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Vorbereitungen für Pessach

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»Einfach ein perfektes Timing«, sagt Onkel Martin. »Wir feiern eure Ankunft in Amerika, dem Land der Freiheit, zusammen mit Pessach, dem Fest der Freiheit. Was für ein schöner Zufall!«

Ich bin durch diese Symbolik aufgeregt und gerührt zugleich. Obwohl das Judentum Omen ablehnt, sie als Aberglaube einstuft und deshalb verbietet, habe ich, wie ich zugeben muss, Zufälle immer als geheime Botschaften betrachtet. Deshalb scheint mir auch jetzt der Umstand, dass wir so kurz vor dem jüdischen Feiertag der Freiheit angekommen sind, ein gutes Omen für unsere Zukunft in Amerika zu sein.

Es ist aber wie eine Ironie des Schicksals, dass die Tage vor Pessach für eine jüdische Hausfrau die reine Sklaverei sind. Noch vor dem Kochen und Backen der Feiertagsspeisen, und speziell derer für das Hauptereignis, den Seder-Abend, muss die Wohnung von allem befreit werden, was an gesäuertem Brot und sonstigen Essensresten vorhanden ist. Wegen der drastischen Säuberungsaktionen meiner Mutter waren die Tage vor Pessach seit jeher furchtbar für mich.

Jetzt ist es Tante Celia, die eifrig mit dem Frühjahrsputz und Millionen anderer Festtagsvorbereitungen beschäftigt ist. Sie kommt um sechs aus der Fabrik heim und stürzt sich sofort in die Hausarbeit.

»Warum können wir dir nicht zur Hand gehen?«, fragt Mutter zum x-ten Mal. »Elli und ich fühlen uns so nutzlos, wenn wir nur dastehen und dir bei der Arbeit zusehen. Warum gibst du uns nicht irgendetwas zu tun?«

»Auf keinen Fall!« Celia fuchtelt abwehrend mit den Armen. »Auf keinen Fall! Ihr seid hier Gäste. Ich habt euch noch gar nicht von der Reise erholt. Ihr seid erst drei Tage hier. Ruht euch erstmal aus. Später könnt ihr dann noch genug arbeiten.«

»Vier Tage«, korrigiert Mutter ihre jüngere Schwester. »Wir sind seit vier Tagen hier und haben uns genug ausgeruht. Höchste Zeit, dass wir auch etwas tun«, protestiert Mutter, während sie hilflos dabei zusieht, wie Tante Celia den kleinen Teppich im Flur zusammenrollt, zum Fenster trägt, ihn über dem Sims wieder ausrollt und dann, in jeder Hand einen Tennisschläger, energisch ausklopft. Dann greift sie zum Putzeimer und spritzt Seifenwasser auf den Linoleumboden, während meine Mutter und ich zurücktreten, um nicht im Weg zu sein und Tantchens Wisch-Aktion den nötigen Raum zu geben.

»Aber das ist doch absurd!«, ruft Mutter. »Wie können wir ruhig dastehen, während du dich nach einem harten Tag in der Fabrik auch noch hier krumm schuftest? Du musst Elli und mich auch etwas machen lassen.«

»Ihr kennt die Wohnung nicht und wisst weder, wo alles ist, noch, was zu tun ist und wie. Es ist einfacher, wenn ich es selbst mache«, erklärt Tante Celia, während der Wischmopp in ihren Händen die Seifenlauge auf dem Boden verteilt. »Warum setzt ihr euch nicht auf die Wohnzimmercouch, bis Martin heimkommt? Dann essen wir zu Abend. Vielleicht reden wir im Anschluss über eine Mithilfe eurerseits.«

Mutter, die nicht daran gewöhnt ist, den Anweisungen ihrer jüngeren Schwester zu folgen – wie übrigens auch von niemandem sonst –, geht grummelnd ins Wohnzimmer, und ich folge ihr.

»Tante Celia«, beginne ich nach dem Abendessen das Gespräch in der Hoffnung, Mutters Argumenten zuvorzukommen und eine Konfrontation dieser beiden willensstarken Frauen zu vermeiden. »Wir wissen, dass du uns von der Hausarbeit entbinden willst, damit wir uns wohlfühlen. Dabei würden wir uns noch wohler fühlen, wenn wir dir helfen könnten.«

»Gut formuliert«, lobt mich mein Onkel. »Meine liebe Nichte, ich denke, du solltest eine Diplomatenlaufbahn anstreben. Aber Spaß beiseite: Celia, warum gibst du Laura und Elli keine Aufgabe, wenn sie dir schon helfen wollen?«

Meine Tante gibt nach. »Okay, ihr fleißigen Lieschen. Ihr könnt für mich die Einkäufe erledigen. Wenn ich abends heimkomme, sind die Geschäfte am Kings Highway schon zu. Das wäre wirklich eine große Hilfe. Ich mache eine Liste mit Lebensmitteln, Brot, Obst und Gemüse, sowie ein paar Dingen für den Haushalt. Die Geschäfte dafür sind alle auf dieser Seite des Kings Highway, außer dem Bäcker. Hinter der U-Bahn-Station gibt es eine Woolworth-Filiale, und dort findet ihr alles, was ich außerdem aufliste, also Nähgarn, Schuhwichse und Zahnpasta.«

»Kennst du die englischen Ausdrücke dafür?«, fragt mich Mutter, nachdem sie Celias auf Ungarisch geschriebene Liste angesehen hat.

Ich werfe einen Blick auf den Zettel. »Ich hoffe. Wenn nicht, schlage ich im Wörterbuch nach.«

Aus der Besenkammer holt Tante Celia eine Apparatur aus Aluminium.

»Seht ihr das? Das ist mein Einkaufswagen. So könnt ihr ihn aufmachen und eure Taschen mit Obst, Gemüse und sonstigem verstauen. Ihr müsst die schweren Sachen also nicht in der Hand tragen.«

Meine superpraktische Mutter ist ganz begeistert von dem Einkaufswagen, auch weil man ihn flach zusammenlegen und deshalb leicht verstauen kann.

Nachdem Tante Celia und Onkel Martin am nächsten Morgen zur Arbeit gegangen sind, begeben Mutter und ich uns ganz abenteuerlustig auf Einkaufs-Expedition. Unsere gute Laune scheint ansteckend zu sein: Auf der Straße lächeln und winken die Leute uns zu. An den Obstständen staunen wir über das riesige Angebot an Früchten und Gemüse; das Lebensmittelgeschäft mit seiner reichhaltigen Auswahl an Nahrungsmitteln entpuppt sich als Paradies für Milchprodukte. Sogar Grundnahrungsmittel wie Mehl, Zucker und Salz, die in Europa aus großen Säcken in braune Tüten abgefüllt und gewogen werden, befinden sich hier in kleinen, bunt bedruckten Packungen, die in frei zugänglichen Regalen ansprechend arrangiert sind.

In der Bäckerei erhalte ich eine Lektion fürs Leben.

»Wenn Sie wollen, dass Brot und Backwaren knusprig und frisch bleiben«, erklärt der Bäcker, »dürfen Sie sie nie in den Kühlschrank tun. Dort werden sie weich und geschmacklos. Tun Sie sie lieber ins Gefrierfach, solange sie frisch sind. Wenn Sie sie brauchen, werden Sie merken, dass sie schnell wieder aufgetaut und dann so frisch sind wie am Tag, an dem sie gebacken wurden.«

Woolworth, ein »Five-and-Dime«-Geschäft, in dem man so gut wie alles bekommt – vom Schnürsenkel bis zum Handkarren – und kleine Artikel nur einen Nickel, also fünf Cents, oder einen Dime, also zehn Cents, kosten, ist das Mekka der Neuankömmlinge. Wir kaufen einen Kamm, Nähgarn, Nadeln, Wolle zum Stricken, Zahnpasta, Schuhcreme, einen Handspiegel sowie ein kleines Näh-Set, das wir Tante Celia schenken wollen.

Beim Verlassen des Woolworth-Geschäfts erhält unsere gute Laune einen herben Rückschlag: Der Einkaufswagen, den wir draußen stehen gelassen haben und in dem all unsere Einkäufe waren, ist verschwunden! Wie ist das möglich? Vielleicht haben wir ihn im nächsten Hauseingang abgestellt. Dort ist er auch nicht. Vielleicht hat ihn jemand ins Geschäft gebracht. Wir laufen zum Filialleiter, um dort nachzufragen.

»Wo haben Sie den Einkaufswagen gelassen?«, fragt der Filialleiter ungläubig. »Vor dem Geschäft? Auf der Straße? Was haben Sie denn erwartet?«

Was wir erwartet haben? Na ja – ihn dort vorzufinden, wo er abgestellt wurde. Nicht erwartet haben wir, dass es in diesem reichen, offenherzigen Land gemeine Diebe gibt.

Aber anstatt sich am Abend über den Verlust aufzuregen, verwandelt Tante Celia die Niederlage mit ihrem Stegreif-Humor in eine Farce – und mildert damit unsere Zerknirschung.

»Darf ich vorstellen? Meine Familie aus Timbuktu!«, prustet sie los, als sie unsere traurige Geschichte hört. »Dies ist Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – auch für unfähige Diebe. Das habt ihr heute bewiesen. Ihr habt ein paar amateurhafte Diebe sehr glücklich gemacht!«

»Als Neuankömmling gibt es viel zu lernen«, sagt Onkel Martin versöhnlich. »Ihr habt soeben eure erste Lektion erhalten: Niemals die eigenen Sachen unbeaufsichtigt lassen, nicht einmal für eine Sekunde. Es tut mir leid, dass ihr das in dieser Form lernen musstet, aber betrachtet es einfach als Kursgebühr.«

Alle Nachbarn, die von unserem Erlebnis hören, zeigen genau wie mein Onkel Mitgefühl und geben uns denselben Rat wie er. Ein paar Hausbewohner sind erst vor kurzem eingewandert und versuchen uns zu trösten. Sie versichern uns, dass wir bald genug Geld verdienen, um den Schaden zu begleichen, und die Sache irgendwann vielleicht ganz vergessen.

»Bald denken Sie gar nicht mehr daran«, prophezeit ein Nachbar.

»Aber vergessen Sie nicht die Lektion, die Sie gelernt haben«, ergänzt ein anderer.

Für mich gibt es noch eine zweite Lektion, wobei die nichts mit materiellem Verlust zu tun hat. Hier geht es eher um den Verlust von Vertrauen – um einen Rückschlag, der tief in mir eine bestimmte Saite zum Schwingen bringt. Ich hatte nicht damit gerechnet, in Amerika betrogen zu werden, noch dazu in der Stadt aus Papas Träumen.

Vor dem Beginn der Pessach-Woche ruft Alex an, um uns schöne Feiertage zu wünschen. Seine Stimme mit der ihr eigenen Wärme sorgt dafür, dass ich mich wieder besser fühle.

Pessach ist eigentlich ein fröhliches Fest. Tante Celias Wohnung ist blitzblank, und der Esstisch strahlt mit einem neu gekauften Edelstahlbesteck und weißem Melamingeschirr. Von ihren Silbersachen ist nur der alte Kandelaber »noch von daheim«, ausgegraben aus dem Kellerboden, wo er während der Nazi-Zeit versteckt lag.

Der Tisch ist für sieben Personen gedeckt. Zwei Gäste gesellen sich am Seder-Abend zu Onkel Martin, Tante Celia, Mutter, Bubi und mir, nämlich Margit Fried und Miklos Benedict, zwei einsame Überlebende. Margit, Celias »Lager-Schwester«, und Miklos, ein Nachbar von »daheim«, kennen sich noch nicht, und meine Tante hat die beiden mit geheimen Absichten eingeladen.

»Zieh dein marineblaues Seidenkleid an«, rät sie Margit. Das mit dem weißen Kragen. Das steht dir extrem gut. Miklos ist zu haben – und er mag gutaussehende Frauen.«

Margit, deren Mann und Sohn auf verschiedenen Schlachtfeldern ums Leben kamen, hat das blaue Seidenkleid an und ein höfliches, schüchternes Lächeln im Gesicht, als sie über den Tisch hinweg zu Miklos sieht, dessen Frau und drei Kinder in der Gaskammer von Auschwitz erstickt sind und der, tipptopp herausgeputzt mit blütenweißem Hemd und karierter Krawatte, etwas ungeschickt mit seinem Besteck hantiert.

Wir alle tragen unsere schönsten Sachen, und die Männer sehen geradezu blendend aus in ihren neuen, weißen Hemden, die Mutter als Beitrag zu den Festtagsvorbereitungen auf einer geliehenen Singer-Maschine genäht hat. Mein Herz ist wie eines dieser neuen Kristallgläser, die bis obenhin mit perlend-rotem Tokajerwein gefüllt sind. Glücklich betrachte ich meinen Bruder, den ich so viele Jahre nicht gesehen habe. Stolz lausche ich seinem gelehrten Vortrag der Haggada, also der Pessach-Erzählung, und voller Dankbarkeit denke ich an die noch zarte, junge Freundschaft mit Alex. Wie schön es wäre, wenn er heute bei uns sein könnte!

Der herrliche Geruch von Hühnersuppe dringt vermischt mit dem Duft des Truthahnbratens aus der Küche zu uns herein. Tante Celia ist eine hervorragende Köchin, und in freudiger Erwartung eines Essens an ihrem Tisch singt unsere kleine Runde die Lieder der Pessach-Haggada mit besonderer Inbrunst.

Der Seder-Abend ist ein bittersüßes Ereignis. Wie feiern unsere Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und denken gleichzeitig an unsere jüngste Sklaverei in Deutschland. Wir singen lauthals von den Wundern, die uns am Roten Meer und in der Wüste Sinai gerettet haben, und beweinen schweigend unsere schmerzhaften Verluste in Auschwitz, Dachau und den über ganz Europa verteilten Arbeitslagern. Als Margit und Miklos sich über den Tisch hinweg ansehen, kann ich erkennen, wie sich in der Wiederspiegelung der beidseitigen Trauer ein gemeinsamer Funke bildet. Und mein Herz klopft aus Dankbarkeit für das Wunder des Überlebens. Für das Wunder des Lebens.

Unser erster Seder-Abend in Amerika – er ist definitiv ein fröhliches Fest.

Er ist definitiv ein gutes Omen.

Hallo Amerika!

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