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5 Weggesperrt und abgeschoben

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Die Armenpflege Arbon findet keine Zeit, sich um die zugezogene Familie Looser zu kümmern. Kaum angekommen, zieht diese bereits wieder weg, zurück nach Straubenzell bei St. Gallen, wo sie schon einmal wohnte. Im Juli 1916 stellt man von dort einen Antrag auf Auflösung der Familie, wie aus den Nesslauer Protokollen zu erfahren ist. Die Verhältnisse in Sachen Familie Looser-Boxler scheinen immer bedenklicher zu werden. Das Waisenamt Straubenzell verfügt Auflösung der Familie indem die Kinder wegen der Unsittlichkeit der Mutter gefährdet seien. 2 Kinder versorgt bei der Grossmutter Frau Bauer seien zu Handen zu nehmen, die Mutter Frau Looser-Boxler sei polizeilich einzuliefern. Gdrat. Bösch B. wird beauftragt die Sache zu prüfen u. an nächster Sitzung darüber zu rapportieren. Zwei Wochen später berichtet Gemeinderat Bösch, dass er die Familie gar nicht mehr gefunden habe, dass die Frau bereits nach Zürich ausgezogen sei. Offenbar ist Anna Maria mit einem Teil der Kinder ihrem Mann nachgereist, der in der Industriestadt Zürich Arbeit und an der Rössligasse eine neue Bleibe gefunden hat. Adolf Looser scheint von der drohenden Auflösung der Familie zu wissen und versucht die weitere Fremdplatzierung seiner Kinder zu verhindern. Nun stellt Looser wie früher schon wiederholt das Gesuch es müsste die Heimatgemeinde verfügen, dass die Familie beieinander bleiben könne. Die Nesslauer geben der Familie aus Kostengründen eine weitere Chance. Noch einmal wird dem Gesuch des Vater Looser entsprochen, wobei eben die Kostenfrage der Kinderversorgung das Schwergewicht bildet, notieren sie und verbinden die Zusage mit einer verstärkten Kontrolle durch die Armenbehörde.

Der Neustart in Zürich ist von kurzer Dauer. Anna Maria wird wegen Unterschlagung und Diebstahl polizeilich gesucht und im August 1916 in Zürich verhaftet. Man liefert sie nach St. Gallen aus. Im Gerichtsurteil kann der Enkel die neuen Straftaten seiner Grossmutter detailliert nachlesen.

Drei Jahre war es her, da hatte Anna Maria, wie früher schon erwähnt, sich eine Nähmaschine angeschafft, eine «Singer», auf Abzahlung, unter registriertem Eigentumsvorbehalt, wie dies in der Juristensprache heisst. Kaufpreis 240 Franken, monatliche Rate sechs Franken, nach gut drei Jahren Abzahlung hätte die Maschine ihr gehört. Die Rechnung ging leider nicht auf. Statt schönem Nebenverdienst und eigener Maschine stand Anna Maria das Wasser derart bis zum Hals, dass sie – Restschuld hin oder her – die Maschine in jenem Sommer verkaufte. Offenbar wurde sie auch dabei von jemandem verpfiffen. Der hiesige Vertreter der Singer Cie erhielt hievon Kenntnis und hat Strafklage gestellt, hält die Gerichtsakte fest.

Die zweite Unterschlagung ist ebenfalls ein nicht legaler Verkauf. Das Ehepaar Looser hatte von einem Bekannten zwei Betten, zwei Kasten und ein Tischchen ausgeliehen. Als sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, hat Anna Maria die Schränke und das Bett versetzt. Und bei der dritten Straftat geht es um den Diebstahl eines kupfernen Wasserschiffdeckels im Wert von zehn Franken. Den hat Anna Maria aus ihrer Mietwohnung entwendet und für zwei Franken dem Altwarenhändler Aschkenas verkauft. Sie hat sich damit eines Diebstahls schuldig gemacht, welcher als qualifizierter bezeichnet werden muss, da die Angeklagte als Mieterin zu dem Aufbewahrungsort des Diebstahlobjekts Zutritt hatte, notiert der Gerichtsschreiber dazu.

Anna Maria verteidigt sich vor Gericht wiederum selbst. Sie gibt sich zurückhaltend. Der Geschichte mit der verkauften Nähmaschine hat sie nichts beizufügen. Bei den verkauften Möbeln versucht sie es mit ein paar unbeholfenen Ausreden – einer der Kasten sei beim Umzug in die Brüche gegangen, und zudem habe sie diese inzwischen rechtmässig gekauft –, doch man glaubt ihr nicht. Auch den Diebstahl des kupfernen Deckels gibt sie fraglos zu. Sie hofft einzig auf mildernde Umstände: Die Angeklagte, deren Ehemann längere Zeit im ( freiwilligen) Militärdienst weilte, sucht die sämtlichen Begangenschaften mit ihrer Notlage zu entschuldigen. Um ihr Argument zu unterlegen, hat sie sich einen speziellen Auftritt ausgedacht: Sie hatte allerdings sechs Kinder bei sich. Ein starkes Stück. Insbesondere da sie vor dem Prozess in der Untersuchungshaft steckt und den kleinen Coup von dort aus organisieren muss. Offenbar sind alle gekommen. Maria, mit ihren zwölf Jahren die Älteste, dann Emma und Klara und die drei Brüder Adolf, Fritz und der zweijährige Hans. Zusammen mit ihnen stellt sie sich vor die Richter, eine verzweifelte Mutter Courage, und pocht auf etwas Milde. Ohne Erfolg. Denn es lautet die amtlich und privat über sie erteilte Auskunft äusserst schlecht.

Am meisten mag den Richtern aufgestossen sein, dass sich die sechsfache Mutter während der langen militärbedingten Abwesenheiten ihres Mannes einen neuen Liebhaber gesucht hat. Die wegen versuchter Fruchtabtreibung und wegen Gewerbsunzucht vorbestrafte Person hat die militärische Notunterstützung in Hauptsachen dazu verwendet, einen übel beleumdeten, ledigen Schlosser, Julius Müller, zu verhalten, mit dem sie in Abwesenheit ihres Mannes ein Liebesverhältnisse hatte. Julius Müller, ein Handwerker aus St. Gallen, war damals als ihr Zimmerherr in das Leben der Anna Maria Boxler gekommen. Offenbar hatte Anna Maria als Zusatzverdienst ein Bett in ihrer Wohnung ausgemietet, eine damals in ihrem Stand verbreitete Praxis. Dadurch hat sie den schlagfertigen jungen Mann kennengelernt, der ihr offenbar gefiel, er wurde ihr Geliebter und – Jahre später dann – ihr zweiter Ehemann. Die beiden haben ihre Liebschaft nie geleugnet. Ob Anna Maria aber so sorglos ihr Nothilfegeld mit ihm verprasste und die Kinder darben liess, wie die Richter ihr hier im Urteil unterschieben, verdient seine Zweifel. Auffällig ist jedenfalls, dass entsprechende Beweise entgegen der sonst üblichen Ausführlichkeit des Urteils fehlen.

Sie wird also für schuldig erklärt und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Beim Eintritt in das Kantonale Strafgefängnis St. Jakob in St. Gallen trägt man sie unter der Stammnummer 3397 als Nachstickerin ein, während der Haft arbeitet sie als Näherin, ihr Verhalten sei angehend, hält das Kontrollblatt fest. Weiter stellt man bei der Inhaftierten eine Anämie fest. Diese Blutarmut als Folge von Vitamin- und Eisenmangel war in ihren Kreisen, vor allem bei den Frauen und Kindern, verbreitet. Zudem war Anna Maria bei Strafantritt im fünften Monat schwanger. Dieses Kind muss sie während ihrer Gefangenschaft verloren haben. Denn als sie Anfang Dezember entlassen wird, findet man weder auf ihrer Stammkarte noch auf dem Einwohneramt ein weiteres Kind registriert.

Anna Maria kehrt nicht mehr zu ihrem Mann zurück. Ihre erneute Verhaftung und wohl auch die Liebschaft mit Julius haben das Ehepaar endgültig auseinandergebracht. Adolf, der in Zürich geblieben ist und bei Hefti und Co. Arbeit als Schlosser gefunden hat, hat erst noch auf Versöhnung gehofft, doch dann gibt er es auf, schreibt nicht weiter Gesuche mit der Bitte, die Familie zusammen zu belassen. Er hat genug: Zu wiederholten Malen beklagt sich Adolf Looser-Boxler über das Verhalten seiner aus der Strafanstalt St. Gallen entlassenen Frau. Durch das Gemeindeamt wurde bereits Einlieferungsbegehren gestellt u. es ist nun abzuwarten was in Sachen geschieht, notiert man in seinem Bürgerort.

Wo Anna Maria, die nun getrennt von ihrem Ehemann Lebende, sich in den nächsten Monaten aufhält, ist nicht eindeutig festzulegen. Für einmal widersprechen sich die Quellen. Folgt man den Nesslauer Protokollen, führt das erwähnte Einlieferungsbegehren zu einer zwischenzeitlichen Versorgung der Strafentlassenen, vermutlich in der gemeindeeigenen Armenanstalt. Im Niederlassungsbuch der Stadt St. Gallen jedoch wird sie als von Zürich kommende Zuzügerin eingetragen, die bis Mitte August in Untermiete bei einer Frau Seraphia B. lebt und dann mit unbekanntem Zielort, also eventuell Nesslau, abgeschoben wird. Und in der dritten Variante, die der Enkel in einem der Gerichtsurteile findet, heisst es, sie habe sich direkt in St. Gallen bei der verwitweten Wäscherin Seraphia B. als Untermieterin eingeschrieben und sei dort ein Dreivierteljahr geblieben. Für die drei Monate danach allerdings finden sich auch hier keine Angaben. Anna Maria hat den festen Tritt verloren und die Behörden ihre genaue Spur. Bis sie dann am Nikolaustag 1917 erneut verhaftet wird.

Nach zwei Monaten Untersuchungshaft – die Ermittlungen haben offenbar gedauert – ist dann Gerichtstag. Wieder beim St. Galler Bezirksgericht. Man kennt sich. Einzig Herr Dr. Bärlocher ist neu unter den schwarzen Roben. Und sie, Anna Maria, steht diesmal nicht allein, sondern in einer ganzen Reihe von Mitangeklagten vor den Richtern.

Im Fokus der Anklage steht wiederum → Abtreibung. Die in den Fall verwickelten sechs Angeklagten sind mehr oder weniger Habenichtse, ihr Hilf-dir-selbst-Versuch im Kampf gegen Fruchtbarkeit ist ein Trauerspiel in bester Armeleute-Besetzung. Da ist der Handelsreisende Peter H., der wegen vollendeter Abtreibung und Gehilfenschaft bereits früher zwanzig Monate Zuchthaus abgesessen hat und es noch immer nicht lassen kann, Frauen in Not bei Bedarf mit Haselwurzpillen und Scheidenspülungen behilflich zu sein und dabei auch ein bisschen zu verdienen; da ist die Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal» an der Schwertgasse, die als Vermittlerin zwischen dem Engelmacher Peter H. und den Frauen gewirkt haben soll und sich wegen fortgesetzter Gehilfenschaft zur versuchten & vollendeten Fruchtabtreibung zu verantworten hat; weiter stünde da Taglöhner Eduard T., der wegen fortgesetzter einfacher Unzucht ( → Unzucht) angeklagt ist, vor den Richtern, denn schliesslich hat er mit ausserehelichem Geschlechtsverkehr eine 25-jährige Kellnerin geschwängert; der jedoch ist längst über alle Berge, über ihn wird in Abwesenheit verhandelt. Und schliesslich steht vor Gericht die uns schon bekannte Zimmerwirtin Seraphia B., die gewusst haben soll, dass ihre Untermieterin Anna Maria Boxler regelmässig Besuch empfängt von ihrem Geliebten. Sie als Vermieterin wird der fortgesetzten einfachen Kuppelei verdächtigt, weil sie solch ungesetzliches Tun unter ihrem Dach wissentlich duldete. Ein Vergehen, das man ihr übrigens fraglos zutraut, es wäre nicht das erste Mal, wie die Richter wissen.

Und schliesslich stehen als Hauptangeklagte zwei abtreibende Frauen vor Gericht. Die eine heisst Helene J. aus La Chaux-de-Fonds, eine ledige Dienstmagd, die früher als Kellnerin bei der Schöntal-Wirtin arbeitete, dort den Hausierer H. kennenlernte und sich von ihm Pillen geben liess, um ihre ungewollte Schwangerschaft – die Folge einer Liebschaft mit dem Taglöhner Eduard T. – abzubrechen. Und die zweite Angeklagte ist die sechsfache Mutter Anna Maria Looser-Boxler, die sich ebenfalls von diesem Hochstrasser hat helfen lassen – und diesmal, nicht wie sieben Jahre zuvor, sogar Erfolg hatte in ihrem Bemühen.

Die Angeklagte Anna Maria gibt gleich alles zu, erzählt, dass sie im September vorigen Jahres im 3. Monat schwanger war, dass sie von ihrem Geliebten Müller erfahren habe, dass Hausierer H. in solchen Fällen zu helfen wisse, dass sie diesen im Restaurant Schöntal getroffen und sich von ihm Haselwurzpillen geben lassen habe, dass diese nicht geholfen hätten und er sie dann in seine Wohnung kommen liess und mit einer Scheideneinspritzung den Abort auszulösen vermochte. Anna Maria hat aus ihrer früheren Erfahrung gelernt: keine Ausreden mehr, ein klares Eingeständnis ohne Wenn und Aber. Nicht so ihr Helfer. Dieser versucht sich herauszureden, provoziert damit allerdings bloss die Verlängerung der demütigenden Befragung. Es werden Details ans Licht gezerrt, die für Anna Maria beschämend sein müssen. Dass das Blut bereits aus der Scheide geflossen sei vor Einsetzen der Manipulation, behauptet ihr Gehilfe, allerdings ohne ihn entlastenden Erfolg. Die Recht sprechenden Männer scheinen sich in der Sache auszukennen und wissen, selbst wenn die Frucht sich bereits vorher losgelöst habe, könne ja die Ablösung der Frucht sehr wohl die Folge des Einnehmens der ebenfalls von Peter H. gelieferten Haselwurzpillen sein. Zudem sei die Vornahme der Einspritzung als vollendet anzusehen. […]

Kurz, Peter H. bleibt glücklos mit seinen Ausreden. Und obwohl ihm nur Beihilfe in zwei Fällen nachgewiesen werden kann und er von keiner der beiden Frauen je Geld bekommen hat, wie er behauptet, wird er der fortgesetzten Gehilfenschaft zur versuchten Fruchtabtreibung sowie der vollendeten Fruchtabtreibung i. Rückfall schuldig erklärt und mit acht Monaten Arbeitshaus bestraft. Eine harte Strafe, härter noch als die, die die beiden Abtreiberinnen verpasst bekommen.

Helene, die Kellnerin, 26-jährig – inzwischen hochschwanger, weil die Abtreibung misslang –, vorgängig bereits verurteilt wegen fortgesetzter einfacher Unzucht, also wegen jenem Sexualverkehr, der zu dieser Schwangerschaft führte, wird ebenfalls schuldig gesprochen. Auch sie hat zugegeben, einen Teil der 24 Pillen geschluckt zu haben, bevor sie wegen starken Bauchschmerzen und Ängsten vor Gesundheitsschäden damit wieder aufgehört hat. Ihre Strafe beträgt hundert Franken Busse und ein paar Franken noch dazu, weil sie dem Prozess unentschuldigt ferngeblieben ist. Für die möglichen Gründe ihres Fernbleibens interessiert sich keiner. Dafür, dass sie mit ihrem Kind im Bauch längst heimgekehrt ist nach La Chaux-de-Fonds oder dass die Reise nach St. Gallen sie zwei Arbeitstage, eine Übernachtung und das Reisegeld, kurz ein kleines Vermögen, gekostet hätte. Und zudem ist sie jetzt im neunten Monat schwanger. Gut möglich, dass sie, während die Richter den Stab über sie brechen, just in den Wehen liegt.

Schuldig gesprochen wird auch Anna Marias Zimmerwirtin Seraphia B. Die Duldung eines illegalen Liebesverhältnisses unter ihrem Dach scheint erwiesen und wird ihr als Kuppelei angelastet. Zur Sicherung der Beweislage hat die Polizei vorgängig ihre Wohnung inspiziert. Eine polizeiliche Selbstverständlichkeit in der damaligen Zeit mit Konkubinatsverbot und rigidem Sexualstrafrecht. Um in das Zimmer der Looser zu gelangen, musste das von Frau B. bewohnte Zimmer passiert werden, was kaum unbemerkt geschehen konnte, argumentieren die Richter. Weiter kommt für diese belastend hinzu, dass die Looser und Müller übereinstimmend und unabhängig von einander deponiert haben, dass Müller während der erwähnten Zeit öfters und mit Wissen der Vermieterin bei der Looser genächtigt habe. Seraphia B. bestreitet ihre Schuld. Ohne Erfolg. Im Gegenteil. Die Richter wittern gar gewerbsmässige Kuppelei, sehen sie als Bordellbetreiberin. Allerdings können sie die vermuteten ökonomischen Vorteile der Seraphia B. aus ihrer Duldung nicht nachweisen. Seraphia B. kommt mit dreissig Franken Geldbusse davon.

Auch Anna Maria Boxler wird – wie zu erwarten war – gemäss Anklage verurteilt: Die Angeklagte Looser wird der versuchten und der vollendeten Fruchtabtreibung im Rückfall sowie der fortgesetzten einfachen Unzucht im Rückfall schuldig erklärt und zu vier Monaten Arbeitshaus verurteilt. In ihrem Fall ist für das Verfahren selbstredend, was straferschwerend noch alles mit aufgeführt wird, nämlich ihre sämtlichen Vorstrafen: Gravierend ist eine rückfallbegründende Vorstrafe, wegen Fruchtabtreibungsversuch, vom Jahr 1911; zwei weitere Vorstrafen, wegen Gewerbsunzucht und wegen fortgesetzter Unterschlagung & Diebstahl. Zudem missfällt den Richtern die Autonomie, die sich im Nein von Anna Maria zu einem weiteren Kind verbirgt. Endlich ist zu sagen, dass es durchaus keiner Überredung oder sonstigen ernstlichen Beeinflussung bedurft hat, um die Looser zu ihrem Ersuchen an H. zu veranlassen; insbesondere ist nicht erhoben, dass der Liebhaber der Looser, Julius Müller, in diesem Sinne auf sie eingewirkt hätte, er hat ihr gegenteils noch Vorwürfe gemacht. Sie hat also nicht unter dem Druck eines aufgeschreckten Kindsvaters abgetrieben, sondern in der eigenwilligen Regie einer widerborstigen Frau, die sich gar gegen die Wünsche ihres Liebhabers durchzusetzen weiss. Kein Grund für einen strafmildernden Bonus. Schon gar nicht für eine, die ihren moralischen Kredit längst verspielt hat.

Die vergleichende Lektüre der Gerichtsakten zeigt, wie der Enkel feststellt, dass die Behörden ihren deutenden Blick auf das Verhalten der straffälligen Anna Maria immer mehr verändern. Wurde früher die Armut als Ursache ihres Fehlverhaltens zumindest noch erwähnt und mit bedacht, wird neuerdings mehr grundsätzlich qualifiziert, wird immer häufiger von «Minderwertigkeit» und «Geringwertigkeit» der Angeklagten gesprochen. Anna Maria wird zunehmend zu einem Menschen zweiter Klasse mit charakterlichen Mängeln, die auch biologisch begründet sind. Da sickert ganz langsam eugenisches Denken ( → Eugenik), seit Beginn des Jahrhunderts von Medizinern vorangetrieben, in die Köpfe der Justiz und Behörden. Abweichendes Verhalten wird genetisch verankert, das entsprechende Erbgut ist minderwertig, es gilt, dessen Weitergabe zu verhindern. Diese Denkart findet sich nun vermehrt auch in der behördlichen Wahrnehmung der Straftäterin Anna Maria. Zum Beispiel bei der Bemessung der Schuld des Abtreibungshelfers Peter H.: Die Richter erwägen für ihn eine Strafmilderung, weil seine Hilfe eine sittlich so tief stehende Person wie die Looser betrifft. Im Klartext heisst dies, dass nicht jeder Fötus gleichwertig ist und man auf den Nachwuchs, wie ihn eine Anna Maria Boxler hervorbringt, nur zu gerne verzichtet hätte.

Es gibt im selben Urteil noch eine kleine Geschichte, die dasselbe Denkmuster entlarvt. Es geht um eine seltsam anrührende Sonderbarkeit im Verhalten von Anna Maria, die selbst ihren Enkel irritiert. Seine Grossmutter hat nämlich den abgetriebenen Fötus nicht einfach weggeworfen, etwa ins Plumpsklo gespült oder im Ofen verbrannt, sondern sie hat die abgegangene Leibesfrucht in einem Papier aufbewahrt, mit sich herumgetragen und dieselbe verschiedenen Personen vorgezeigt. Für die Herren Richter war dieses Verhalten ein einziger widerwärtiger Beweis ihrer verkommenen Abartigkeit. Weitere Nachfragen waren für sie nicht nötig. Das Verdikt des sittlichen Mangels ersetzte jede andere Interpretation.

Der Enkel erzählt seiner Frau vom merkwürdigen Verhalten seiner Grossmutter, und abends, bei einem Glas Wein zu Hause auf der Couch, suchen sie nach möglichen Erklärungen. Man kann das eigentümliche Konservieren und Mittragen eines abgetriebenen Fötus ja auch ganz anders lesen denn als Ausdruck biologischer Dekadenz. Mag sein, dass die sechsfache Mutter und in Fehlgeburten Erfahrene sich tatsächlich freute an diesem kleinen Sieg über ihre inzwischen lästige Fruchtbarkeit, der sie seit fünfzehn Jahren, seit ihrer Heirat, schutzlos ausgeliefert ist und die sie in den Würgegriff brutaler Armut trieb. Mag sogar sein, dass sie im privaten Kreis ein wenig triumphierte, weil es ihr diesmal gelungen war, den unerwünschten Kindersegen, dem sie durch ihr eigenes Begehren und noch weit mehr durch jenes ihrer Männer unterworfen war, für einmal zu stoppen. Es kann aber auch sein, und das scheint mit Blick auf spätere Quellen sogar wahrscheinlicher, dass der in Papier gewickelte Fötus ein Fetisch der Trauer war. Gehütet von einer Mutter, die wider ihren Willen von all ihren Kindern getrennt lebte und die, so sehr sie sich ein neues Kind von ihrem neuen Geliebten auch wünschen mochte, keinen andern Weg sah, als sich von diesem Kind, das da in ihrem Bauch zu werden begann, wieder zu trennen. Zu verfahren war dieses Leben, zu aussichtslos die Situation, zu gross die Gefahr, dass ihr auch dieses Kind wieder genommen werde. Zu düster also ihre Vorahnungen, zu realistisch und hellsichtig, wie die Geschichte ihr noch bestätigen wird. Der tote Fötus also als Teil eines ganz privaten Rituals von Abschied und Trauer, von einer, der man Gefühle, und schon gar nicht solche, gar nicht mehr zugesteht.

Zurück zum Prozess im St. Galler Bezirksgericht. Denn es lohnt sich, hier noch einen Blick auf den einzigen Freispruch in diesem Sammelprozess zu werfen. Auch er ist ein interessantes Zeugnis für diskrete Eugenik im juristischen Betrieb. Freigesprochen wird Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal». Sie ist, wie bereits vermerkt, wegen fortgesetzter Gehilfenschaft angeklagt. Man kann es sich gut vorstellen: Im Schutz ihres Wirtshauses an der Schwertgasse wird logiert und gearbeitet, werden Bekanntschaften gemacht, Informationen ausgetauscht, Medikamente verkauft. Am Stammtisch sitzt zuverlässig der stadtbekannte Engelmacher Peter H., alle wissen Bescheid, auch die Wirtin, das versteht sich von selbst. So beschreiben es die Mitangeklagten, es leuchtet ein, auch den Herren Richtern: Es kann als sehr unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass der Wirtin von der Schwangerschaftsbeseitigung bzw. dem Plane hiezu nichts bekannt war, zumal nicht nur die J., sondern vorübergehend auch die Looser im Hause zum «Schöntal» Aufnahme fand. Die Mitangeklagten, die gleichzeitig auch Zeugen sind, belasten die Wirtin weiter: Sie habe nicht nur gewusst, sondern auch vermittelt und aktiviert, habe also an den Süppchen mitgekocht und so natürlich auch Kundschaft ins Wirtshaus geholt. Auch diese Aussagen werden zu Protokoll genommen. Doch im Gegensatz zu vorher verlieren sie nun plötzlich ihre Glaubwürdigkeit. Die Looser ist eine verkommene Person, auch die J. weist nach den polizeilichen Berichten keinen guten Leumund auf, ebenso kann dem als Zeugen befragten Liebhaber der Looser, Julius Müller, nicht die Qualität eines vollwertigen Zeugen zuerkannt werden. Eine bemerkenswerte Wende. Personen, die eben noch als rechtsgültige Zeugen vernommen wurden, sind in ihrer Integrität plötzlich fragwürdig, gelten nicht mehr als ernst zu nehmende Zeugen. Ein willfähriger, schroffer Wechsel, in ein und demselben Prozess, in klarer Absicht: Es fehlt angesichts der offenbaren Geringwertigkeit der Belastungszeugen an einem rechtsgenüglichen Beweise […], denn ausser dem als minderwertig bezeichneten Beweismaterial, den Aussagen Looser, J. und Müller, sind Belastungsmomente nicht vorhanden. Was nichts anderes bedeutet, als dass Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal», freigesprochen werden muss.

Aber warum gerade sie, grübelt der Enkel, warum diese fast schon schamlose Willkür, wenn es um die Wirtin geht? Vielleicht hat einer der Richter noch eine kleine Zeche offen bei ihr, fantasiert er vor sich hin, vielleicht gibt es gar eine kleine geheime Liaison, was weiss man schon. Später, zu Hause, beim Wiederlesen des Urteils, entdeckt er den klärenden Schlüssel. Da steht es ja, vorne, ganz am Schluss des mit Staatswappen und Ornamenten geschmückten Rubrums des Urteils, nach der Auflistung der Namen der Richter und der Angeklagten mit ihren Delikten, da steht neben der Rosa Sch., gleichmütig dazugesetzt, sowie des Verteidigers von Frau Sch., Dr. A. Kaier, St. Gallen. Die Wirtin hat also als einzige der Angeklagten einen Anwalt in die Verhandlung gebracht, einen, der ihr professionell zur Seite steht in der Beteuerung ihrer Unschuld. Das klärt die Sache, denkt sich der Enkel, da hat einer gute Arbeit geleistet, der Einsatz hat sich gelohnt, die Rechnung ist, zumindest für die Wirtin, aufgegangen.

Ob die fünf andern, die Verurteilten, das kleine Ränkespiel bemerkt haben, weiss man nicht. Dass ihr Wort nicht viel gilt, dass das Recht kaum je auf ihrer Seite steht, ist ja nicht neu in ihrem Leben. Und so ist denn ihr Interesse am Wortlaut des Urteils gering, sie verzichten allesamt auf die offizielle Zustellung der schriftlichen Fassung. Und Anna Maria ist vielleicht einfach nur erleichtert, dass die Strafe nicht höher ausfällt und dass sie nicht ins Zuchthaus, sondern «nur» ins Arbeitshaus weggesperrt wird. Dort ist das Haftregiment nämlich ein bisschen weniger hart.

Bei Eintritt in die Anstalt wird im Stammbuch nebst dem unauslöschbaren Vermerk ihrer illegitimen Herkunft noch immer eine Anämie festgehalten. Diese ist also noch nicht ausgeheilt. Weiter erfährt man, dass sie diesmal in die Wäscherei eingeteilt wird und dass ihr Betragen nun als mittelmässig beurteilt wird. Und – ein doch bemerkenswertes Detail – es wird klar, dass ihr die zwei Monate Untersuchungshaft, die sie bis zum Prozess schon abgesessen hat, nicht, wie man erwarten würde, angerechnet werden. Erst auf den Tag genau vier Monate nach offiziellem Strafantritt wird sie wieder entlassen.

Die nächsten Monate sind erneut eine Zeit des unsteten Wanderns ohne festen Wohnsitz. In St. Gallen notiert man auf der Meldekarte am Rand, sie sei nach Winden bei Häggenschwil abgeschoben worden. Was sie gerade dort, im kleinen Kaff an der Kantonsgrenze, gemacht haben soll, bleibt unklar. Einen Monat später kommt sie zurück nach St. Gallen, wird wenig später in ihren Bürgerort heimgeschafft, landet vermutlich in der Armenanstalt, was Arbeitszwang, Aufsicht und Verlust jeder Autonomie bedeutet.

Lange hat sie es dort nicht ausgehalten. Jedenfalls wird sie bald danach wieder in St. Gallen registriert, an der Kirchgasse, bei ihrem Julius. Und sie hat gute Gründe, sich für die nächste Zeit ein Nest zu suchen. Sie ist wieder schwanger und gebiert – just neun Monate nach ihrer Haftentlassung – am 23. Februar 1919 einen weiteren Sohn. Sie nennt ihn Julius nach seinem Vater. Es ist jener Julius, der ihr – das wird noch zu zeigen sein – gleich nach der Geburt weggenommen und lebenslänglich bevormundet wird und der mit seinem späten Tod dann die Suche des Enkels nach der Geschichte all dieser Verlorenen ausgelöst hat.

Im Oktober desselben Jahres wird Anna Maria erneut arretiert. Die Richter ermitteln wegen Urkundenfälschung und Kuppelei. Diesmal lesen sich die Geschichten dazu wie Fragmente einer Dorfposse. Unterwegs mit ihrem Liebhaber Julius und dem Spinnereiarbeiter Karl C. trifft Anna Maria in der Wirtschaft zum Wolf eine gemeinsame Bekannte. Sie animiert Karl dazu, ihrer Kollegin Benedikta einen auszugeben. Dann gehen sie zu dritt auf eine kleine Beizentour, genehmigen sich im «Gallushof» ein spätes Mahl, für die Nacht besorgt Anna Maria den beiden ein Hotelzimmer. Die polizeiliche Meldekarte erzwingt bei der geltenden Rigidität einen kleinen Schwindel. Aus der Benedikta wird eine Toni, der Karl bleibt ein Karl, und als Paar heissen die beiden Tiroler. Anna Maria begleitet die zwei auf ihr Zimmer und geht dann nach Hause. In jener Nacht hat das Tiroler-Paar Sex miteinander, wie sie später, vor Gericht, auch freimütig zugeben.

Für diese kleine Mogelei bezahlt Anna Maria also wieder mit Haft hinter Gittern. Wegen der falschen Namen. Und wegen Kuppelei. Der Kollegin Benedikta wird nämlich nachgesagt, dass sie eine Dirne sei. Es ist also nicht ganz auszuschliessen, dass Anna Maria einer Prostituierten, die dringend Kundschaft brauchte, einen Freier zugehalten hat. Vielleicht war ihr Verbrechen jedoch weit harmloser, ein Freundschaftsdienst für zwei, die sich begehrten und keinen passenden Ort finden konnten für ihr Vergnügen. Jedenfalls müssen die Richter ihren Verdacht, dass Benedikta sich gegen Entgelt hingegeben hat, mangels Beweisen wieder fallen lassen. Das aber ändert nichts an der Schuld von Anna Maria: Sie hat den beiden zur → Unzucht verholfen und erfüllt damit den Tatbestand der Kuppelei.

Auffällig in dieser Geschichte ist, wie dünn das Urteil daherkommt, knappe drei beschriebene Bogen mit nur kurzer Befragung zum Tathergang. Urteile und Strafmasse stützen sich diesmal vor allem auf die Vergangenheit, auf die Liste früherer Straftaten und auf den ramponierten Ruf. Die Angeklagte W., die bereits sieben Mal wegen Unzucht vorbestraft ist und als Dirne gilt, ist wegen Unzucht im Rückfall zu bestrafen. […] Bei beiden Angeklagten handelt es sich um wiederholt vorbestrafte und sittlich völlig verkommene Personen, denen nur durch eine ganz empfindliche Strafe beizukommen ist. Übersetzt in die Einheit von Strafmassen heisst dies zwei Monate Zuchthaus für Benedikta W. – bei ihr kommt zur Unzucht noch Ungehorsam im Rückfalle dazu, weil sie früher für zehn Jahre aus St. Gallen verwiesen worden war – und drei Monate für die Angeklagte Looser-Boxler.

Eigentlich könnte Anna Maria Mitte Januar das Gefängnis verlassen und sich, was sie nur zu gerne möchte, um ihren nun fast einjährigen Julius kümmern. Doch dazu kommt es nicht. Wenige Tage nach dem Prozess wird sie – als Gefangene – erneut den Richtern vorgeführt. Denn diese haben noch eine Rechnung offen mit ihr: ihr illegales Liebesleben mit dem um fast zehn Jahre jüngeren Müller, mit dem sie nun schon seit vier Jahren zusammen ist. Eigentlich wurden die beiden dafür schon einmal gerichtlich gemassregelt. Doch das reicht den Gesetzeshütern nicht. Obwohl sie die Konstanz der Beziehung kennen und über die Existenz des gemeinsamen Sohnes und ihre Heiratspläne informiert sind, wird weiter gerichtet und bestraft. Seit der Geburt des Kindes nun haben die beiden wieder mehrmals miteinander geschlechtlich verkehrt, und zwar sowohl auf dem Zimmer des Müllers wie auch auf demjenigen der Looser. Die Angeklagten sind geständig; die Tatumstände sind abgeklärt.

Die Klärungen der Tatumstände durch die richterlichen Herren will man als Nachgeborener lieber nicht so genau wissen. Jedoch versucht der Enkel vergeblich den inneren Film zu stoppen, in dem seine Grossmutter vorgeführt wird, in ihrer Haftschürze oder ihrem Wäschekittel, vor den schwarz gewandeten Männern, und zu ihrem Liebesleben Auskunft geben soll. Wie sie gequält wird von Fragen, die wohl eher der Lüsternheit der fragenden Herren zudienen. Er sieht sie in ihrer Anklagebank, zusammen mit Julius, der, in derselben Sache angeklagt, auf der andern Seite des Saals platziert wurde und den sie vermutlich seit Beginn ihrer Haftstrafe gar nicht mehr gesehen hat. Ob sie sich schämte bei dieser Befragung, sinniert der Enkel, ob sie brannte vor Wut oder ob sie sich erloschen in sich zurückzog und gleichgültig ihre Antworten herunterleierte, als ob das alles nichts mit ihr zu tun hätte, wird er nie wissen. Jedenfalls ist er erleichtert, als er später entdeckt, dass Julius gar nicht da war, dass der übel beleumdete Müller es vorgezogen hatte, gar nicht erst vor Gericht zu erscheinen. Für Julius, den Widerspenstigen – das war er schon damals –, war dies vielleicht ein Akt der Würde. Und für Anna Maria eine kleine Erleichterung im richterlichen Demütigungsritual.

Beide wurden sie wegen Unzucht im Rückfalle für schuldig erklärt. Für Anna Maria gab dies einen Monat Gefängnis zusätzlich und vierzig Franken Busse. Julius, der Mann, kam mit der Hälfte davon.

Zwischen Sehnsucht und Schande

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