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3 Strafe statt Hilfe

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Als die sieben Richter des Bezirksgerichts Gossau am 20. Juni 1911 zu ihrer ordentlichen Sitzung zusammenkommen, um in der Strafsache gegen Looser Anna Maria geb. Boxler, Hausfrau, Landaustrasse 18, Straubenzell pto. Versuch der Fruchtabtreibung Recht zu sprechen, ist die Angeklagte mit ihrem fünften Kind im siebten Monat schwanger. Die Herren sind nach Lesung der bezirksamtlichen Strafleitung und des Dekrets der Anklagekammer und nach Anhörung der Verteidigung & Prüfung der Akten gut informiert. Sie wissen, dass nach achtjähriger Ehe das eheliche Leben der Beklagten mit ihrem Manne im Ganzen ein Glückliches war, sie wissen um die Existenz der vier Kinder im Alter von einem, drei, sechs und sieben Jahren und dass die Familie stets mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Sie wissen aber noch sehr viel mehr. Zum Beispiel, dass Anna Maria am 6. November vorigen Jahres anlässlich des Umzugs der Familie Looser von der Haldenstrasse nach Mettendorf die Periode sehr stark hatte und dass diese danach ausfiel. Dass sie später an die Möglichkeit einer Schwangerschaft dachte, dass sie ein Inserat im «Stadtanzeiger» las, welches das Mittel «Sorgenlos» gegen das Ausbleiben bestimmter Vorgänge anpries und sie sich vornahm, damit einen Versuch zu machen. Dass sie dann an die erwähnte Adresse schrieb und per Nachnahme ein Schächtelchen bekam, das ein hellbraunes Pulver, ähnlich dem Brustpulver enthielt. Und weiter, dass sie dann während 2–3 Tagen das Pulver eingenommen hat, was aber keine Wirkung zeigte. Die Herren wissen auch vom Prospekt mit den Empfehlungen, der dem Pulver beilag, und vom Begleitbrief, der dazu aufrief, bei fehlender Wirkung dem Absender davon zu berichten. Anna Maria tat dies und reklamierte, worauf sie in der Woche vor Neujahr 1911 ein ziemlich umfangreiches Paket unter Nachnahme von fr. 6.– erhielt. Darin fand sie eine ziemlich grosse Flasche mit einer Flüssigkeit. Dies sind die vordergründigen Tatbestände, wie sie im Gerichtsurteil festgehalten sind. Anna Maria Boxler wusste natürlich, dass → Abtreibung verboten war und mit kräftigen Geld- und Zuchthausstrafen geahndet wurde. Was damals aber für fast alle Frauen galt, galt auch für sie. Sie hatte gar keine andere Wahl, Geburtenkontrolle hiess zwangsläufig abtreiben. Wohl gab es bereits erste, aus Tierdärmen gefertigte Kondome, doch die waren zu teuer und wurden den Frauen von den Gynäkologen auch gar nicht abgegeben. Sich den Männern zu verweigern, war auch keine Lösung und verstiess zudem gegen die eheliche Pflicht. So blieb ihnen für den akuten Notfall nur der nicht ungefährliche Selbstversuch mit zweifelhaften Mittelchen. Oder dann der heimliche Gang zu den Engelmachern, in den ungeschützten Raum dubioser Hinterzimmer mit nur zu oft ebenso dubiosen Helfern, ein Weg voller Risiken, manchmal gar lebensgefährlich und allemal aufwendig und teuer, seelisch genauso wie monetär. Ein illegaler Abbruch kostete die Schwangere zwei bis vier Wochenlöhne, und wurde sie ertappt, drohten Geldstrafen und Gefängnis. Anna Maria hatte mit ihrer Bestellung des Mittelchens «Sorgenlos» auf eine billige und gesundheitlich nicht allzu riskante Art gesetzt, als sie sich entschied, ihre fünfte Mutterschaft zu verhindern. Sie hatte dabei doppeltes Pech. Das Mittel wirkte nicht, und zu ihrem Unglück hat sie auch noch jemand denunziert.

Jetzt, als Angeklagte vor den Herren Richtern stehend, gilt es, Strategien zu entwickeln, um aus dem Schlamassel möglichst glimpflich davonzukommen. Sie versucht es mit angeblicher Unwissenheit. Die Beklagte behauptete anfänglich im Untersuche, sie habe das 1. Mittel zu sich genommen, um den Wiedereintritt der Periode zu bewirken, indem sie noch nicht an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht habe. Sie habe viel unter Periodenstörungen zu leiden. Diese Ausrede verfängt nicht beim hohen Gericht. Vermutlich kennen die Herren die Argumente der in dieser Sache angeklagten Frauen nur zu gut, schliesslich gibt es ständig solche Verfahren. Es muss für die Juristen ein Leichtes gewesen sein, die wohl oft hilflosen Ausreden der meist ungebildeten Frauen, die zudem ohne rechtlichen Beistand vor ihnen standen, zu zerpflücken und als Notlüge zu entlarven.

Erschwerend im Falle der Anna Maria kommt hinzu, dass es Zeuginnen gibt. Zwei davon werden im Untersuchungsbericht erwähnt. Die eine, Frau Schmitter, hat zu Protokoll gegeben, dass Anna Maria ihr im März von dem Mittelchen und seiner positiven Wirkung erzählt und behauptet habe, sie sei nun von ihrer Schwangerschaft befreit. Und die zweite, ihre ehemalige Vermieterin, Frau Federer-Krucker, hat bei den Herren ebenfalls deponiert, dass ihre Mieterin ihr erzählt habe, sie sei in andern Umständen, wolle kein Kind mehr & werde es nun probieren, ob bei Anwendung des Pulvers die Frucht von ihr gehe. Wie die beiden Zeuginnen den Weg zu den Richtern gefunden haben, ob sie freiwillig oder unter Druck – und, wenn ja, von wem – gegen ihre Geschlechtsgenossin ausgesagt haben, weiss man nicht. Fest steht nur, dass Anna Maria verraten wurde, denn wie sonst wäre es bei der inzwischen Hochschwangeren zur Anklage gekommen, da der Abbruch ja offensichtlich nicht geklappt hat? Ihre frühere Hauswirtin kommt als Denunziantin weniger infrage. Sie scheint keine Gegnerin der Abtreibung gewesen zu sein, denn sie hat den hohen Richtern freimütig erzählt, dass sie selbst auch schon genug Kinder habe und dass sie deshalb ihre Mieterin, die ihr vom Mittel angeboten habe, gefragt habe, ob das Pulver auch gut zu nehmen sei, was die Beklagte verneint habe.

Zurück zu den Strategien der Angeklagten, die versucht, die Herren Richter zur Milde zu bewegen. Die zweite Karte, die sie ausspielt, ist ebenso wenig erfolgreich. Anna Maria gibt nun zwar zu, dass sie bei Bestellung des Mittels an Schwangerschaft gedacht habe, schränkt aber ein, sie habe […] gemeint, wenn diese allfällig infolge des Mittels abgehe, so begehe sie mit der Anwendung desselben kein Verbrechen, da ja noch kein lebendes Wesen in Frage stehe. Aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, das gilt heute und galt damals, wie der Richtspruch bestätigt: Der Umstand, dass die Beklagte an ein Verbrechen nicht gedacht haben will, ist ebenfalls irrelevant, indem nach ART. 27. S.G.B. Nichtkenntnis des Gesetzes bezw. der Strafbarkeit der Handlungsweise keine Entschuldigung für die letztere bildet. Einzig in einem Punkt gelingt es der Angeklagten, die Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen. Sie bestreitet, auch noch den Inhalt der zweiten Lieferung, die erwähnte Flasche mit Flüssigkeit, ausprobiert zu haben, sondern behauptet, sie habe sie sofort in den Abort geleert. Das klingt nicht unbedingt überzeugend. Schliesslich möchte Anna Maria ja abtreiben, hat deshalb in Zürich reklamiert und den Preis von sechs Franken für die neue Lieferung bezahlt. Das ist kein Pappenstiel für eine junge Textilarbeiterin, sondern das sind drei volle Taglöhne. Was sich also eher unglaubwürdig anhört, wird von den Richtern, vermutlich mangels Gegenbeweisen, akzeptiert: Anhaltspunkte dafür, dass diese Angabe unrichtig wäre, liegen nicht vor. Auch Anna Marias unversehrter Ruf spielt, wie die Urteilsbegründung noch zeigen wird, eine Rolle, dass man ihr so bereitwillig glaubt. Aber natürlich macht es den ersten Versuch, den mit dem Pülverchen, nicht ungeschehen, der Strafbestand bleibt, und der Richtspruch der Herren ist eindeutig: Die Beklagte ist des Fruchtabtreibungsversuches schuldig erklärt & wird mit fr. 100.– gestraft. Immerhin wird der Hochschwangeren statt der sonst üblichen Strafe mit Arbeitshaus oder Zuchthaus ein bedingter Straferlass zugebilligt. Gründe dafür sind einerseits ihrer akuten Notlage, da sie als Mutter von 4 Kindern in bedrängten ökonomischen Verhältnissen lebt, ferner der geringe Grad von Böswilligkeit, der Mangel einer Schädigung, der Mangel an Vorstrafen, sowie der Umstand, dass die Beklagte ihre Versuchshandlung freiwillig auf das erstmals zugesandte Mittel beschränkt hat. Und noch ein weiterer Grund wird ihr zugutegehalten und zur Strafmilderung angeführt, und zwar ihre angebliche Passivität in der ganzen Sache, dass nämlich die Beklagte durch eine, leider straffreie Anpreisung in der Presse & weniger aus eigener Initiative zur Anwendung des kritischen Mittels gekommen ist. Dass Anna Maria vor allem das Opfer geschickter Werbung sein soll, deutet der Enkel, wie er seine Grossmutter inzwischen kennengelernt hat, vor allem als paternalistische Überheblichkeit. Oder aber Anna Maria hat gezielt das von der Presse verführte Opfer gemimt, um mit geringerer Strafe wegzukommen.

Wie auch immer, Anna Maria Boxler kommt mit einer bedingten Verurteilung und Verfahrenskosten von 63.40 Franken davon. Wie sie als Ehefrau eines verschuldeten Mannes diese Kosten abzahlen soll, kümmert die St. Galler Richter nicht weiter. Vielleicht hat man den Betrag wegen Zahlungsunfähigkeit direkt bei den Nesslauern eingefordert, oder Anna Maria und Adolf haben tatsächlich bezahlt, mehr als drei Wochenlöhne des Schifflistickers, und sich andernorts noch etwas mehr verschuldet.

Jedenfalls geht es nur wenige Monate, da flattert schon die nächste Vorladung ins Haus. Diesmal gilt die Einladung Adolf, dem Oberhaupt der Familie, er wird wegen leichtsinnigem Schuldenmachen auf die Anklagebank geholt.

Das Gerichtsurteil vom 29. Dezember 1911 liest sich in den ersten Passagen wie der Einstieg in eine literarische Dorfnovelle. Da wird beschrieben, wie der Lebensmittelhändler Ernst Traber dem Looser Adolf auf Kredit Ware ausgab, wie dieser zwischendurch mit einer Abschlagszahlung die Schuld verminderte, wie durch Einkäufe seiner Frau die Schuld wieder anstieg, wie Frau Looser um vierzehn Tage Aufschub bat, da sie zinsen müsse, wie sie dann am fraglichen Tag eines ihrer Kinder vorschickte (wahrscheinlich ihre Älteste, die siebenjährige Marie) und für weitere sieben Franken Ware holen liess und auf einem dem Mädchen anvertrauten Zettel versprach, dass sie noch am nämlichen Tag vorbeikommen werde, um die ganze Schuld abzuzahlen. Wie sie dies dann aber nicht getan habe, worauf der Kläger in ihre Wohnung gegangen sei und Frau Looser ihm schliesslich gestand, sie könne nichts bezahlen, ihr Mann habe schon während einigen Tagen nichts verdient, sie habe kein Geld. Und wie schliesslich auf diesem Weg eine Schuld von 103.85 Franken zusammengekommen sei, für die Adolf Looser nun verklagt werde. Der Kläger erklärt weiter, er habe ihm eine so grosse Summe kreditiert, weil er bei drei Arbeitgebern Erkundigungen eingezogen habe und beruhigt worden sei, er werde sein Geld schon erhalten.

Die Novelle ist längst ein agitatorisches Lehrstück geworden, denkt der Enkel beim Weiterlesen, so, wie man sie in sozialistischen Kampfblättern jener Zeit, etwa im «Textilarbeiter» oder in der «Vorkämpferin», lesen konnte, die mit solchen Mustergeschichten die Verelendung proletarischer Familien anprangerten. Auch bei Loosers reichten die Löhne nirgends hin, deshalb liess man bei den Händlern anschreiben, jonglierte zwischen all den Gläubigern hin und her, schickte eines der Kinder vor, um noch einmal ein Brot und etwas Milch auf Kredit zu erbitten.

Insofern war es eine ganz alltägliche Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der die Richter in Gossau sich zu beschäftigen hatten. Und es mag sein, dass sie manchmal ein bisschen zweifelten an der Gerechtigkeit, der sie dabei das Wort zu reden hatten. Menschen zu bestrafen, nur weil sie versuchen, ihre Kinder durchzubringen, wirft ja auch Sinnfragen auf. Doch die geltende Moral, auf Kanzeln und in Schulzimmern verkündet, stellte sich zuverlässig auf ihre Seite. Wer fleissig war und bescheiden, da war man sich einig, hatte nichts zu befürchten. Diesmal übernimmt der Kläger, es ist der Händler Traber, die Rolle des Predigers, der den Mahnfinger hebt und feststellt, dass Loosers über ihre Verhältnisse gelebt, denn soviel Waren wie sie geholt, brauche keine Familie, oft seien 2 Bieberfladen an einem Tag geholt worden, wie auch auffallend viel Chocolade.

Nicht etwa strukturell bedingte Not führt also zur Verschuldung, sondern Gier und Verschwendungssucht. Mit diesem Schachzug wird die Angelegenheit zum Privatproblem zweier Leute, gerät der Prozess zum Ehestreit vor richterlichem Publikum. Ehemann Adolf stimmt denn auch dem Kläger Traber bereitwillig zu: Es sei richtig, dass in geradezu leichtsinniger Weise viel zu viel gebraucht worden sei, hält er fest. Und reicht dann die Anwürfe an seine Frau und ein bisschen an den Kläger weiter: Traber sei insofern mitschuldig, dass er zu viel gegeben und kreditiert habe. Traber hätte einmal Halt gebieten und dem Beklagten rechtzeitig Mitteilung machen können. […] Wenn seine Frau und seine Schwiegermutter auf seine Rechnung Waren geholt, so könne er nichts dafür. Wenn er untertags von Hause abwesend sei, so mache man dort was man wolle. Für sich habe er nichts. Er gebe seinen ganzen Verdienst in die Familie. Ob Adolf hier aus taktischen Gründen seine Frau bezichtigt, um sich so aus der Anklage herauszuwinden, oder ob sich hinter den Anwürfen tatsächlich Ehekonflikte verstecken, ist nicht zu beurteilen.

Das Urteil hält dann fest, dass Anna Maria zwar zugibt, bei Traber manches bezogen zu haben, was nicht gerade notwendig gewesen sei, dann aber rechtfertigt sie sich, dass sie oft die ganze Woche kein Fleisch habe kaufen können. […] In kritischer Zeit sei sie schwanger gewesen und habe nicht alles essen können, weshalb sie mit Chocolade und derlei Sachen nachgeholfen habe. Und schliesslich deponiert auch sie noch ihren Packen Vorwürfe an die Adresse ihres Mannes, der seinen redlichen Teil mitgeholfen durch seinen Geldverbrauch, der eben auch hätte eingeschränkt werden können. […] Dass der Mann nicht haushälterisch sei, beweise die Tatsache, dass er am Sonntag, den 24. September allein frs. 10.– verbraucht habe. Wenn der Mann Geld im Haus habe, so brauche er es eben auch. Und schliesslich geht sie in ihrem Unmut noch einen Schritt weiter, hält fest, dass die Ursache der Zahlungsunvermögenheit auch auf den Umstand zurückzuführen sei, dass der Mann zu wenig Ausdauer zeige und zu seinen Anstellungen zu wenig Sorge trage. Deshalb könne sie eine Anschuldigung wegen leichtsinnigem Schuldenmachen nicht an sich kommen lassen, sie habe ihre Sache so gut gemacht, als sie es gekonnt, sie habe auch mit Nachsticken viel Geld verdient. Der Streit ist in vollem Gang. Das Paar verliert an Glaubwürdigkeit, und die Richter sehen sich in ihrer Rechtsprechung bestätigt.

Liest man weiter im Urteil, wird deutlich, dass Anna Maria mit ihren Anwürfen vermutlich eher zurückhaltend war. Ihre Mutter aber, ebenfalls als Zeugin befragt, nimmt kein Blatt vor den Mund, ihrem Ärger über diesen Schwiegersohn Luft zu verschaffen: Der Beklagte wird auch von seiner Schwiegermutter als dem Trunke & dem Spiel ergeben bezeichnet und sie wünscht, dass derselbe bevogtet werde. Er lebe nur für die Vereine und gehe ganze Nächte dem Vergnügen nach, er sei ein sehr gleichgültiger Mensch. Wenn er sich mehr der Familie widmen würde, so wäre vieles anders, er sei ein liederlicher Tropf. Aus der Heimatgemeinde Nesslau kommen ähnliche Klagen, was nicht unbedingt erstaunt, denn bekanntlich hat Schwiegermutter Bauer auch dort bereits ihren Unmut deponiert. Mit Schreiben vom 23. Februar 1911 macht sie demselben Vorwürfe über seinen liederlichen Lebenswandel, dass er in Vereinen und Gesellschaften alle Anlässe mitmache und ihm das Wirtshaus mehr Heimstätte geworden sei als die Wohnung, während er der Gemeinde noch Unterstützungen schulde und die Kinder Mangel am Notwendigsten leiden müssen.

Was es mit Adolfs → Trunksucht auf sich hat, lässt sich nicht wirklich klären. Das Wirtshaus war damals für alle proletarischen Männer so etwas wie eine zweite Wohnstube. Eine Rettung aus der Enge ihrer mit Betten vollgestellten Wohnräume, mit lärmenden oder schlafenden oder einnässenden Kindern und erschöpften Frauen, die sich abrackerten mit Kochen und Flicken und abends dann noch für ein paar Stunden in den Stoffen und Bordüren ihrer Heimarbeit versanken. Das Wirtshaus als Fluchtort war männliches Vorrecht, der Alkohol als Trosttrank selbstverständliche Zugabe.

Was den Enkel aufmerken lässt, ist der Vorwurf mit den Vereinen und Gesellschaften. Nur zu gerne hätte er herausgefunden, wo genau sein Grossvater mitgemacht hatte und ob er vielleicht gar politisch unterwegs war. Jedenfalls waren damals unruhige Zeiten in der Schweiz. Die Verelendung der Arbeiter ging, trotz Hochkonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg, ungebrochen weiter, man begann sich zunehmend zu wehren. Der Gewerkschaftsbund war bereits vor der Jahrhundertwende gegründet worden, der Fabrikstickerverband ebenfalls, und auch die Schweizer Sozialdemokratie, seit 1888 neue Kraft im Parteiengefüge, bekam Zulauf. Es gab Unruhen und Streiks, die Regierung setzte die Armee ein, Patrons entliessen Gewerkschafter und schrieben in die Lehrlingsverträge gewerkschaftliche Beitrittsverbote. Vielleicht, so malt der Enkel sich aus, während er ein Buch zur Geschichte der Arbeiterbewegung liest, hat Adolf ja zu jenen zwanzig Prozent der Schifflisticker gehört, die sich im Verband organisierten, oder hat beim grossen Streik in Arbon in der Stickerei Heine mitgemacht. Oder, auch das ist denkbar, vielleicht war er damals in Tablat mit dabei, 1905, als die Sticker sich in der «Traube» versammelten, um mit sozialdemokratischer Hilfe Massnahmen gegen die immer ärgeren Missstände in der Stickerei zu debattieren. Der Enkel hat just zu dieser Versammlung einen Bericht gefunden und liest fasziniert, wie man damals die Löhne drückte bei den Nachstickerinnen, indem man italienische Arbeiterinnen holte, junge, oft minderjährige Frauen, die man in Stickerheime sperrte und zu miesesten Löhnen schuften liess. An der besagten Versammlung wurde dazu von Arbeiterführer Hermann Greulich persönlich eine Geschichte rapportiert. Dieser erzählte von drei halbwüchsigen Töchtern aus Ponte Tresa, die von katholischen Priestern mit Aussicht auf guten Verdienst in ein St. Galler Mädchenheim für Nachstickerinnen gelockt worden seien. Dann sei den Mädchen jeder Fehler mit hohen Strafabzügen quittiert worden, sodass sie unterm Strich fast nichts mehr verdient hätten, und zudem habe man ihnen auch noch das Recht auf Kündigung abgesprochen, da sie sich vorgängig für zwei Jahre fest verpflichtet hätten. Und um das Fass übervoll zu machen, so ereifert sich der aus Zürich angereiste Greulich, seien die jungen Mädchen von den Ordensschwestern im Heim auch noch regelrecht religiös drangsaliert worden.

Da Adolf und Anna Maria just zu jener Zeit ebenfalls an der Langgasse in Tablat wohnten, also gleich neben der Wirtschaft Traube, wo diese Versammlung stattfand, wäre es tatsächlich denkbar, überlegt der Enkel, während er das herangezogene Buch wieder zur Seite legt, dass sein Grossvater damals mit am Wirtshaustisch sass, um gegen solche Missstände zu protestieren. Zumal die fiese Lohndrückerei ja seine Frau Anna Maria, die Nachstickerin, ganz direkt betraf.

Doch das bleiben Fantasien zu offenen Fragen. Fest steht einzig, dass Adolf viel unterwegs war, dass er dem Alkohol nicht abgeneigt war, dass er seine Arbeit öfters verlor, dass seine Frau während der Schwangerschaft fehlendes Fleisch mit Schokolade kompensierte und sich und den Kindern – wider alle ökonomische Vernunft – ab und zu einen Biberfladen gönnte. Und so kam es, dass bei der inzwischen siebenköpfigen Familie der Schuldenposten mächtig angewachsen war. Und wer dafür geradezustehen hatte, war beim Gossauer Bezirksgerichts ausser Zweifel: Der Untersuch hat in rechtsgenüglicher Weise erbracht, dass Beklagter durch Spiel und Trunksucht, sowie durch übermässige Vereinsmeierei einen über seine Verhältnisse gehenden Aufwand getrieben, seinen Beruf vernachlässigt und so seinen ökonomischen Zerfall verursacht hat. […] Der Beklagte ist des leichtsinnigen Schuldenmachens schuldig erklärt und wird hiewegen mit 6 Tagen Gefängnis bestraft. Zudem soll Adolf die gesamten Verfahrenskosten von 56.10 Franken berappen, das sind mehr als zehn Tagessätze für den Sticker. Auch der kleine pikante Nachsatz am Schluss des Urteils will noch zitiert sein. Der Verurteilte wird nämlich zusätzlich mit 2 Jahren Einstellungen in den bürgerlichen Ehren & Rechten bestraft. Adolf verliert also wegen seiner Verschuldung von gut hundert Franken – das Doppelte der Verfahrenskosten – nicht nur seine Ehre, sondern auch noch seine politischen Rechte.

Zwischen Sehnsucht und Schande

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