Читать книгу Zwischen Sehnsucht und Schande - Lisbeth Herger - Страница 5
1 Der Anfang
ОглавлениеAnna Maria Boxler gehört zu jenen Menschen, die gewissermassen zweimal geboren wurden. Ein erstes Mal im Jahr 1884, in einer ärmlichen Stube im Rheintal, als Tochter einer jungen Fädlerin. Und – 120 Jahre später – ein zweites Mal, ausgelöst durch den Tod ihres Sohnes Julius und den damit verknüpften amtlichen Lauf der Dinge. Julius – er war das siebte von neun Kindern – hatte die meiste Zeit seines Lebens in toggenburgischer Heimfürsorge verbracht. Er wurde seiner Mutter gleich nach der Geburt weggenommen und am Tag nach seinem ersten Geburtstag für die restlichen 85 Jahre seines Lebens bevormundet. Er überlebte die Mutter um viele Jahre und verstarb, das neue Jahrtausend hatte bereits begonnen, arm wie eine Kirchenmaus im Nesslauer Bürgerheim. In der Folge dieses Todes stellte die Vormundschaftsbehörde von Nesslau-Krummenau zuhanden des gemeinderätlichen Protokolls ein letztes Mal die Aktiven und Passiven ihres Heiminsassen zusammen, liess die säuberlich kopierte Schlussabrechnung den Erben zustellen, zusammen mit der Information, dass nach der Begleichung der Kosten für die Formalitäten und die Beerdigung ihres Verwandten und nach Rückzahlung einer Überbrückungshilfe, die das Sozialamt im Jahr zuvor dem Mündling noch gewährt hatte, nichts zu erben sei. Die Nachricht dieses stillen Todes in Form einer Erbschaftsbescheinigung für eine Erbschaft, die keine war, erreichte vorwiegend Verwandte, die nie zuvor von der Existenz eines Onkel Julius gehört hatten. Sie waren deshalb auch nicht sonderlich traurig, weder über den Tod des Verwandten noch über den Verlust einer Erbschaft, die sie gar nie erwartet hatten. Sie öffneten dem Klingeln des Postboten, nahmen den eingeschriebenen Brief im Abgleich mit einer Unterschrift entgegen und entschlüsselten verwundert die kargen Botschaften zu einem Leben, von dem sie vielleicht einmal eine dürftige Bemerkung oder überhaupt gar nie etwas gehört hatten.
Doch das amtliche Dokument barg noch ein weiteres Geheimnis, unscheinbar in eine Klammer gesetzt. Es war der Name jener Frau, von der man in ihren Familien gar nie oder dann nur verschämt geredet hatte, die höchstens in einem flüchtigen Nebensatz als liederliches Luder aufgetaucht und gleich wieder verschwunden war. Gemeint ist jene Frau, die diesen Onkel Julius und all die andern Kinder, zu deren Nachfahren man selbst gehörte, geboren hatte. Nun also stand ihr Name in schwarzen Lettern auf einem amtlichen Papier, als Mutter von neun Kindern und Grossmutter einer beachtlichen Schar von Enkeln und Enkelinnen: Anna Maria Boxler. Ein wohlklingender Name.
Der lautmalerische Klang mit seinen dunklen Vokalen setzt sich im Kopf eines der Enkel fest, ungefragt, fast ein wenig aufsässig. Dieser, ein studierter Historiker, kommt ins Nachdenken, plötzlich meint er die Stimme seines Vaters zu hören, wie er ihm vor vielen Jahren erzählt hat, dass seine Mutter, als er fünf war, abgehauen sei, einfach so. Mehr war damals aus dem ehemaligen Verdingkind nicht herauszubekommen. Nun ist der Vater schon lange tot, und er, der Sohn, steht plötzlich da, mit diesem fremden Namen im Ohr, dieser Unbekannten, die seine Grossmutter war. Und dann fasst der Enkel sich ein Herz und entscheidet, dass es Zeit sei für den Versuch, ihr Geheimnis aufzuspüren. Er beschliesst, seine Grossmutter, falls möglich, noch einmal in die Welt zurückzuholen. Es wird ein unerwartet langer Weg werden, eine zähe zweite Geburt.
Erst führt die Reise den Nachgeborenen weit in die Ostschweiz, quer über die Rheinebene in jenes Dorf, in dem Anna Maria Boxler einst geboren wurde. Ein schmuckes Pfarrdorf am Westrand des Gamserriets, damals eine weitläufige katholische Insel inmitten reformierter Bezirke. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten hier um die 2000 Leute, die Hälfte war in der Landwirtschaft tätig, die andere in der Stickerei. Noch heute steht die Kirche als katholisches Bollwerk unbeirrt auf ihrem Hügel, den Gamserberg im Rücken, und bereitwillig öffnet sie dem Besucher ihre Pforten, gewährt Einlass auch ins kirchliche Archiv, das in einem kalten Luftschutzkeller unter der Sakristei eingelagert ist. Hier, zwischen Ministrantengewändern und Pfarrersroben, blättert der Enkel mit klammen Fingern in den Taufbüchern und findet im Tauf-, Ehe- und Totenbuch jener Jahre mühelos den gesuchten Eintrag zum Lebensbeginn seiner Grossmutter. Am 27. Dezember 1884 morgens um neun Uhr wurde das in derselben Nacht geborene Mädchen der Maria Klara Boxler, wohnhaft in Gertis, also ausserhalb des Dorfes, auf den Namen Anna Maria getauft. Weiter erfährt er, dass die Mutter des Neugeborenen in Gams heimatberechtigt war und zum Berufsstand der Fädlerinnen gehörte. Und noch etwas gibt das Taufregister freimütig preis. In jener Spalte, in der bei allen andern Täuflingen fein säuberlich der Name des Erzeugers eingetragen ist, gibt es bei Anna Maria Boxler nur vergilbte Leere. Es fehlt der Name des Vaters. Das Taufkind war also eine illegitim Geborene. Kein guter Start für ein Mädchen von damals, überlegt der Historiker in der frostigen Kälte des Kirchenarchivs, schon gar nicht für ein Armeleutekind.
Anna Maria Boxler war von den 58 Täuflingen ihres Jahrgangs das einzige Kind, das mit dem Stigma der → illegitimen Geburt zu leben hatte. Das katholische Gams hatte seine Töchter gut im Griff. Aussereheliche Sexualität wurde damals bei Frauen als einfache Unzucht gesetzlich geahndet, eine ledige Mutter als liederlich geächtet, möglicherweise galt sie gar als geistig minderwertig, jedenfalls hatte sie ihre Wollust nicht im Griff, und das wollte bestraft werden. Eine aussereheliche Geburt bedeutete Schande für die Mutter und für das Kind das lebenslange Stigma der Illegitimität. Eine Herkunft mit moralischem Defekt, von der liederlichen Mutter auf das Kind übertragen, ein mit dem Etikett illegitim festgeschriebener Makel, der in allen künftigen Akten an prominenter Stelle festgehalten werden wird. Als Warnsignal und Diagnose, in der beeindruckenden Vielfalt amtlicher Schriftmalerei.
So mag sich die werdende Mutter Maria Klara, die damals, im Frühling 1884 in diese missliche Lage geriet, über ihre Schwangerschaft kaum gefreut haben. Als Fädlerin hatte sie ein geringes Einkommen, die Krise drückte bereits auf die Löhne, und ihre Eltern, selbst Taglöhner in der Stickerei, hatten mit ihren acht Kindern weniger als nichts übrig für das Kuckuckskind ihrer Tochter. Auf freudiges Erwarten war nicht zu hoffen. Zudem sanken mit dem künftigen Stigma der ledigen Mutter die Heiratschancen für die 22-Jährige. Wenn sie sich denn also irgendwann im Herbst, drei Monate vor der Geburt, mit ihrem schon gerundeten Bauch von zu Hause aufmachte und ins Dorf kam, um dem Gemeindevorsteher ihre Schwangerschaft anzuzeigen, dann war es nicht die Vorfreude, die sie trieb, es war ein Gang der Vernunft. Denn die junge Frau war gesetzlich gezwungen, ihre uneheliche Schwangerschaft selbst anzuzeigen. Sonst wäre sie mit Bussen und Gefängnis bestraft worden. Möglicherweise hoffte die Schwangere aber auch, dass die Vaterschaftsklage ihr etwas Unterstützungsgeld einbringen könnte, im besten Falle vielleicht sogar die Heirat. Das Verhandlungsprotokoll des Gemeinderats von Gams, das ihre Selbstanzeige protokolliert, verrät natürlich nichts über solche Motive der jungen Frau und auch nichts über die Umstände, die zur Schwangerschaft führten, sondern hält im Band 8 auf der Seite 492 einzig fest: Maria Boxler von K. meldet, dass sie vor cirka 16 Wochen von einem gewissen Heinrich Küng von Neuhausen Kt. Schaffhausen geschwängert worden sei, der sich dato in Ravensburg aufhält. Die Boxler wünsche nun, dass gegen ihn die Vaterschaftsklage angehoben werde. Es wird nun beschlossen beim Statthalteramt in Ravensburg die erforderlichen Schritte zu thun. Offenbar kommen die Behörden in der Paternitätssache Boxler-Küng bald einen Schritt voran, so jedenfalls liest sich der gemeinderätliche Protokolleintrag vier Wochen später: Die Einvernahme des Küng v. Neuhausen ist vom Statthalteramt Ravensburg wieder eingegangen. Falls sich die Schwangerschaft als richtig konstatiert resp. die Geburt erfolgt sollen Schritte gethan werden, das Kind der Heimathgemeinde des Küng zuzuweisen.
Der Kindsvater scheint die Vaterschaft also anzuerkennen, was die Gamser Behörden erleichtert zur Kenntnis genommen haben dürften. Denn nun kann das Bürgerrecht des illegitimen Nachwuchses der Gamserin Maria Klara auf den → Heimatort des Vaters verschoben werden. Und da der Heimatort so etwas wie die Armenversicherung der Menschen von damals war, die im Notfall zu zahlen hatte, bedeutet die Vaterschaftsanerkennung durch einen auswärtigen Bürger eine finanzielle Entlastung für ihre Gemeinde.
Es scheint dann doch schief gelaufen zu sein mit der angestrebten Vaterschaftsanerkennung. Denn sonst würde Anna Maria ja nicht weiterhin als Gamser Bürgerin aufgeführt. Aber die junge Fädlerin Maria Klara schafft es, ihr Kind ohne öffentliche Gelder durchzubringen, vielleicht mit einem Zustupf direkt vom Kindsvater. Jedenfalls finden sich in den Gamser Akten nach der Registrierung der Geburt keine weiteren Hinweise auf kommunale Unterstützungsleistungen. Die Behörden lassen die junge Mutter in Ruhe. Und die Recherchen des forschenden Enkels zur Kindheit seiner Grossmutter versacken vorerst in grossflächigen Leerstellen. Einzig ein paar vage Erinnerungen lassen sich aufspüren, später, in Gesprächen mit seinen Schwestern, mit andern Verwandten, und die erzählen, dass es bei den Boxlers im Winter dermassen kalt gewesen sei, dass auch die Ziegen in die Stube geholt werden mussten. Und weiter hat sich die Legende festgesetzt, dass die kleine Anna Maria sehr wohl einen ordentlichen Vater gehabt habe, dass dieser aber – leider – vor ihrer Geburt beim Kirschenlesen zu Tode gestürzt sei.
Im November 1892 gibt es eine grosse Veränderung im Leben der achtjährigen Anna Maria. Ihre Mutter hat – trotz ihrem Makel – doch noch einen Mann gefunden und heiratet den Tagwerker Johann August Bauer aus dem st.-gallischen Oberbüren. Das bedeutet – wann genau ist nicht zu ermitteln – den Umzug Richtung Stadt. Die Familie lässt sich in Tablat nieder, jener Vorortsgemeinde von St. Gallen, die um die Jahrhundertwende geradezu überflutet wird von Textilarbeitenden und ihren Familien. So wächst die Bevölkerung Tablats in knapp vierzig Jahren um das Fünffache an. Hier nun lässt sich auch die Familie Bauer nieder. Und Anna Maria bekommt, vier Jahre später, eine kleine Schwester, die Rosa Maria heisst.
Viel mehr als diese Eckdaten ist auch zu diesen Jahren nicht zu erfahren. Wie lange Anna Maria zur Schule ging, ob ihre Eltern schon damals armengenössig wurden, lässt sich nicht klären. Denn als Tablat im Jahr 1918 von St. Gallen eingemeindet wird, betrachtet man die Akten dieses vorstädtischen Armenhauses eher als lästige Mitgift denn als Quellenschatz für Fragen künftiger Generationen. Nur ein kleiner Bestand wird integriert, der Rest zerstört. Allfällige Dokumente, die von der Kindheit der Fädlerstochter Anna Maria erzählen könnten, gibt es also nicht mehr.
Die nächste Spur der Taglöhnerfamilie Bauer findet der Enkel in den Niederlassungsbüchern der Stadt St. Gallen, acht Jahre später. Für den 12. Juli 1900 wird die Niederlassung des Johann August Bauer in der Stadt festgehalten, von Tablat kommend, mit Frau und Kind, und ferner inbegriffen das illeg. Kind der Frau, das um der genetischen und erbrechtlichen Klarheit willen nach wie vor Boxler heisst. Und weitere vier Jahre später, auch das kann man dem Eintrag entnehmen, ziehen die Bauers bereits wieder nach Tablat zurück. Doch diesmal ist die junge Anna Maria, die als Nachstickerin inzwischen ihr Brot selbst verdient, schon nicht mehr mit dabei.