr Herz zu reanimieren.
Nach dem ersten Elektroschlag bäumte sich Saniras Körper kurz auf und fiel wieder schlaff zurück auf den OP-Tisch. Nächster Versuch. Ein kurzer Laut. Wieder bäumte sich der schlaffe Körper von Sanira auf und fiel wieder leblos auf den OP-Tisch zurück. Die Ärzte und das Team wussten nun, dass es keinen Sinn mehr hatte. Das Signal der Herzschrittmaschine gab einen ununterbrochenen, in Esmeraldas Ohren, schrillen, nicht enden wollenden Ton, von sich. Das Signal des Todes.
Peters Leben konnte gerettet werden. Er saß am Steuer des Unglückswagens. Sanira wurde bei dem Aufprall zwischen ihrem Sitz und dem vorderen Teil des Cockpits eingeklemmt. Trotz der Abmilderung des Aufpralls, durch das Airbag, riss ihre Milz und unglücklicherweise drang eine gebrochene Rippe ihres Brustkorbes in ihre Lunge.
Esmeralda stand regungslos im Raum. Sie war traumatisiert. Sam bemerkte sie und führte sie aus dem Raum. Willenlos ließ sie sich von ihm führen. Er fuhr sie in seinem Auto nach Hause. Julia hatte von Sam von dem Unfall erfahren und wartete in ihrem Appartement auf Esmeralda. Sam nahm Esmeralda bei der Hand und führte sie in ihr Schlafzimmer. Julia wollte etwas sagen, doch sie brachte kein Wort über ihre Lippen, als sie die tiefe Trauer von Esmeralda spürte. Willenlos ließ sich Esmeralda von Julia entkleiden und in ihr Bett legen.
Bevor Julia das Schlafzimmer verließ, streichelte sie mitfühlend über das Haar von Esmeralda.
Esmeralda war auf unbestimmte Zeit vom Dienst beurlaubt worden. Hinter geschlossenen Rollläden verbrachte sie die Stunden apathisch, ohne Notiz zu nehmen, ob es Tag oder Nacht war. Ratlos beobachtete Julia ihre Freundin. Wenn Esmeralda es zuließ, brachte sie ihr Tee und etwas zum Essen, was meistens unberührt auf dem Teller lag, wenn Julia das Geschirr abräumte.
Peter konnte ihr nicht beistehen, da er selbst um sein Leben zu kämpfen hatte. Er hatte mehrere Knochenbrüche erlitten, doch seine Organe waren verschont geblieben und er überlebte.
Dr. Fontane hatte durch Dr. Schneider von dieser Tragödie erfahren. Sofort flog er von Lampedusa nach Frankfurt, um sich um Esmeralda zu kümmern. Vorher hatte er ein Telefongespräch mit Prof. Schneider geführt. Beide waren sich einig, dass Esmeralda die größte Aufmerksamkeit brauchte, um in ihrem Schmerz der Trauer nicht rückfällig zu werden.
Sie konnte ihren Vater besuchen, der nun nicht mehr in der Intensivstation lag. Doch Esmeralda hatte nicht den Willen und die Kraft aus ihrem Bett aufzustehen. Lähmende Trauer raubte ihr jegliche Energie. Sie bekam harmlose Beruhigungsmittel, um etwas schlafen zu können. Die Pillen waren von Julia abgezählt. Mittlerweile ahnte sie von Esmeraldas Vergangenheit. Prof. Schneider hatte sie zu einem persönlichen Gespräch gebeten und ihr aufgetragen, auf Esmeralda besonders gut aufzupassen, da sie, was Medikamente anging, evtl. labil sein könne.
Esmeralda lag wach im abgedunkelten Schlafzimmer. Sie lauschte dem Ticken ihres Weckers. Julia war im Dienst. Der von Julia gekochte Tee war kalt und abgestanden. Die Scheibe Brot mit Schinken lag wieder unberührt auf dem Teller. Esmeralda war dem Gedanken nahe, auf die Straße zu gehen, um den Schmerz des Verlustes ihrer geliebten Mutter mit irgendwelchen stärkeren Mitteln zu vertreiben. Aus Erfahrungen wusste sie, wie einfach es war und wo das richtige Mittel dafür zu bekommen war. Mühsam schleppte sie sich ins Badezimmer. Dann sah sie ihr Gesicht im Spiegel. Ihre sonst strahlenden Augen waren trüb und glanzlos geworden. Tiefe dunkle Augenringe hatten sich gebildet. Ihr Haar war verfilzt.
„Egal“, dachte sie.
„Ist doch egal wie ich aussehe. Stoff bekomme ich, wenn ich ihn brauche.“
Sie zog sich ihre Jeans und ein Kapuzenshirt an. Dann klingelte es an der Tür. Esmeralda ignorierte das Klingeln. Doch der Besucher ließ nicht locker. Unaufhörlich läutete die Glocke. Nachdem sie immer noch nicht öffnete, hörte sie ein heftiges Klopfen gegen ihre Tür.
„Esmeralda, mache die Tür auf! Ich bin es, dein Vater. Bitte mache auf.“
Esmeraldas Eingeweiden zogen sich schmerzhaft zusammen. Sie konnte jetzt noch nicht ihren Vater sehen. Wieder schrillte die Türglocke unaufhörlich.
„Bitte meine Süße, mache auf. Wir haben doch nur noch uns. Ich brauche dich. Und du mich!“ Peters Stimme klang sanft
Esmeralda öffnete die Tür.
Peters Auge war noch geschwollen, mittlerweile hatte sich die Haut unter dem Auge von blau auf gelb verfärbt. Unter seinem Hemd hatte man ihm einen festen Verband über der Brust angelegt. Er ergriff seine Tochter und drückte sie fest an sich. Steif ließ es Esmeralda geschehen. Als sie seine warmen Tränen auf ihren Wangen spürte, fühlte sie den Schutz ihres Vaters.
Wieder hatte er sie vor dem Elend der Sucht gerettet. Sie saßen die ganze Nacht zusammen. Sie hatten sich viel zu erzählen. Peter schilderte traurig und gefasst, wie sich der Unfall ereignet hatte.
Sanira und er waren auf dem Weg zu Esmeraldas Großeltern. Es regnete in Strömen in der Dunkelheit und die Scheibenwischer schafften es nicht, den starken Regen von den Scheiben zu verdrängen. Peter fuhr langsam und konzentriert. Doch die Scheinwerfer gaben nur wenige Meter vor ihnen Sicht frei. Dann fuhren sie in eine langgezogene Kurve. Peter konnte nicht rechtzeitig bremsen, als er plötzlich die rot leuchtenden Bremslichter des vor ihm fahrenden LKWs wahrnahm. Peter hörte nur noch den Aufprall. Der LKW schob sich auf die vor ihm stehenden PKWs. Der Bremsweg war zu lange, um rechtzeitig das Unglück verhindern zu können.
Esmeralda hörte traurig zu, doch sie hatte keine Tränen mehr, die sie weinen konnte.
Viele Freunde und Bekannte von Peter und Sanira nahmen an der Trauerfeier und an der nachfolgenden Beerdigung teil. Am offenen Grab standen, direkt hinter Esmeralda und Peter Dr. Fontane und Prof. Schneider. Peter hatte seine Tochter eingehängt, um sie zu stützen, während der Pfarrer die Worte des Abschiedes sagte. In einem Lokal in Frankfurt hatte Peter ein Abschiedsessen für die Trauergäste arrangiert. Seine Eltern, sämtliche Kollegen von seiner damaligen Redaktion, sowie Freunde von Peter und Sanira waren der Einladung in ein typisch hessisches, gutbürgerliches Lokal gefolgt.
Esmeralda hatte zwischen Dr. Fontane und Peter Platz genommen. Die Großeltern Gaby und Walther saßen am Tisch ihr gegenüber. Gaby und Walther waren immer noch geschockt von dem plötzlichen Tod von Sanira. Sie hatten sie lieb gewonnen, obwohl sie sich gegenseitig nicht oft besucht hatten. Während das Essen serviert wurde, berührte Dr. Fontane vorsichtig Esmeraldas Arm mit seiner Hand.
„Was wirst du denn nun machen? Ich freue mich, dass du als Krankenschwester hier einen soliden Beruf gefunden hast. Hast du vor, hier für immer zu bleiben?“
Esmeralda wusste nicht, worauf er hinaus wollte. Sie zuckte mit ihren Schultern.
„Wieso? Ich weiß im Moment gar nichts. Ich fühle mich innerlich elend und leer.“
Dr. Fontane streichelte über ihren Arm.
„Ich fühle mit dir meine Liebe. Doch verliere dich nicht in Trostlosigkeit und Trauer. Denke darüber nach, was du mit deinem Leben anstellen könntest. Du bist unabhängig und frei. Du hast die Gabe, anderen Menschen zu helfen.“
Dann stand er auf und verabschiedete sich diskret von ihr.
„Ich muss leider aufbrechen. Meine Maschine fliegt in zwei Stunden ab. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“