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II

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Schimmel hörte den Wecker und tippte ihm wütend auf den Knopf, um die Glocke abzustellen. Sie war schrecklich müde. Gestern hatte sie noch so lange an der Fertigstellung der Girlanden und Sträuße gesessen, bis nach eins; Neuchen hatte schließlich energisch „Hüttenruhe“ geboten. Jetzt mußte sie aber schleunigst aufstehen. Eine reine Freude war das Aufstehen nicht immer; aber heute war ja ein großer Feiertag!

Ein ganz großer sogar: Großvaters siebzigster Geburtstag, dazu Sonntag und Sonnenwende. Auf, auf, es war höchste Zeit! Denn an diesem Tag ging die Sonne so zeitig auf wie sonst nie im Jahr, und Großvater war immer mit der Sonne wach. Sie aber wollten ihm zuvorkommen, sonst fiel der ganze Plan ins Wasser.

Schimmel huschte ins Bad und wurde nun völlig munter. Es war doch wieder ein herrliches Gefühl unter der Dusche zu stehen. Rasch die Haare durchgebürstet und hinüber zu den Kleinen! Na, das würde ein Theater geben, ehe man die wach bekam! Sie mußten hinterher wieder ins Bett, sonst würden sie überall nur Unheil anrichten. Schimmel ahnte dumpf, daß dieses „Ins-Bett-müssen“ wesentlich schwieriger sein würde als das an sich schon mühsame „Ausdem-Bett“. Denn wenn die Mädel erst einmal wach waren, waren sie meist allzu wach.

Brita zeigte sich am nachgiebigsten. Sie rutschte gutwillig aus dem kurzen Kinderbett und knotete sich die aufgegangenen Zöpfe im Nacken zusammen. Plisch knurrte wütend, als ihr Schimmel das Deckbett wegzog, und Plum fing sogar an zu weinen. Aber Plums Blockflöte war nicht zu entbehren; Schimmel bemühte sich, die Schwester durch gute Worte zu ermuntern, obwohl sie selbst etwas ungeduldig war.

Endlich standen sie alle zusammen im Flur, die Kleinen in den Nachthemden, Mutter im Bademantel, nur Schimmel angezogen. Du großer Schreck, jetzt hatte sie doch wirklich die Rosen vergessen!

Sie stürzte davon. Zum Glück war die Haustür schon offen. Der Rasen vor dem Haus war weiß betaut, und eine herrliche Luft schlug ihr entgegen. Ach, man konnte ja an einem so schönen Morgen nicht schlechter Laune bleiben!

Sie lief über das Rondell zu den Rosen, pflückte nur drei, die noch halbgeschlossen waren. Ihr war, als sehe sie zum erstenmal, wie überirdisch schön solche Knospen sind. Die Blätter wie zart gefaltet, mit silbernen Perlen an den Spitzen.

Ganz vorsichtig und beinahe feierlich kam sie zurück, die Rosen in der Hand, und es war, als würden die andern von ihr angesteckt. Sie zankten sich nicht mehr halblaut und stießen sich nicht gegenseitig um den angeblich besten Platz, sondern stellten sich lautlos vor Großvaters Tür auf, und dann gab Mutter den Ton an.

Großvaters Lieblingschoral: „Bis hierher hat mich Gott gebracht.“ Eigentlich müssen Choräle wohl tief und stark gesungen werden, aber das ging mit den Kinderstimmen nicht. Sie hatten ihn dreistimmig eingeübt, Mutter sang dritte Stimme, Schimmel zweite, und am schönsten klang der Gesang von Brita und Plisch, die zart und silbern die erste Stimme sangen, gehalten von Plums Flöte. Es klang so, wie die Luft draußen war und die Rosen, die Schimmel in der Hand hielt, neu und jung und zukunftsgläubig und dankbar. Schimmel fühlte, wie ihre Stimme zu schwanken begann. Es ging ja nicht nur Großvater an, dieses Lied: „Bis hierher hat mich Gott gebracht mit seiner großen Güte!“

Sie sangen drei Strophen. Dann, als sie schwiegen, ging die Tür auf und Großvater trat heraus. Er stand einen Augenblick im Licht der hinter ihm durchs Fenster fallenden Sonne; man sah nur seinen Umriß, golden überstrahlt. Schimmel ging ihm einen Schritt entgegen, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte und was in der Familie eigentlich nicht üblich gewesen war: sie küßte ihm die Hand. Und auf die alte, ein wenig runzlige und doch noch starke Männerhand fiel ein warmer Tropfen.

Großvater beugte sich zu Schimmel hinunter und küßte sie auf die Wange.

„Danke“, sagte er leise, „danke. Ihr meine Lieben, Lieben ...“ er schwieg. Dann warf Plisch sich ihm an den Hals, und die andern folgten. Großvater hob Johannes zu sich auf, den kleinen, dummen und nichtsahnenden Jungen, der den Namen des ältesten Sohnes trug, der auch Großvaters Name war, Johannes Goetz.

„Das habt ihr wunderbar gemacht, wirklich wunderbar“, sagte Neuchen und mußte sich geräuschvoll die Nase putzen; „ihr seid eine großartige Bande. Nein so was, niemand hätte im Leben daran gedacht, ich jedenfalls nicht. Jetzt aber wollen wir frühstücken, ganz unter uns, nur wir, ehe der Strom der Gäste hereinbricht.“

Schimmel und Brita liefen und sprangen. Es war noch früh am Morgen, und ehe die Mamsell und die Mädchen auftauchten, war das Feuer schnell in Gang gebracht, in einer Viertelstunde duftete es bereits bitter und stark nach Kaffee, und Neuchen erschien mit einer Riesenplatte Kuchen.

„Ich wollte ihn ja erst am Nachmittag anschneiden; aber nun muß ich es doch jetzt schon tun. Kommt, kommt. So schön haben wir es den ganzen Tag nicht wieder!“

Sie hatte wirklich recht! Jetzt war das Eßzimmer durchflutet von einer hellen, silbernen Sonne, und vor Großvaters Platz stand ein schönes Glas, in dem die drei Rosen funkelten.

„Schimmel, mein Kind“, sagte der Großvater leise, als sie alle schon fröhlich gegessen und getrunken hatten, „drei Rosen hast du mir gebracht. Drei Kinder habe ich gehabt. Maria lebt noch. Euer Vater ist gefallen, er lebt in Uli fort, mit dem Namen, und, so Gott will, auch im Geist. Johannes, mein ältester ist in Rußland vermißt, niemand weiß von seinem Schicksal. Vielleicht lebt er noch –“ Großvater schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er ruhig und in seiner milden, gütigen Art fort: „Ob er lebt oder nicht, ihr habt euern jüngsten Sohn nach ihm genannt. Aber nicht nur in den Söhnen und in den Namen lebt das Blut der alten Familie, auch in den Enkelinnen, Schimmel und Brita, Petra und Claudia.“

Sie schwiegen alle.

„Daß ihr da seid und da bleibt, nie werde ich dankbar genug sein können“, schloß Großvater still und legte seine Hand auf die seiner Schwiegertochter. –

Es wurde ein unruhiger Festtag. Alle halfen nach Kräften, auch Schimmel und Brita taten, was sie konnten; aber es gab doch eine Anzahl schwieriger Situationen. Denn es kam viel Besuch. Die ganze Umgebung wallfahrtete nach Holdershausen, und die Kleinen liefen unbeaufsichtigt dazwischen umher. Johannes war eine Zeitlang verschwunden; Brita fand ihn schließlich in der Speisekammer, wo er Kuchen und Wurst in sich hineinstopfte. Sie schalt und führte ihn ab, während Neuchen nur lachte. Mochte der Bengel nur essen! Am Nachmittag kam Uli; er war mit dem Rad gefahren und wollte am Abend wieder fort, aber dagewesen wollte er eben doch sein. Er brachte einen Aufsatz mit, für den er einen ersten Preis erhalten hatte. Der Aufsatz war sogar gedruckt und honoriert worden.

Mitten in die Aufregung hinein, die diese Neuigkeit verursachte, platzte neuer Besuch, sehr zu Schimmels Ärger, denn sie fürchtete, daß Ulis Verdienst dadurch geschmälert werden könnte. Uli selbst jedoch war es viel lieber so, wie man deutlich merkte; er war kein Mensch, der mit seinen Erfolgen „angab“. Daß er Großvater gerade an diesem Tage eine Freude hatte machen können, freute ihn, damit aber auch genug.

So ging der Nachmittag hin. Man tanzte viel, denn es kam viel neuer Besuch; auch Neuchen tanzte manchen Walzer und Rheinländer.

Schimmel dachte mit Kummer daran, daß Uli bald wieder aufbrechen müßte. Viele Kilometer lagen vor ihm, und er sollte am anderen Morgen wieder in der Schule sitzen.

„Mache dir keine Gedanken, die Nacht ist lang“, sagte er, „und dann ist’s auch kühler. Einen so schönen Tag muß man genießen. Hast du übrigens mit Mutter gesprochen? Was sagt sie denn zu unserm Plan mit der Harzburger Schule?“

Sie tanzten gerade den Walzer „Die schöne blaue Donau“, linksherum und rechtsherum, Schimmel sah im Drehen zu ihm auf.

„Ich habe noch nichts davon gesagt, so feige bin ich. Ich konnte nicht. Es kam dauernd was anderes, und Mutter ist ja den ganzen Tag draußen. Abends hat sie dann noch so viel mit Großvater zu besprechen. Ich hoffte, du würdest einspringen und mir das abnehmen.“

„Heute schwerlich“, sagte Uli – sie tanzten immer noch –. „Du, Schimmel, in den Ferien habe ich was vor, ich will mit ein paar anderen und Gerstenberg eine Radtour machen. Es kostet Mutter nichts, ich habe doch Geld verdient. Es geht nicht einmal alles dabei drauf. Natürlich nicht die ganzen Ferien.“

„Das wird sicher sehr schön für dich“, sagte Schimmel leise, ohne aufzublicken; sie war enttäuscht, denn sie hatte sich so sehr auf die Ferien mit Uli gefreut; aber das wollte sie nicht merken lassen. „Fahrt ihr gleich von dort aus los?“

„Nein, ich komme erst her, einige Tage. Wir treffen uns dann wieder auf halbem Wege, es liegt ja an der Strecke. Wir wollen an den Main. Oder was meinst du? Sollen die andern mich hier abholen? Es sind nette Jungen, alle miteinander.“

„Aus deiner Klasse? Alle? Sicher, das wäre schön“, sagte Schimmel.

„Gerstenberg fragte mich nämlich“, fuhr Uli fort, „als ich hierherfuhr, ob er mich mit den andern hier abholen sollte. Ich konnte es ihm ja nicht versprechen, ich wußte ja nicht, ob das geht. Aber Großvater hat sicher nichts dagegen, wenn die Jungen kommen, was meinst du?“

„Aber bestimmt nicht!“ – Sie tanzten immer noch rundum, als einziges Paar, so daß Schimmels Kleid wehte.

„Du, da kann doch Gerstenberg mit Mutter reden, von ihm stammt ja auch der Gedanke, daß du auf die Schule in Harzburg kommen sollst. Oder? – Na also, ich hatte es so in Erinnerung. Das wäre doch sehr günstig, wenn du Mutter sowieso noch nichts gesagt hast.“

„Es wäre sogar fabelhaft günstig“, sagte Schimmel leise, „Uli, jetzt muß ich aber zu Neuchen in die Küche und helfen.“

Als Schimmel endlich erhitzt und erschöpft in die Küche kam, merkte sie, daß Neuchen doch ärgerlich war. Die beiden Küchenmädel zeigten sich dem Ansturm nicht gewachsen, und sie hatten doch mit Schimmel gerechnet. Mutter war in ein landwirtschaftliches Gespräch mit einem Besuch verwickelt, sie konnte nicht herauskommen. Schimmel war sehr bestürzt, nichts war ihr schrecklicher, als Neuchen heute zu enttäuschen, und so versuchte sie denn, ihr Versäumnis durch doppelten Eifer wieder wett zu machen. Wo steckte übrigens Brita, und wo mochten um Himmels willen die drei Kleinen sein? Sicher waren sie auf Abwegen, und man müßte sich eigentlich nach ihnen umsehen.

Aber es gelang Schimmel nicht einmal, nur einen Augenblick zu entkommen, um Uli auf die Spur der Zwillinge zu setzen. Es ging jetzt hintereinander weiter. Abendbrot mußte gerichtet, der Tisch frisch gedeckt und das Eßzimmer in Ordnung gebracht werden, Neuchen flitzte und war überall und nirgends, und Schimmel konnte nicht fort.

Über dem siebzigsten Geburtstag schien ein guter Stern zu stehen. Als sie den Tisch fertig gedeckt hatten, waren sogar die beiden kleinen Schwestern plötzlich zur Stelle, sauber gewaschen und glatt gekämmt, ja, sie hatten sogar Johannes bei sich. Auch er war übermäßig abgeschrubbt, sein Gesicht glühte, und der Scheitel war mit Wasser angepappt, so daß der kleine Kerl ganz fremd aussah, weil man seine weiße, sonst von den Haaren verdeckte und unverbrannte Stirn sah.

Sie setzten sich alle drei artig und gesittet an den Tisch – Petra hatte manchmal pädagogische Anwandlungen. Großvater brach selbst eine Lanze für die Zwillinge, wie er sie so sitzen sah, als es später hieß, sie sollten ins Bett. Und dabei wollten sie zum Johannisfeuer gehen, und es wäre doch traurig gewesen, die Kleinen davon auszuschließen! Ach, wie ihre Augen strahlten, als Großvater der Mutter zuredete, sie mitzunehmen. Es sei doch nur einmal im Jahr Sonnenwende und dazu noch siebzigster Geburtstag! So durften sie wirklich mitgehen.

Im ehemaligen Klosterpark war der Holzstoß errichtet, und Großvater selbst setzte ihn in Brand, indem er die Fackel hineinstieß. Wunderbar, wie die Funken in einem goldenen Strudel zwischen den hohen Laubbäumen hindurch in den dunkeln Himmel stoben. Schimmel stand neben Uli, der den Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Als der Holzstoß schon stark heruntergebrannt war, sprangen sie darüber, zusammen mit den anderen Jungen und Mädels aus dem Dorf, die sich nach und nach eingefunden hatten, und das war für die Kleinen das Signal! Petra wollte auch sofort springen.

„Komm, wir nehmen dich mit“, sagte einer der Jungen, sie faßten sie an beiden Händen und nahmen Anlauf. Hopp, waren sie drüben. Petras weißes Kleid wehte.

„Ich auch! Ich auch!“ rief Claudia, und nun wurde auch sie mitgenommen, nachdem die großen Jungen Brita darübergeschwungen hatten. Bei den großen und gewandten Kerlen brauchte man keine Angst zu haben, daß den kleinen Mädeln etwas zustoßen könnte.

„Und jetzt wir noch einmal“, sagte Uli nach einer Weile des Zuschauens; Schimmel nickte. Sie liefen ein paar Schritte, dann schlug ihnen die Glut ins Gesicht. – „Hopp“! rief Uli halblaut, und dann waren sie darüber weg.

„Schön“, sagte jemand, als sie um den Kreis der Zuschauenden herum auf ihren Platz zugingen, atemlos und noch erregt von dem Sprung. Es war Großvaters Stimme, die diese Worte gesprochen hatte, es klang verträumt und glücklich.

Grosse Schwester Schimmel

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