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4 Nichts geht mehr

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Die nächsten Jahre im Leben der Anna Maria Boxler sind Jahre der zunehmenden Verelendung. Der Hunger sass meist mit am Tisch, und wohl auch eine wachsende Verzweiflung. Das Nesslauer Gemeinderatsprotokoll erweist sich als zuverlässige Chronik der dramatischen Entwicklungen. Natürlich hat man im Bürgerort des Adolf Looser von der Verurteilung des Schifflistickers erfahren. Ein entsprechender Bericht wird im Rat vorgelesen und zu Protokoll genommen. Zudem hat seine Haftstrafe für die Gemeinde finanzielle Konsequenzen. Sie muss die Verpflegungskosten der Familie während der Inhaftierung des Looser vom 7.–14. März übernehmen, wie der Gemeindeschreiber protokolliert. Überhaupt beginnen sich in Nesslau die Protokolleinträge unter dem Vermerk Unterstützung von Looser-Boxler im Jahr 1911 zu mehren. Die Familie selbst ist inzwischen ins Rheintal, nach Rebstein, umgezogen. Von dort kommen vermehrt Zahlungsforderungen der Wohngemeinde, aber auch Bittschreiben von Anna Maria, zum Beispiel um Gutsprachen für Hauszinse, oder dann Rechnungen wie diejenige der Hebamme Karoline Keel-Rüst, die ihren Lohn bezahlt bekommen will. Schliesslich war sie es, die dem widerständigen Fritz, der seinerseits der «Sorgenlos»-Kur standhaft getrotzt hatte, im August als gesundes Baby in die Rheintaler Welt hineinhalf.

Nesslau bezahlt. Widerwillig. Nur dann, wenn es nicht anders geht. Die kleine Gemeinde gerät mit der Zunahme armengenössiger Bürger selbst in wirtschaftliche Bedrängnis. In der kleinen Toggenburger Gemeinde finden sich keine gut genährten Fabrikanten mit entsprechendem Steuerobolus, hier leben vorwiegend arme Bauern, Heimsticker und Weber, die alle ums Überleben kämpfen. Die Gemeindekasse ist entsprechend leer. Jede Rechnung wird genau geprüft und wenn immer möglich zurück an den Absender retourniert. Sitzung vom 28. November 1912: Rechnung der Armenpflege Rebstein betr. Familie Looser-Boxler, 293. In der Sitzung vom 29. Oktober wurde für Pflegekosten der Familie Looser-Boxler in Rebstein von der dortigen Armenpflege drei Rechnungen im Betrage von frs. 44.73 zur Zahlung unterbreitet. Deren Zahlung wurde unsererseits verweigert. – Der Gemeinderat von Rebstein stellt neuerdings Rechnung mit frs. 19.99 (in 2 Rechnungen) mit der Begründung es seien die Anmeldungen seinerzeit erfolgt. Diese Rechnungen werden unsererseits anerkannt und beglichen.

Für Schifflisticker Adolf nimmt ein unstetes Leben seinen Fortgang. Mit der Arbeit scheint es nirgends wirklich zu klappen. Looser-Boxler treibt sich laut eingegangenen Berichten von einer Stelle auf die andere. Gegenwärtig soll er in Donzhausen bei Sulgen als Stickermeister angestellt sein, berichtet man in Nesslau. Sein guter Ruf gerät zunehmend ins Wanken. Mindestens bei einem der denunziatorischen Briefe schreibt die Verfasserin nicht zum ersten Mal an die Heimatbehörde: Sitzung vom 25. Februar 1913: Looser-Boxler, Donzhausen 490. Ueber den Lebenswandel des Looser-Boxler, Schifflisticker in Heiden beschwert sich dessen Schwiegermutter Frau Bauer, Goliatgasse St. Gallen. Der Brief selbst ist nicht erhalten. Jedoch zeigen die Nesslauer Protokolle, dass Anna Maria als Ehefrau nicht in die Anwürfe ihrer Mutter einstimmt, sondern sich ihrem Mann gegenüber loyal zeigt. Da weitere Beschwerden seitens der Familie nicht eingegangen sind, werden vorläufig keine Massnahmen getroffen.

Der Sticker Adolf, einst wohl mit jugendlichem Schwung an seinem Pantographen in die Berufswelt gestartet, inzwischen 37 Jahre alt, möglicherweise bereits geplagt von Gicht an den Händen und entsprechend ungeschickt, wird mehr und mehr zu einem Wanderarbeiter. Und seine Frau Anna Maria, die flinke Nachstickerin, zieht, wie es von ihr erwartet wird, mit ihren fünf Kindern hinter ihm her. Kaum hat sie, ihrem Mann folgend, in Heiden eine Bleibe gefunden, ist dieser bereits wieder woanders in Stellung. Und wo immer sie auch sind, nirgends reicht das Geld. In den Nesslauer Protokollen liest man von diesen aufreibenden Wanderbewegungen in behördlicher Kurzform: Sitzung vom 25. März 1913, S. 295: 556, Unterstützung Looser-Boxler, Heiden. In Sachen Looser-Boxler teilt die Gemeinderatskanzlei Heiden mit, dass eine Notunterstützung erfolgen musste von frs. 15.–. Der in Donzhausen in Arbeit getretene Looser-Boxler erklärt sich bereit, seine Familie nach Donzhausen zu nehmen und die von der Gemeinderatskanzlei vorgestreckten frs 15.– dieser sofort wieder zurückzubezahlen.

Das armutsbedingte Nomadentum der siebenköpfigen Familie lässt sich nur schwer vorstellen. An Möbeln und sonstigen Gütern gibt es kaum etwas zu zügeln. Die kleine Habe besteht vermutlich aus einem oder zwei Reisekörben, in die man ein paar Tücher und brauchbare Lumpen stopft, dazu das Bündel Besteck und das bisschen Geschirr, die zerkratzten Aluminiumteller und -becher, dann den Sonntagsrock und für den Mann die zweite Hose, die er sich damals, für den Gang vors Gericht, angeschafft hat. Ein oder zwei Pfannen kommen dazu, dann das Schreib- und das Nähzeug, die paar Kerzen, die man noch übrig hat, und natürlich der abgegriffene und mit Urinsäure patinierte Nachttopf, der helfen soll, die ewigen Bettnässer in der ständig wachsenden Kinderschar doch noch trocken zu kriegen. Es fehlen Hinweise, die verraten würden, wie diese Umzüge von Anna Maria und ihren Kindern – die beiden Ältesten gehen bereits zur Schule – erlebt werden. Ein «lustiges Zigeunerleben» jedenfalls, wie das Nomadenleben im beliebten Volkslied so schön besungen wird, war dieses ständige Packen und Ankommen nicht. Zumal das neue Zuhause meist ebenso düster oder gar noch enger war, mit Wanzen und Läusen in den Ritzen und verschmutzten Etagenklos, manchmal auch ohne Licht und Elektrizität und ohne fliessendes Wasser in der Küche. Wer aber, wie der forschende Enkel, all diese gehetzten Umzüge der Familie nachverfolgt, indem er den vielen Wohngemeinden hinterher reist oder nachfragt nach den Niederlassungsbüchern, riskiert, dass etwas von der Trostlosigkeit aus den schweren Folianten in die eigene Gegenwart drückt. Davor vermag auch die dicke Haut eines abgebrühten Historikers nicht zu schützen.

Die grösste Hektik verzeichnen die Einträge zwischen 1913 und 1915. In zweieinhalb Jahren zog die Familie von Rebstein nach Heiden, dann nach Donzhausen, nach Tablat, nach St. Gallen und wieder zurück nach Tablat und wieder nach St. Gallen und schliesslich nach Arbon. Zehnmal sind sie in diesen achtzehn Monaten umgezogen – meist mit dem Handwagen, die trippelnden Kinder hinterher –, von der Heiligkreuz- über die Lukas- an die Bruggwaldstrasse, dann weiter in die Langgasse, die Notker-, die Goldbrunnenstrasse. Alles im dicht bewohnten, ärmlichen Arbeiterquartier. An der Bruggwaldstrasse blieben sie nur zwanzig Tage, an der Notkerstrasse immerhin vier Monate, das hatte seinen guten Grund, denn sechs Wochen nach ihrer Ankunft kam eine Niederkunft. Anna Maria gebar am 28. Juni 1914, also kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ihr sechstes Kind. Noch einen Sohn. Sie nannten ihn Hans.

Anna Maria hat mit ihrer Kinderschar wenige Möglichkeiten, zum Familieneinkommen beizutragen. Sie versucht es mit Nachsticken, wie sie in der Einvernahme im Verschuldungsprozess hervorhebt. Doch viel war damit nicht zu holen. Die Stickerei war generell schlecht entlohnt, bei den Frauen erst recht, sie verdienten bis zu siebzig Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Und bei der Heimarbeit war die Bilanz noch miserabler. Später dann versuchte sie es mit Nähen. Am 18. November 1913 kaufte sie eine Nähmaschine auf Abzahlung und unter registriertem Eigentumsvorbehalt. Dieser Schritt ist so präzise zu datieren, weil die geleaste Maschine später in einem Gerichtsverfahren als corpus delicti eine Rolle spielen wird. Vorerst aber kann Anna Maria mit ihrer «Singer» einen neuen Erwerbszweig versuchen. Sie näht in ihrem engen Zuhause in Heimarbeit, inmitten der quengelnden Kinder, zwischen Waschen und Kochen und Trösten und Schimpfen, vermutlich mehr abends und nachts als am Tag und gewiss bei schlechtem Licht. Vielleicht hat sie Herrenhemden genäht. Da verdient sie pro gefertigtes Stück um die zwanzig Rappen. Damit kann sie gerade mal einen knappen Liter Milch oder ein halbes Kilo Brot kaufen.

So kann die Not auch nicht gestoppt werden. Zumal alles teurer wird und die Geschäfte mit den Stickereien immer schlechter laufen. In Sarajevo führt die Ermordung eines Thronfolgers erst zu einer nationalen Krise, dann zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Folge ist es mit dem grossen Erfolg der Stickerei endgültig vorbei. Der Export stagniert, die Produktion schrumpft, es gibt massenhaft Entlassungen. Gleichzeitig lassen die Kriegsjahre die Lebensmittelpreise auf das Doppelte ansteigen. Und zu allem Unglück werden auch noch die Männer in die Armee abgezogen, bei einem Sold, der für drei Gläser Bier und ein Päckchen Zigaretten reicht.

Auf den 3. August 1914 beschliesst der Bundesrat die allgemeine Mobilmachung. Auch Adolf, der wandernde Schifflisticker, wird einberufen. Nach Zürich. Er selbst ist vielleicht sogar froh, das häusliche Elend mit seinem Geschrei und Gestank und den immer genässten Betten einzutauschen mit dem rauen, aber strukturierten Soldatenalltag. Die achtzig Rappen Sold reichen zwar nicht weit, doch für die Familie gibt es zusätzlich etwas Nothilfe, und er hat immerhin zwei warme Mahlzeiten am Tag und ist befreit von der immer aussichtsloseren Arbeitssuche. Der Militärdienst ist für Männer wie Adolf eine fast schon attraktive Alternative. So ist denn auch nicht erstaunlich, dass er sich nach Dienstende sogleich für den Landsturm meldet. Freiwillig. Was es dafür braucht, kann der 41-Jährige in seiner strammen Uniform problemlos bieten, Schiesserfahrung hat er genug, und körperlich leistungsfähig ist er allemal. Das reicht, um für ein paar weitere Monate im nährenden Armeekorps mitzumarschieren.

In dieser Zeit ist Anna Maria mit ihren Kindern fast ganz auf sich gestellt. Sie bekommt etwas Notunterstützung, ihr Nähen und Sticken bringt ein paar zusätzliche Rappen. Der Hunger ist gross, die Kinder zu klein, um mitzuverdienen. Da besinnt sich die nun Dreissigjährige auf eine letzte Möglichkeit, um doch noch zu einem Zustupf zu kommen. Eine Notlösung unter Frauen, bei Müttern nicht unbeliebt, da sie wenig flexibel sind in der Arbeitssuche. Sie entscheidet sich für die gelegentliche → Prostitution. Wie so viele andere Textilarbeiterinnen auch in jener Zeit.

Wie sie ihre Freier findet, wohin oder bei wem sie ihre Kinder versorgt während ihrer Dienste und wie sie sich fühlt, wenn sie Kundschaft in ihrer Wohnung empfängt, sind offene Fragen, dem Luxus späterer Zeiten entsprungen. Sie verdient damit Geld, das ist es, was zählt. Zwei Franken. Zwei Franken fünfzig. Je nach Grossmut des Kunden. Dafür müsste sie zehn Herrenhemden nähen oder in der Fabrik Nadeln fädeln oder nachsticken, elf ganze Stunden lang. Und mit dem Geld auch nur eines einzigen Kunden lässt sich eine Menge Ware kaufen, sechs runde Kilolaibe Brot, zehn Liter Milch, vielleicht auch mal etwas Rindfleisch und ein Stückchen Schokolade.

Wie oft es mit ihrem Zusatzverdienst als Prostituierte geklappt hat, bevor Anna Maria deswegen im Juli 1915 verhaftet wird und als Angeklagte betreffend gewerbsmässiger Unzucht vor der Gerichtskommission Tablat steht, ist nirgends protokolliert. Die Gerichtsakte verrät einzig, wie es zur Anzeige kam: Die Angeklagte hatte schon längere Zeit in Verdacht gestanden, dass sie sich gewerbsmässig der Unzucht hingebe. Als dann nach einer Mitteilung des Territorialchefarztes sich ein Soldat in einem näher bezeichneten Hause an der Goldbrunnenstrasse an Gonorrhoe (Syphilis) infiziert hatte, fiel der Verdacht wiederum auf die heutige Angeklagte, die dort ihre Wohnung hat. Anna Maria versucht während der Untersuchung zuerst, den Tatbestand zu leugnen, gibt dann aber in einem späteren Verhör zu, vor ca. 4 Monaten mit einer ihr unbekannten Mannsperson in ihrer jetzigen Wohnung Umgang gehabt und dafür 2 Frs. erhalten zu haben. Noch in zwei weiteren Fällen gesteht sie das eingeklagte Delikt widerstandslos ein. Sie steht alleine vor den Richtern Müller, Steger, Sennhauser und dem Gerichtsschreiber Dr. Schubiger, eine Angeklagte ohne Anwalt, dafür hat sie kein Geld. Und was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hat, ist schnell gesagt: Zu ihrer Rechtfertigung macht die Angeklagte geltend, dass sie in Not gewesen sei und sich in der eingeklagten Weise vergangen habe, um das nötige Geld zur Ernährung ihrer sechs kleinen Kinder aufzutreiben. Damit kommt sie bei den Herren Richtern allerdings nicht durch. Demgegenüber ist festgestellt, dass sie während der Abwesenheit ihres Ehemannes im Militärdienst Notunterstützung bezogen hat. Aufschlussreich ist, dass im Gerichtssaal keine konkreten Zahlen genannt, keine Berechnungen zu den Lebenshaltungskosten einer siebenköpfigen Familie gemacht werden. Man fragt auch nicht nach den Mietkosten und noch weniger nach den Beiträgen des Ehemannes in die Familienkasse. Es sind männliche Richterhände, die hier die Waage der Gerechtigkeit austarieren, und patriarchale Gesetze, die hier gebieten. Sie lassen den Männern mehr Freiheit und den Frauen mehr Schuld. Anna Maria wird nach vier Tagen Untersuchungshaft ohne Wenn und Aber verurteilt. Die Angeklagte ist der gewerbsmässigen Unzucht schuldig erklärt und zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt.

Das Urteil ist bitter. Erstmals in ihrem Leben verliert Anna Maria ihr Grundrecht der persönlichen Freiheit. Sie wird zur Übernahme von für sie unbezahlbaren Summen von Gerichtsgebühren und Untersuchungskosten verdonnert, zusätzlich zu den 34.20 Franken Verpflegungskosten für sie selbst während ihrer Haft. So kostspielig hat sie zu Hause wohl nie gewohnt und gegessen. Der eine Freier aber, der erkrankte Soldat, der sie vor den Richter brachte, dessen Identität also mit Sicherheit bekannt war und der sich gemäss Gesetz wegen ausserehelichem Sex ebenfalls strafbar machte, wurde gerichtlich nicht einmal vorgeladen.

Diese zweite Verurteilung im Leben der Anna Maria Boxler unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der vorherigen, jener zur versuchten Abtreibung vier Jahre zuvor. Diesmal kann sich Anna Maria nicht mehr auf ihr ordentliches Bemühen um Wohlanständigkeit berufen, es gibt kein paternalistisches Wohlwollen mehr, das strafmildernd wirkt. Diesmal läuft es umgekehrt. Straferschwerend wirkt dabei der Umstand, dass sie verheiratet ist und damit durch ihre Verfehlung das ohnehin nicht glückliche Familienleben noch mehr getrübt hat. Offenbar hat Anna Maria mit ihrem Schritt zur Gelegenheitsprostitution eine unsichtbare Schranke überschritten. Sie hat die bürgerlichen Werte von Anstand und Treue aufgekündigt und damit nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihren guten Ruf aufs Spiel gesetzt. Beides sind folgenschwere Verluste, wie sie bald einmal merken wird.

Nun beginnen die Behörden sich für die Kinder der Anna Maria zu interessieren, genauer für deren richtige Erziehung. Was das für sie und die Familie zu bedeuten hatte, wird in den nächsten Kapiteln genauer zu zeigen sein. Hier sei vorerst festgehalten, dass sich der Ton verändert, wenn künftig die Behörden über das Geschick von Anna Maria verhandeln, dass der Zeigefinger mitredet und sich Moral einschreibt in die Sätze der amtlichen Protokolle. Man liest nun in den Gemeindeakten plötzlich von Anna Marias bekanntem rechthaberischen Tone, und bei der Auflistung eingegangener Rechnungen hält man in Nesslau unmissverständlich fest, wie sehr doch diese Familie die Armenkasse belaste, und zwar zufolge des Lasterlebens der Eltern. Die Fokussierung auf die individuelle Schuld lässt keine mildernden Bezüge mehr als Erklärung zu, weder auf die Wirtschaftskrise noch auf die wachsende Kinderschar und auch nicht auf den Krieg und seine Folgen. Diese Verschiebung in der Beurteilung der Schuldfrage ist von grundlegender Bedeutung. Denn so können die Behörden neue Massnahmen einleiten im Kampf gegen die Mittelosigkeit von Familien wie den Loosers, die in gefrässiger Armut kommunale Gelder verschlingen.

Auch Adolf hat seinen guten Ruf bekanntlich längst verwirkt. Obwohl, so entdeckt der forschende Enkel eines Tages beim Entziffern eines Nesslauer Protokolleintrags, da sind offenbar nicht alle behördlichen Instanzen gleicher Meinung. Sitzung vom 30. September 1913: Nachdem wir unterm 10. September an das Departement des Innern eine Vernehmlassung in Sachen Adolf Looser-Boxler Schifflisticker Heiligkreuz abgehen liessen, gelangt das Departement neuerdings in dieser Frage an die Gemeinde. – Looser scheint ein soliderer, pflichtbewussterer Mann als von uns geschildert, zu sein, er dokumentiert dies durch eingelegte Zeugnisse. Als der Nachfahre diese Passage liest, leicht unterkühlt von der Kellerkälte des Nesslauer Archivs, durchfährt ihn ein Funken wärmender Freude. Es hat etwas Tröstliches zu erfahren, dass der Mann, der sein Grossvater war, doch nicht ganz so durchgängig als Versager gezeichnet wurde, wie zu befürchten gewesen war. Offenbar gab es auch Menschen um ihn, die ihm Redlichkeit und Fleiss attestierten. Auch wenn diese die heimatlichen Behörden mit ihrer Meinung nicht zu überzeugen vermochten. Der Gemeinderat beschliesst auf seinem Standpunkt zu beharren, indem die Zeugnisse nicht vermögen anders zu belehren.

Der Ton in den Nesslauer Protokollen hat sich definitiv verhärtet. Der Enkel findet nun vermehrt knappe Rapporte, die die Elendsgeschichten in blutleere Fakten abpacken. Familie Looser-Boxler Adolf, Sticker, Goldbrunnenstr. 45 St. Fiden. Die Verhältnisse scheinen bei dieser Familie immer misslicher zu werden. Der Mann ist neuerdings wegen Geschlechtskrankheit im Spital. Die Frau mit den Kindern wird auf die Gasse gestellt. Bei einem Besuch des Gemeindeammanns zeigte sich, dass die Familie auszog und zwar in den Stadtrayon. Vom Armensecretariat Tablat wurde die Familie vorläufig unterstützt. Seitens der Heimatgemeinde wird man nun zusehen bis weitere Begehren eingehen. Die Begehren lassen nicht auf sich warten. Die Forderung des Vermieters Schweikart aus St. Gallen für den garantierten Mietzins von 35 Franken. Die Rechnung des Kantonsspitals im Krankheitsfall Looser, dessen Syphilis man vergeblich als Militärkrankheitsfall der Armee zu überwälzen versucht. Bemerkenswert bleibt, dass keine Arzt- oder Spitalrechnung vorliegt, die eine Behandlung der ebenfalls daran erkrankten Anna Maria nachweisen würde. Wahrscheinlich hat sich vorerst niemand darum gekümmert. Auch sie selbst nicht.

Dafür kümmert man sich von Behördenseite umso mehr um die Kinder. Die Amtsvormundschaft der Stadt St. Gallen empfiehlt den Nesslauern die sofortige Wegnahme der Kinder + passende Unterbringung derselben, stösst dort aber auf taube Ohren. Die Nesslauer hoffen auf eine billigere Lösung: Der Gemeinderat rapportiert über einen gemachten Besuch, demzufolge ist Looser nunmehr aus dem Spital ausgetreten u. hat wieder beständige Arbeit gefunden als Schifflisticker in Walzenhausen, wohin die Familie nun zu ziehen gedenkt. Zu hoffen ist, dass nachdem der Mannsverdienst wieder einsetzt die Gemeinde, wenn nicht ganz so doch bedeutend entlastet werde. Aber auch mit Walzenhausen scheint es nicht wirklich zu klappen. Ende 1915 zieht die Familie nach Arbon. Und die Nesslauer versuchen den Umzug zu nutzen, um sich aus ihrer finanziellen Belastung zu befreien. Sitzung vom 27. Januar 1916: In etwas unverständlicher Weise berichtet die Armenpflege Arbon über die Familie Adolf Looser-Boxler Schifflisticker. Die Behörde verlangt schriftliche Gutsprache für sämtliche durch die Krankheit der Eltern oder Kinder möglicherweise entstehenden Arzt-, Verpflegungs- und Transportkosten. Der Armenpflege ist mitzuteilen, dass es dem Ehepaar Looser-Boxler wohl möglich sei die Familie selbst durchzubringen zu können und eine Garantie nicht geleistet werden könne. Der Eintrag schliesst mit einem bemerkenswerten Schlusssatz: Unsere Auffassung war nun die, die wohnörtliche Behörde wolle ein Augenmerk auf das Ehepaar halten in sittlicher Beziehung. Eine Dosis Moral also statt der nötigen Unterstützungsgelder. Und diesmal sollen die Arboner bei den Loosers die Zügel straffen, um den weiteren Absturz ins Elend zu stoppen.

Zwischen Sehnsucht und Schande

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