Читать книгу Grosse Schwester Schimmel - Lise Gast - Страница 4
I
ОглавлениеEigentlich hätte Schimmel mit der Bahn fahren sollen, um die beiden kleinen Zwillingsschwestern aus dem Kinderheim abzuholen und nach Hause zu bringen; nun aber saß sie auf dem Rad und rollte die Landstraße entlang. Die Mutter war zuerst mit dem Plan nicht ganz einverstanden gewesen, obwohl Schimmel ihr die Billigkeit des Radfahrens immer wieder vorgehalten hatte, schließlich aber hatte sie die Fahrt genehmigt, um ihrer großen Tochter nicht die Freude zu verderben. So würden die Zwillinge also nicht eigentlich abgeholt, sondern in Harzburg nur mit den von Schimmel gepackten Koffern in die Bahn gesetzt werden; aber weil die Bahnfahrt ohne Umsteigen möglich war, würde man die beiden Zehnjährigen schon allein nach Holdershausen reisen lassen können, und Schimmel machte eine vergnügliche Sommerfahrt.
Schimmel – eigentlich hieß das sechzehnjährige Mädchen zwar Inge, jedoch ihre weißblonden Haare hatten ihr schon als kleinem Kind den Spitznamen eingebracht, der nun seit langem ihren schönen Rufnamen völlig verdrängt hatte, sie strampelte die Landstraße entlang, bis sie Hunger bekam. An einer Straßenkreuzung setzte sie sich an den Graben und betrachtete, ein Wurstbrot kauend, die Landkarte. Ja, sie würde doch zu Uli, dem älteren Bruder im Landerziehungsheim, fahren. Eigentlich war der Umweg nur ein Katzensprung; und sie mußte über sich selbst lachen, weil sie noch zögerte; denn im Grunde war ihr Entschluß ja längst gefaßt gewesen. Zu Hause schon!
Er war zwei Jahre im Internat, der Uli; noch ehe die Mutter und die übrigen Geschwister nach dem Krieg eine rechte Heimat gefunden hatten, war er dorthin gekommen. Jetzt lebten sie in Holdershausen, der Heimat ihres gefallenen Vaters, bei den Großeltern auf dem Gut. Großvater war so lieb und gütig, und „Neuchen“ ein wahres Prachtexemplar. Obwohl sie gar nicht großmütterlich war, nicht die Spur, dabei war sie ja auch nicht die richtige Großmutter, sondern die zweite, die „neue“ Frau von Großvater, viel jünger als er und so liebenswert in ihrer rheinländischen Lebhaftigkeit! Neuchen war es auch gewesen, die Schimmel zugeredet hatte, die Zwillinge aus dem Kinderheim zu holen, damit alle Kinder, außer Uli, wieder daheim beisammen wären. Ursprünglich hatte der „Familienrat“ beschlossen, die beiden Kleinen in ein Heim zu stecken, um nicht alle Kinder auf einmal auf die armen Großeltern loszulassen. So waren bisher nur Schimmel, Brita, die mit ihren zwölf Jahren schon zu den Großen zählte, und Johannes nach Holdershausen gekommen. Johannes, der kleine Punkt, hatte sich sofort bei Großvater einen ersten Platz im Herzen gesichert. Ach, er hatte viel entbehren müssen, in den fünf Jahren seines Lebens, infolge Krieg und Hunger, durch den Verlust des Vaters. – Was würde aus ihnen allen einmal werden?
Schimmel war wieder aufgestiegen und radelte, in Gedanken versunken, der kleinen ehemaligen Herzogsstadt zu, in der Uli wohnte. Plötzlich mußte sie über ihr eigenes sorgenvolles Herz lachen. Mutter hatte schon recht: Wer keine Sorgen hat, macht sich welche. Freilich kam das wohl auch daher, daß Mutter sich vielleicht zu wenig Sorgen machte. Mutter sagte bei allem: Das wird schon gehen! – und darüber ärgerte sich Schimmel oft. Aber das war dumm, wie sie sich jetzt wieder einmal klar machte, jetzt, da sie über die trockene Landstraße dahinrollte, ohne unmittelbare Sorgen, den Geschwistern entgegen, satt gegessen und in ihrem neuen Dirndelkleid, das so hübsch geworden war mit weißen bauschigen Ärmeln und einem roten Rock, der weithin wie ein Fanal des Sommers leuchtete. Es würde schon alles gut gehen. Schließlich war sie selbst auch noch da und sie würde die Zwillinge schon im Schach halten, damit sie Neuchen und den Großvater mit ihrer Lebhaftigkeit nicht verärgerten.
Schimmel hatte ein starkes Tempo vorgelegt und fuhr am zeitigen Nachmittag in die kleine Stadt ein, fragte sich nach Ulis Schule durch und stieg an einer Straßenecke vor dem Heim der Jungen vom Rad, um sich ordentlich zu machen. Uli sollte durch seine Schwester nicht blamiert werden, sagte sie sich, als sie in den Spiegel sah. Ihr weißblondes Haar ringelte sich ein bißchen zu wild um das Gesicht. Sie versuchte, es glatt zu streichen. Ihre Backen waren jetzt nach der Fahrt rot wie Klatschmohn, leider rot und nicht braun. Schimmel gehörte zu der Sorte Menschen, deren Haut immer nur rot wird, während Uli sozusagen am ersten Sonnentag des Jahres braun wurde, haselnußbraun. Ach ja, beneidenswert war das, aber man konnte es nicht ändern, und schließlich: geradezu häßlich war sie nun auch wieder nicht. Mit sechzehn ist jeder Besen hübsch, sagte Neuchen immer. Übrigens war „Besen“ ein zu harter Ausdruck, alles was recht war.
Das Heim lag mit der Front an der Straße, aber an beiden Längsseiten zog sich ein Garten hin. Weiße Birkenstämme und Gebüsch und ein Rasen, von vielen Jungenfüßen zertreten und zerstampft. Schimmel gab sich einen Ruck und klingelte. Sie mußte sich immer überwinden, ehe sie das erstemal an einem ihr unbekannten Haus klingelte. Ein jüngerer Mann in kurzer Hose und einem Janker öffnete ihr. „Gerstenberg“, sagte er und drückte ihr die Hand so hart, daß sie die Zähne ein bißchen zusammenbeißen mußte. Dann lachte er. Schimmel nannte ihren Namen.
„Ach, das ist natürlich die Schwester von Uli Goetz! Nur herein, wir haben hier gar keine Mädel, da freuen wir uns immer, wenn eins kommt. Ich bin nämlich Ulis Klassenlehrer.“
Das war ein freundlicher Empfang. Gerstenberg rief „Uli!“ durchs Haus, daß es in dem hellen, kühlen Flur hallte, und brachte Schimmel in ein einfach eingerichtetes Besuchszimmer.
Schimmel setzte sich in einen schilfgeflochtenen Sessel und streckte ihre müden Beine lang. Nun merkte sie doch die vielen geradelten Kilometer.
Gleich darauf trat Uli ein; er mußte sich ein wenig bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen. Nein, wie unmöglich lang er war! Auch Gerstenberg, der keineswegs klein zu nennen war, wirkte neben ihm wie ein Zwerg.
„Du wächst ja immer noch“, sagte Schimmel statt einer Begrüßung ordentlich stolz. Der Bruder hatte Vaters klares, gescheites Gesicht und Mutters dichtes Haar. „Ich will Plisch und Plum heute abholen und nach Holdershausen befördern, und da habe ich einen Abstecher zu dir gemacht. Mit dem Rad, es ist doch so schön draußen!“
„Die lange Strecke mit dem Rad? Na, großartig, kleines Fräulein“, sagte Gerstenberg. „Sie wollen tatsächlich heute schon weiter? Das ist aber schade, wo doch morgen Sonntag ist und wir so viel unternehmen könnten.“
Er ließ dann die beiden Geschwister allein, die sich nun viel zu erzählen hatten. Seit ihrer frühesten Kindheit bestand ein sehr gutes Verhältnis zwischen ihnen, und Schimmel empfand die Trennung von dem Bruder oft als sehr hart. – Damit Schimmel daheim berichten konnte, wie Uli lebte, durfte sie flink einmal in seine Stube gucken: sechs Doppelbetten, zwölf Spinde, alles nüchtern und einfach; aber seine Mitschüler waren nette und frische Jungen, die alle sehr höflich grüßten, so daß sie etwas verlegen wurde.
Als Gerstenberg wiederkam, versuchte Schimmel zu erklären, warum sie weiter müsse. Sie wurde fast ein bißchen nervös, denn sie fürchtete, daß der junge Lehrer ihre eigenen Pläne über den Haufen werfen könnte. Aber sie mußte unbedingt heute noch den kleinen Harzort erreichen, wo die Zwillinge waren; es gab doch vielerlei zu packen und zu erledigen.
„Nur die Buchhandlungen hätte ich noch gern gesehen“, schloß sie ein wenig ärgerlich; „wir wohnen auf dem Lande und haben gar nichts Derartiges. Aber auch das darf nicht lange dauern!“
„Natürlich, Sie wollen in die Stadt. Weißt du, Uli, du läßt dich vom Direktor beurlauben und fährst natürlich mit. Und ich wollte sowieso nachher in die Stadt, da schließe ich mich euch an, wenn ihr damit einverstanden seid. Dann sind wir einmal ganz furchtbar leichtsinnig. Vielleicht nehmen wir auch eine Konditorei mit?“ Es war ihm nicht zu widerstehen. Schimmel mußte sich fügen. Als die beiden dann vom Direktor zurückkamen, hatte nicht nur Uli sich seinen Urlaub erfochten, sondern auch Gerstenberg. Mit dem strahlendsten Lächeln verkündete er: „Wissen Sie was? Wir haben uns beide bis morgen abend frei geben lassen. Das Wetter ist schön, wir alle sind so jung, da fahren wir mit in den Harz. – Aber erst genießen wir die Großstadt. Ja, das müssen wir, wo doch gerade der Erste gewesen ist!“
Schnell hatten die Männer ihre Sachen zusammengesucht, und dann radelten sie zu dritt der Stadt zu.
„Ich werde Buchhändlerin, jedenfalls ist das mein größter Wunsch“, erzählte Schimmel, als sie vor dem ersten Buchladen abstiegen; „deshalb will ich auch unbedingt das Abitur machen.“ Sie traten in den Laden, und Schimmel war für eine Viertelstunde für die anderen verloren. Was gibt es Schöneres, als in Büchern zu kramen, Titel zu lesen und Zeitschriften durchzusehen? Wahrscheinlich hätte sie den ganzen Nachmittag so verbracht, wenn die beiden Männer nicht erst sanft, dann dringlicher gemahnt hätten. Gerstenberg kaufte eine Harzkarte, Schimmel verließ den Laden hochbeglückt, sie hatte auch Verschiedenes bestellt. „Für Weihnachten“, sagte sie und verstand nicht, daß die beiden anderen laut lachten: Im Juni Weihnachtsbesorgungen! „Aber wir sind eine große Familie, da muß man zeitig anfangen“, sagte sie halb entschuldigend, halb verlegen; „jeder muß doch ein Buch haben, das ist bei uns so üblich.“
Während die Geschwister sich in einem Café stärkten, erledigte Gerstenberg geschwind seine Besorgungen. Und dann machten sie sich gemeinsam auf die Fahrt.
Schimmel war froh, daß die beiden mitfuhren. Nun brauchte sie sich nicht vor den fremden Schwestern zu fürchten, bei denen die Kleinen vier Wochen verbracht hatten. Munter ging die Unterhaltung von Rad zu Rad. „Wo gehen Sie in die Schule“, fragte Gerstenberg.
„Augenblicklich gar nicht; aber ich hoffe, ich komme nach den großen Ferien wieder rein, wenn auch bei uns die Gelegenheit sehr ungünstig ist.“ Sie schilderte ihren Wohnort, das einsame, wunderschön gelegene Gut Holdershausen, fünf Kilometer von der Kreisstation entfernt, und diese wieder zehn Kilometer von der Kreisstadt, in der die höhere Schule war. Gerstenberg hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts weiter, und so fuhren sie manchen Kilometer dahin, sich nur ab und zu einmal ein fröhliches Wort zurufend. Die Sonne brannte jetzt, die Landschaft wurde hügeliger, und manchesmal mußten die drei von den Rädern absteigen und schieben. Aber schön war’s dann wieder, wenn man mit Freilauf bergab rollen konnte. Als sie sich für eine Weile im Gras lagerten, um ein bißchen zu verschnaufen – weit ging der Blick über das Land dahin, über Felder und Wiesen, über Dörfer, die mit ihren leuchtenden Farben so friedlich dalagen –, da nahm Gerstenberg das frühere Gespräch wieder auf: „In Harzburg ist ein ähnliches Heim wie unseres, für Mädel, sozusagen ein Schwesterunternehmen. Dort könnten Sie doch hin, wenn Sie gut in der Schule sind. Vielleicht bekommen Sie auch – wie so viele Schüler heutzutage – eine Ermäßigung, besonders da Uli ja auch auf die höhere Schule geht. Ein solches Internat ist ja nicht mehr so wie früher ausschließlich eine Angelegenheit für vermögende Leute. Ich kenne den Leiter dort und könnte gut mit ihm sprechen.“ – „O Herr Doktor“, sagte Schimmel mit weit aufgerissenen Augen, „das wäre ja großartig! Wird man da ohne Schwierigkeiten aufgenommen? Könnten wir nicht schon gleich einmal fragen?“ –
„Das können wir gern, ich werde nachher einmal hingehen‘, sagte er freundlich, „es wäre doch sehr schön für Sie. Das Heim liegt wunderbar, und Sie könnten sich öfter mit Uli treffen. Wir haben verschiedene Geschwisterpaare in den beiden Schulen. Aber kommen Sie denn so ohne weiteres von zu Hause fort? Eigentlich sind Sie dort doch wohl unentbehrlich.“ – „Aber wieso denn?“ fragte Schimmel und wurde dunkelrot.
„Nun, ich meine, Ihre Mutter hat in Ihnen doch wohl ein rechtes Hausmütterchen. Ob sie das entbehren kann?“
„Ich muß aber doch etwas werden“, sagte Schimmel erschrocken; „wir Mädel müssen doch alle einen Beruf haben.“ – „Ich kann das verstehen“, sagte er freundlich; „und wenn Ihnen daran liegt, spreche ich mit dem Direktor. Die Gelegenheit ist doch sehr günstig.“ –
Es war Abend, als sie in Harzburg ankamen. Sie fuhren gleich in das Kinderheim. Gerstenberg klingelte und sprach mit der öffnenden Schwester. Schimmel stand hinter ihm, während Uli an der Gartentür bei den Rädern geblieben war. Und dann hörte Schimmel, wie die Schwester rief: „Sagt Petra und Claudia Goetz, ihre Eltern seien da, sie abzuholen.“ Gerstenberg lachte; Schimmel war das doch etwas peinlich. Und dann überfiel sie plötzlich der schmerzliche Gedanke, daß die Kleinen niemals richtig wissen würden, was es heißt, Eltern zu haben. Einen warmen Unterschlupf, eine Mutter, die für sie sorgte, Geschwister, ja, die hatten sie, aber Eltern – nein, seit der Vater gefallen war, nicht mehr.
Da waren auch schon die Kleinen. „Sagt mal Guten Tag, ihr seht ja prächtig aus!“
Wirklich, sie hatten sich großartig herausgefuttert, die beiden Zehnjährigen. Petra oder Plisch, wie die ganze Familie sie nannte, strahlte vor Lebendigkeit und Frische, ihre Augen waren so dunkelveilchenblau wie bei keinem der anderen Geschwister, und ihre hellen Zöpfe ringelten sich an den Enden und im Nacken. Sie war sehr hübsch, vielleicht das hübscheste Kind der Familie. Das machte aber auch ihr Temperament. Sie war gleich mitten in einer wichtigen Erzählung, Schimmel hörte nur halb hin und betrachtete dabei Claudia, die zweite.
Auch sie sah gut aus, braun und rotbäckig, dunkler im Haar, aber noch blond wirkend. Sie hatte als einzige dunkle Augenbrauen und darunter hellgraue, ein klein wenig auseinanderstehende Augen. Ganz besondere Augen übrigens: sie konnte sie aufschlagen, so scheinheilig und fromm, daß jeder darauf hereinfiel. Dabei war Plum wahrhaftig kein Tugendbold, sondern in einer Art noch wilder als Plisch und von einer Zähigkeit, sich ihre Freiheit zu sichern, daß selbst die Strenge einer großen Schwester daran scheiterte.
Das Heim war des Lobes voll über das Betragen der Zwillinge Gottlob!
Schimmel durfte über Nacht im Heim bleiben, während die beiden Männer in der Jugendherberge nächtigen wollten. Am anderen Morgen sollten die Kleinen dann in den Zug gesetzt werden und nach Holdershausen fahren, allein! Sie funkelten vor Wonne, als sie das hörten. Als die Männer gegangen waren, ließ sich Schimmel gern durch das Heim führen; sie bewunderte alles, die Turngeräte, den Eßraum, die Schlafsäle. Bis in die Nacht hinein stand Plischs Mundwerk nicht still, und auch Plum hatte viel zu erzählen. Schimmel ertappte sich immer wieder dabei, daß ihre Gedanken andere Wege liefen: Wenn es nun tatsächlich gelingen würde, in die Schule zu kommen, von der Gerstenberg gesprochen hatte?
„Du hörst ja gar nicht zu“, beschwerte sich Plum, und Plisch wollte genau wissen, durch welche Städte sie führen und wie man gehen müßte, wenn Brita vielleicht nicht auf dem Bahnhof wäre.
„Ich finde mich schon nach Holdershausen“, versicherte sie und war in Gedanken bereits auf der Reise. „Wir geben das Gepäck auf und laufen.“ – „Brita ist bestimmt an der Bahn“, sagte Schimmel und hörte nun wieder den Kleinen zu. „Sie holt euch mit dem Handwagen ab. Johannes kommt auch mit, er ist dort schon ganz zu Hause.“
Sie kam spät zum Schlafen; denn obwohl der Reisetag seit langem feststand, mußte noch vieles gepackt werden, Schimmel spürte die vielen Kilometer doch in ihren Beinen, und so kam sie lange nicht zur Ruhe. Das Wiedersehen mit Uli und den Zwillingen hatte manches wachgerufen, was sich im Lauf der Jahre und im Alltagsleben schon ein wenig verwischt hatte.
Uli und sie, die beiden Ältesten, hatten glücklicherweise noch eine lebendige Erinnerung an das Leben im Elternhaus vor dem Kriege in der rheinischen Großstadt, an die Wohnung nicht weit vom Strom und an die vielen grünen Uferanlagen. Der Vater hatte sein Architektenatelier in der Wohnung gehabt, und sehr selten, natürlich nur, wenn man artig war, durfte man mit ihm in den großen hellen Raum gehen, in dem so viele geheimnisvolle Papiere und Zeichnungen umherlagen. – Und dann kam der Krieg, der alles zerstörte. Das Haus verbrannte, ein Jahr später fiel der Vater.
Erst lange nach Beendigung des Krieges hatte die Mutter sich entschlossen, zu ihrem Schwiegervater auf das westfälische Gut zu ziehen. Man gibt nicht leicht eine Selbständigkeit auf, hatte sie einmal zu Schimmel gesagt, besonders nicht, wenn man fünf Kinder mitbringt. Nun war es doch gut gegangen, so gut, daß man es eben wagen konnte, die Zwillinge aus dem Kinderheim in das alte Gutshaus nach Holdershausen zu holen. – Schließlich schlief Schimmel ein; aber ihre letzten Gedanken waren doch beim Internat. Sollte sie wirklich noch einmal die Möglichkeit haben, ihre Schulbildung abzuschließen? Es wäre unwahrscheinlich schön!
*
Am nächsten Morgen stand Schimmel mit klopfendem Herzen neben Doktor Gerstenberg vor dem großen Internatshaus, das an einem Hang lag und dessen Garten in die wunderschönen Harzwälder überging. „Und wenn es hier nichts wird, will ich auch nicht meutern“, gelobte Schimmel sich. Sie gingen einige Stufen hinauf, und durch einen Windfang gelangte man in eine hohe getäfelte Halle. Dem Eingang gegenüber stand ein Flügel. Ein Mädel, wohl ebenso alt wie Schimmel, saß davor und spielte. Schimmel erkannte das Stück sofort, ein Impromptu von Schubert. Fast traten ihr Tränen in die Augen: wie oft hatte Vater es gespielt. Ob man hier auch Musikstunden haben konnte?
Sie wurden vor den Direktor geführt. Es war ein großer, breiter, älterer Herr mit Augen, die einem hätten Angst machen können – weil man merkte, daß sie durch und durch sahen –, wenn sie nicht so gütig geblickt hätten. Schimmel machte einen für eine Sechzehnjährige viel zu tiefen Knicks. Und dann hörte sie Doktor Gerstenberg sprechen! Wie gut, daß er hier war. Wieder wie schon oft in ihrem Leben fühlte sie, daß sie überall jemand fand, der ihr half, ganz von sich aus half.
Der Direktor hörte den jungen Kollegen freundlich und geduldig an. Sicherlich, es wäre schon möglich, das Mädel nach den großen Ferien aufzunehmen, probeweise zunächst, für vier Wochen. Sie müßten natürlich einen schriftlichen Antrag einreichen. Ob sie ihn schon mit hätten? Und einige Angaben der Mutter über die Lage der Familie seien auch notwendig.
„Meine Mutter weiß noch gar nichts davon“, stammelte Schimmel, als er schwieg. Sie sah ängstlich einen Augenblick auf, da bemerkte sie, daß es um den Mund des Gewaltigen zuckte, belustigt und wohlwollend. Er nahm es nicht krumm, im Gegenteil.
„Na, dann sprechen Sie mal schleunigst mit Muttern, das tut man eigentlich vorher“, sagte er gutmütig; „aber sagen Sie immerhin, der alte Direktor freut sich, daß es noch so mutige Frauenzimmer gibt. Meine Fürsprache haben Sie, und wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, dann wird’s nicht fehlen.“ –
„Wir haben es geschafft!“ Doktor Gerstenberg lachte, als sie, Schimmel leicht taumelig vor Aufregung, gleich darauf den steilen Gartenweg hinunterliefen. „Wenn wir diese Fürsprache haben, kann es nicht mehr schief gehen!“
„Sie sind ein Optimist“, sagte Schimmel und fuhr sich übers Gesicht. „Von ‚geschafft‘ kann noch gar keine Rede sein! Wenn ich jetzt versage?“ –
„Sie und versagen“? rief der junge Lehrer entrüstet. „Das wäre ja noch schöner. Er sagt doch selbst: Wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, geht alles großartig.“
„Sie überschätzen mich“, seufzte Schimmel, „alle überschätzen mich. Ohne Sie hätte ich mich gar nicht hergetraut.“
„Jetzt aber wird ein Eis gegessen, so wahr ich Karl Gerstenberg heiße.“ Gemeinsam berichteten sie dann Uli über den Hergang der Unterredung.
Während Uli und sein Lehrer sich ein wenig in der Stadt umhertrieben, fuhr Schimmel zu dem Kinderheim zurück, um die Zwillinge in Fahrt zu setzen.
Gemeinsam verbrachten sie dann die Mittagszeit, eingehend erörterte Schimmel noch einmal die ganze Lage mit ihrem Bruder, sie war glücklich, sich mit ihm, dem Vertrauten ihrer Kindheit, mal wieder aussprechen zu dürfen: die neue Heimat in Holdershausen, die Mutter, die sich ihrer Wesensart entsprechend mit ganzer Kraft der landwirtschaftlichen Arbeit zugewendet hatte, um dem langsam alternden Großvater zur Seite zu stehen, ihre eigene Stellung unter den Geschwistern, denen sie sich mehr als bisher widmen mußte, und schließlich ihre Berufshoffnungen. Sie hatten Gesprächsstoff genug und empfanden Gerstenbergs Anwesenheit dabei keineswegs als störend, im Gegenteil, er konnte manchen einleuchtenden Rat beisteuern. Mit Verwunderung bemerkte Schimmel dabei erneut das zwanglos kameradschaftliche Verhalten zwischen Uli und seinem Lehrer. Ob sie es auch einmal so schön haben würde? –
Und doch war ihr nicht ganz wohl zumute, als sie dann am Nachmittag wieder allein auf der Landstraße dahinradelte. Sie hatte sich von den beiden Männern getrennt, die wieder in ihr Heim zurückkehrten, während sie jetzt ohne Umweg unmittelbar auf Holdershausen zufuhr. Sie hatte kaum ein Auge für die sommerlich im Sonntagsfrieden daliegende Landschaft, die immer wieder an ihr vorbeihuschenden Autos und Räder vermochten sie nicht zu stören. Denn unaufhörlich ging es ihr im Kopf herum, was sie sich nun durch den Besuch bei dem Direktor eigentlich eingebrockt hatte, zumal da sie ja – abgesehen von allem anderem – große Lücken in ihren Schulkenntnissen hatte. Es war natürlich günstig, vier Wochen zum Probeunterricht kommen zu dürfen, viel besser, als eine Aufnahmeprüfung zu machen. Es sah wirklich so aus, als sollte es etwas werden.
Man soll sich nichts im Leben erschleichen wollen, hatte der Vater immer gesagt. Vater hatte sicherlich recht gehabt. Aber heute, wo die Verhältnisse so schwierig waren, wo es um die Zukunft ging, um die Ausbildung, um den Beruf? – Aber sie wollte ja auch arbeiten, wollte so fleißig sein wie nur irgendeine, sie wollte alles tun was nur irgend verlangt werden würde. – Als sie spät am Abend heimkehrte, waren schon alle zur Ruhe gegangen. lediglich die Mutter erwartete sie, der sie nun noch eingehend berichten mußte, von Uli, von Gerstenberg, von den Zwillingen. Es kam ihr wie ein Unrecht vor: aber von der Besprechung mit dem Direktor schwieg sie. –