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2. Kapitel „Die Abrechnung”

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Weitere Jahre vergingen. Stasias achtzehnter Geburtstag sollte mit Freunden aufwendig gefeiert werden. Mit viel Liebe und Arbeit hatte Frauke kleine Köstlichkeiten für den Abend vorbereitet. Henry hatte für die Getränke zu sorgen. Das Fest sollte um sechs Uhr abends anfangen. Als Henry nicht rechtzeitig eintraf, war die Familie in Sorge, was wohl passiert sein könnte, da er ansonsten absolut zuverlässig war. Als die Gäste kamen, war Henry immer noch nicht angekommen. Mutter und Vater wurden unruhig. Etwa eine Stunde nach Ankunft der Partygäste klingelte es, und zwei Polizeibeamte standen mitten unter den jugendlichen Gästen im Raum und baten die Eltern, mit zur Polizeistation zu kommen. Alle Anwesenden waren über den Polizeieinsatz verwundert, und das Fest wurde abgebrochen.

In der Polizeistation erfuhr die Familie, dass Henry Herrn Munster in der weit entfernten Stadt Ulm dermaßen attackiert hatte, dass dieser mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus lag und in sehr schlechtem Zustand war.

„Ob er sich erholen wird, ist den Ärzten noch unklar, denn er hat ein schwaches Herz”, sagte der Polizeibeamte streng und sah Henry, der in einer Ecke der Wache saß, prüfend an.

Tief in sich versunken verweigerte er jede Aussage über sein Motiv. Sein Freund Max durfte gehen. Er gab an, dass er Henry nur gefahren hatte, weil der ihn darum gebeten hatte. Er sagte aus, dass es ein Unfall gewesen war. Stasia ging auf Henry zu und nahm seine eiskalte Hand in die ihre.

„Ich habe ihn nicht angerührt. Es war ein Unfall!”

Stasia war elend zumute. Sie umarmte ihn und sagte:

„Henry, ich weiß, warum du das getan ist. Wir haben uns versprochen, dass das, was passiert ist, unser Geheimnis ist, aber jetzt will ich nicht mehr schweigen. Ich werde alles aufklären, alles wird wieder gut.”

Henry schaute sie liebevoll an und nickte stumm.

„Wir können überhaupt nicht verstehen, warum Henry derart aggressiv reagiert hat, was hat ihn dazu getrieben, so weit mit Max zu fahren, um dann diesen alten Mann anzugreifen?”

Frauke war ratlos und schaute zu Stasia.

„Mami, wir gehen jetzt nach Hause, dann werde ich euch alles erklären“, sagte sie leise, da der Polizist nichts erfahren sollte, bevor sie alles ihren Eltern erzählt hatte. Henry wurde abgeführt.

„Erst mal über Nacht in die Zelle, damit er geständig wird, dann können Sie einen Anwalt anrufen“, meinte der Polizist streng.

Ein anderer Beamter führte Henry in die U-Haft-Zelle. Stasia und die traurigen Eltern gingen nach Hause. Dort angekommen herrschte ein eisiges Schweigen, bis endlich Frauke Stasia fragte, was sie wusste und warum das passiert sein könnte. Sie kannte das enge Schwester-Bruder-Verhältnis von ihren Kindern zu gut. Erst zögerlich, dann mit fester Stimme sprach Stasia aus, was ihr schon seit vielen Jahren schwerlastig auf der Seele lag.

„Dieser Vorzeigemann, dieses Schwein, hat mich nach dem Sommertagszug versucht zu vergewaltigen. Wenn Henry nicht rechtzeitig heimgekommen wäre, wäre es wohl passiert.”

Heiße Tränen flossen über ihre Wangen, die sich in krampfhaftes Weinen verwandelten.

„Warum hast du nichts gesagt?”, fragte Stefan erst betroffen, dann zornig.

„Hast du denn gar kein Vertrauen zu uns?”

„Weil ich mich dafür geschämt habe, und weil ich mich schuldig gefühlt habe“, schluchzte Stasia. Frauke nahm Stasia in ihre Arme.

„Du armes Kind. Wie konnte er dir dies nur antun? Hat er dir wehgetan?“, fragte sie vorsichtig. Stasia wollte nicht antworten und schwieg. Stefan schaute Frauke ratlos an.

„Wenn du nicht mit mir darüber reden konntest, wieso nicht mit deiner Mutter?”

„Nur Henry habe ich es erzählt. Dafür wollte er mich rächen. Für das was Munster mir angetan hat. Sicherlich nicht auf diese Weise. Bestimmt wollte er ihm nur einen Denkzettel verpassen.”

Stefan war kreidebleich, die Mutter weinte. Niemand hätte im Traum daran gedacht, dass dieser doch so seriöse und immer freundliche Nachbar, schließlich war er doch Rektor der Schule!, ein solch niederträchtiges Schwein ist.

„Sicher hat er noch andere ihm anvertrauten Kinder misshandelt oder sogar sexuell missbraucht.”

In Stasia erwachte ein schlimmer Verdacht. Oft hatte sie sich gewundert, warum ihre beste Freundin Bea nie mit ihr zusammen bei ihm hatte Honig holen wollen.

„Wer weiß, was da passiert ist“, dachte sie.

Es kam Stasia verdächtig vor, dass nach dem Sommertagsfest Bea nicht zu ihr in die Wohnung hatte kommen wollen. Das hatte Stasia gewundert. Vor dem Umzug hatte Bea beharrlich versucht, Stasia den Auftritt als Frühlingsprinzessin auszureden. Und dann, nach dem festlichen Ereignis, war Bea nicht mehr ihre Freundin. Stasia hatte gemerkt, dass Bea ihr aus dem Weg ging. Frauke hatte dazu gemeint, dass Bea wohl eifersüchtig auf Stasia sei.

„Oh Gott, hoffentlich war Bea nicht sein Opfer. Nicht auszudenken, wenn es so war, und sie nicht das Glück hatte, dass ein Retter aufgetaucht ist.”

Diesen schlimmen Verdacht behielt sie für sich. Stefan wollte noch am gleichen Abend ins Krankenhaus nach Ulm fahren, um diesem Kinderschänder „endgültig” das Handwerk zu legen.

„Den mach ich fertig“, murmelte er, zog seine Jacke an und wollte sich auf den Weg machen.

Frauke wie auch Stasia redeten auf ihn ein, das nicht zu tun, da schon Henry deswegen in Haft war. Eine lange Nacht verlief für alle schlaflos. Am nächsten Morgen wurde der Familie die Nachricht vom Tod von Herrn Munster überbracht. Dieser sei kurz nach seiner Einlieferung an Herzversagen gestorben.

Wie war es zu diesem Vorfall gekommen? Henry hatte an Stasias Geburtstag Herrn Munster zur Rede stellen wollen. Nach längerer Recherche hatte er die neue Adresse herausgefunden und war mit seinem Freund Max mit dessen Auto nach Ulm gefahren, um Munster zur Rechenschaft zu ziehen. Für all das, was er Stasia angetan hatte, sollte er sich verantworten. Er hatte mit seinem Freund an der Haustür des Wohnhauses, welches dem Sohn von Herrn Munster gehörte, geklingelt und nach Munster senior verlangt. Der Sohn hatte gefragt, was sie von seinem Vater denn wollten. Aufgebracht und zornig hatte Henry erklärt, dass er dies ausschließlich und persönlich mit Herrn Munster zu klären hätte. Nun war auch Herr Munster in der Tür erschienen. Dieser hatte freundlich die beiden Jungs ins Haus einladen wollen. Aber dazu war es nicht gekommen. Henry hatte ihn an der Tür angebrüllt:

„Sie gottverdammter Kinderschänder! Ich weiß, was sie meiner Schwester angetan haben, sie sind ein Schwein und Mädchenvergewaltiger!”

Der Sohn hatte Henry am Kragen gepackt, um ihn aus der Tür zu werfen. Der Vater war dazwischengetreten, hatte mit hochrotem Kopf auf Henry einschlagen wollen, war dann, als er die Hand gehoben hatte, von einer Sekunde zur nächsten in sich auf dem Boden zusammengesackt. Er hatte geröchelt und gezuckt. Henry war mit seinem Freund schnellstens davongelaufen. Dann hatte der verblüffte Sohn den Krankenwagen und die Polizei gerufen. Herr Munster hatte noch den Namen von Henry nennen können, bevor er ins Koma gefallen war.

Stasia ging mit ihren Eltern ins Polizeipräsidium, um ihre Aussage zu machen. Nachdem auch der Sohn von Herrn Munster vernommen war, hatte man tatsächlich den Aussagen von Stasia und Henry geglaubt und Henry wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach der zögerlichen Aussage des Sohnes von Herrn Munster war es wohl nicht das erste Mal, dass solche Beschuldigungen seinem Vater unterstellt wurden. Aber keines der Opfer hatte dies zur Anzeige gegeben, und deshalb war es nie zu einer Anklage gekommen. Im Stillen hatte seine Familie diese unschönen Angelegenheiten geregelt, und man hatte es vorgezogen, den Vater ins Haus zu nehmen, damit keine weiteren Vorfälle mehr passieren könnten. Sodann waren keine weiteren Schritte mehr nötig, um diesen polizeilichen Vorgang abzuschließen. Nur für die Familie war diese Angelegenheit nicht abgeschlossen. Traurig und enttäuscht sprach Stefan über jahrelange Zusammenkünfte mit dem Nachbarn. Immer gut gelaunt war ab und zu ein gutes Gläschen „Selbstgebrannter” getrunken worden. Kumpelhaft und freundschaftlich hatten die beiden Nachbarn gerne zusammengesessen. Niemals hätte Stefan dies für möglich gehalten. Für ihn war dieser Mann mit all seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten ein Vorbild gewesen. Er hätte jederzeit sein Kind in die Obhut dieses Mannes gegeben. Er hatte ihm vertraut. Auch, dass sich Stasia so geschämt und nie etwas darüber erzählt hatte, verunsicherte die Eltern.

„Nicht auszudenken, wenn Henry nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre”, dachte Frauke traurig.

Nach diesem Ereignis rückte die Familie enger zusammen. Man verbrachte viel mehr Zeit zusammen. Auch der beste Freund von Henry, Max, besuchte sehr oft die Familie. Die verstaubten Spielekisten kamen seit langer Zeit wieder zum Einsatz. Sie hörten zusammen Musik, und an Weihnachten wurde sogar getanzt. Da die Mutter von Max früh verstorben war, fühlte er sich sehr wohl im Kreise der Familie seines Freundes. Stasia hatte sich während seiner Besuche heimlich in Max verliebt. Da er schon sehr lange ein Auge auf die hübsche Stasia geworfen hatte, erwiderte er diese Gefühle. Heimlich trafen sie sich, denn Bruder Henry sah gar nicht gerne, dass irgendein Junge seiner Schwester nachstellte. Schon gar nicht sein bester Freund. Es kam, wie es kommen musste. Eines Tages, Stasia war heimlich mit Max zum nahe gelegenen Italiener gegangen, um mal wieder diese köstlichen Spaghetti Bolognese zu verspeisen. Zu dieser Zeit konnte man diese italienische Spezialität am besten beim „Italiener” bekommen, da die spezielle Zubereitung in den deutschen Küchen eher unbekannt war. Max hatte schon damals als Tankwart gutes Trinkgeld in der Tasche, welches er gerne dafür mit Stasia ausgab. Zufällig erschien Henry im Lokal und sah die beiden einträchtig zusammensitzen. Henry kannte seine Schwester sehr gut und sah ihre Verliebtheit. Zornig und enttäuscht ging er auf beide zu und sprach mit gepresster Stimme:

„Wie kannst du mich nur derartig enttäuschen, du als mein bester Freund mit meiner Schwester?”

Das war zu viel für Henry. Gleich an Ort und Stelle kündigte er seinem Freund die Freundschaft. Nie wieder würde er mit ihm ein Wort sprechen. Das schwor er ihm, ohne Stasia zu beachten. Auch später zu Hause übersah er Stasia, was Frauke wunderte. Doch diese junge Beziehung blieb nicht geheim. Die Eltern wie Henry versuchten Stasia von Max zu trennen. Er durfte die Familie nicht mehr besuchen, und Stasia bekam erst mal Ausgehverbot. Sie war noch in ihrer kaufmännischen Ausbildung, hatte viel zu lernen und musste früh im Morgengrauen aufstehen, um zu ihrer Arbeit zu gehen. Nachdem sie Max näher kannte, kam sie öfter spät abends nach der Arbeit nach Hause, stand ungern früh auf und die richtige Lust, um zur Berufsschule zu gehen, hatte sie auch nicht mehr. Um sich heimlich mit Max zu treffen, schwänzte sie ab und zu die Schule. Max war Stasia gegenüber zurückhaltend und unaufdringlich, da er die unschöne Geschichte mit ihrem Nachbar aus ihrer kindlichen Vergangenheit zu gut kannte. Das imponierte Stasia, so dass sie ihre Freizeit mit ihm verbrachte und die Kontakte zu ihren Freundinnen vernachlässigte. Viel lieber traf sie sich sooft sie konnte mit Max. Tatsächlich sprach Henry kein Wort mehr mit Max und die Eltern waren ebenso sehr zurückhaltend ihm gegenüber geworden. Da Max nicht mehr in die Wohnung durfte und Stasia Ausgehverbot hatte, stand das Paar stundenlang abends im Hausflur, um zu reden und um sich zu sehen. Jeder versuchte es dem Liebespaar so schwer wie möglich zu machen, doch alle Versuche scheiterten. Sie beschlossen, sich zu verloben und sich dann zusammen eine eigene Wohnung zu mieten. Das, sobald Stasia ihre Lehre abgeschlossen hätte, volljährig war sie schon. Dafür sparten sie Geld. Max war ein sehr fleißiger und freundlicher Tankwart und bekam sehr gutes Trinkgeld, welches er Stasia zur Aufbewahrung abgab. Nach und nach kam ein beträchtlicher Betrag zusammen, um bald den eigenen Hausstand gründen zu können. Die Eltern sahen dies mit Unmut. Sie wollten einfach das Beste für ihre Kinder.

„Stasia und Henry sollen es in ihrer Zukunft besser haben, als wir es gehabt haben. Stasia hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie ist viel zu jung, um sich endgültig zu binden.”

Während ihrer Lehre als Industriekauffrau lerne Stasia in der Berufsschule Marina kennen. Marina war ein ebenso hübsches wie intelligentes Mädchen mit hellblonden langen Locken und strahlend blauen Augen. Sie hatte gerade den tragischen, viel zu frühen Tod ihres Vaters zu verarbeiten. Die ganze Schulklasse fühlte mit ihr. Die beiden Mädchen fanden sich sofort sympathisch und schlossen schnell Freundschaft. Da Marina direkt in der Innenstadt von Mannheim lebte, hatten die beiden nicht viel Gelegenheit, sich noch außerhalb der Schulzeit zu treffen. Ohne Führerschein und ohne eigenes Auto war es für Stasia zeitaufwendig und umständlich, mit dem Bus zum kleinen Vorort von Mannheim zu kommen, wo sie mit ihrer Familie wohnte. So gingen beide nach dem Unterricht, der ja in der Innenstadt stattfand, in ein sehr gefragtes nahe gelegenes italienisches Lokal, um die geliebten Spaghetti zu essen. Da beide auffallend hübsch und modisch gekleidet waren, wurden sie von den italienischen Kellnern aufmerksam bedient und hofiert. Das schmeichelte den beiden natürlich sehr.

Marina hatte auch eine feste Partnerschaft, sie war verlobt. Ihr Verlobter war als Automechaniker in einer renommierten Autofirma und hatte somit die Gelegenheit, sich einen luxuriösen Sportwagen zusammenzubauen, abends nach Feierabend. Ganz nach seinem und Marinas Geschmack, was Ausstattung und Farbe anging. Die Mädchen in ihrer Klasse beobachteten bewundernd und neidisch, wenn Marina von ihrem Verlobten im flotten Kabriolett abgeholt wurde. Marina genoss diese Blicke im Rückspiegel, wenn sie und ihr Verlobter mit dröhnendem Motor davonbrausten.

Die Freundschaft wurde immer enger, und so trafen sich die Mädchen sooft es ging. Dann trennte sich Marina von ihrem Verlobten. Sie träumte von einem Mann, der schick im dunklen Anzug gekleidet und einen Aktenkoffer tragend zur Arbeit geht. Diesem Bild entsprach ihr damaliger Verlobter absolut nicht. Er sah zwar sehr gut aus, damals dem Idol „Burt Reynolds” gleich. Er war auch ehrgeizig, aber ein Chef im dunklen Anzug wollte und konnte er nie sein. Bald sollten sich Marinas Wünsche erfüllen. Das jedoch später.

Rosarote Ringelsöckchen

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