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Anstelle eines Prologs

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Liebe Anna Maria

Es gibt Briefe, die kommen nie an und müssen doch geschrieben werden. So wie dieser Brief hier. Nie wirst du, liebe Anna Maria, ihn aus deinem Briefkasten holen, ihn mit deinen von der Stickerei zerstochenen, vom Leichenwaschen aufgeweichten und vom Schreiben ermüdeten Fingern aufreissen, nie wirst du diese Zeilen lesen, irritiert, verwundert, vielleicht auch mit etwas Freude. Denn du bist seit beinahe fünfzig Jahren tot.

Wir schreiben diesen Brief als Prolog für ein Buch, das von dir erzählt. Er soll erklären, warum ausgerechnet deine Lebensgeschichte hier nachzulesen ist. Menschen wie du kommen in Büchern meist nicht vor, und wenn doch, dann nur als anonyme Masse. Stickerinnen, Putzfrauen und Leichenwäscherinnen schreiben keine Memoiren. Sie gehören zu jenen Frauen, die Geschichte machen, aber nicht Geschichte schreiben. In deiner Familie hat man das Vergessen noch ein bisschen weiter getrieben. Du galtst als eine Liederliche, die abgehauen sei, ihre Kinder dem Verdingwesen ausgesetzt habe, und man hat nicht einmal deinen Namen genannt.

Die Wirklichkeit zeigt ein anderes Bild. Nicht du warst es, die sich die Freiheit nahm, zu gehen, wohin es dich zog, nicht du hast deine Kinder verlassen. Es waren die Behörden, die dich von ihnen trennten, die dich wegbeorderten und verurteilten, die dich wegen deiner Armut aus den Städten ausschafften oder in Anstalten steckten. Du wurdest gehetzt, verurteilt, bestraft und verwaltet als Antwort auf deine unermüdlichen Versuche, zusammen mit deinen Kindern zu überleben.

Dein Hauptdelikt war so unverschuldet wie eindeutig. Es war deine Armut. Du wurdest in eine Zeit der Krise geboren, gingst den gespurten Weg der Töchter von deinesgleichen, wurdest Nachstickerin, hast früh geheiratet und Kind um Kind geboren, hast dich durchgeschlagen an der Seite zweier Männer, die dir nicht Hilfe waren, sondern flohen vor dem Elend und sich einrollten in die Wärme des Alkohols. Und des Irrsinns.

Du bist längst nicht die einzige in unserem Land, deren Leben so unerbittlich von Armut stranguliert wurde. Nur wissen wir wenig von Leuten wie euch. Bei dir wollte das Schicksal es anders. Du musstest dein Leben ständig rapportieren, rechtfertigen, musstest Bittbriefe schreiben, und die Behörden haben geprüft, gemassregelt, verurteilt, protokolliert. Das alles wurde ordentlich in Archiven abgelegt.

Der Zufall half mit, dass wir diese Bruchstücke deines Lebens entdeckten. Sieben Jahre lang sind wir deinen Spuren nachgereist, über 1500 Quellen haben wir gefunden.

Unser Versuch, dein Leben nachzuerzählen, beansprucht keine letzte Wahrheit. Es wäre vermessen, zu glauben, wir wüssten, wie du empfunden, wie du dein Leben erfahren hast. Unser Versuch ist eine Konstruktion. Aufgebaut aus in Folianten und auf Briefbogen konservierten Botschaften. Angereichert mit Wissen über die Schweiz, wie sie damals war.

Wir haben uns für diesen Brief als Vorwort zu deiner Geschichte entschieden, weil Briefe in deinem Leben derart wichtig waren. Du hast unzählige davon geschrieben, zur Post getragen, meist in bettelndem, selten in zornigem Ton.

Unser Brief ist eine verspätete Antwort. Und unser Buch der Versuch, dich zu uns und in die Geschichte zurückzuholen.

In diesem Sinne grüssen dich

Dein Enkel Heinz, der sich aufmachte, deine Spuren zu suchen,

Lisbeth, eine Anverwandte, die all die Geschichten aufgeschrieben hat.

Zwischen Sehnsucht und Schande

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