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Können Märchen wahr werden?

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Heute um elf haben Mutter und ich einen Termin bei der HIAS, wo wir unsere Betreuerin kennenlernen werden. Tante Celia, die in einer Krawattenfabrik arbeitet und dort Baumwollfutter in Seidenschlipse näht, nimmt sich den Tag frei, um uns in der Brighton-Linie nach Manhattan zu begleiten, wo unser Treffen mit der Betreuerin stattfinden soll.

Bei dieser Fahrt kann Tante Celia uns die Nutzung der New Yorker U-Bahn erklären – wie man für fünf Cent ein »Token« kauft, wie man dieses in den Schlitz am Drehkreuz steckt, dessen Arme nach vorne dreht und dabei durchgeht.

Sie warnt Mami: »Pass bloß auf, dass du schnell genug bist. Wenn du trödelst, sind deine fünf Cent futsch. Dann musst du ein neues Token besorgen und alles nochmal machen.« Da Mami total besorgt aussieht, fügt sie aufmunternd hinzu: »Keine Angst, Laurika, du schaffst das schon. Schau mir zu. Ich gehe als Erste durch.«

Geschafft! Sowohl Mutter als auch ich überwinden das U-Bahn-Drehkreuz ohne Probleme. Es ist Vormittag und die Brighton-Linie ist leer; wir drei sind zunächst die Einzigen im Wagen. Erst als wir uns Manhattan nähern, steigen weitere Passagiere ein. Sie nehmen schweigend Platz, starren ausdrucklos vor sich hin und verlassen die Bahn ebenso wortlos. Sie grüßen beim Einsteigen weder uns noch jemand anderen, wechseln während der Fahrt kein Wort miteinander und verabschieden sich auch nicht. Es gibt keinerlei Blickkontakt zwischen den Passagieren. Sie verhalten sich, als würden sie einer Geheimgesellschaft mit Schweigegelübde angehören oder sich gegenseitig als Feinde betrachten. Keine Ahnung, warum.

»In Europa reden die Menschen im Zug miteinander. Warum begrüßt man hier nicht mal den, der neben einem sitzt?«, frage ich Tante Celia im Flüsterton.

»Du musst nicht flüstern«, meint Tante Celia. »Keiner hier versteht Ungarisch. Anfangs fand ich das auch komisch: kein Hallo, kein Guten Tag, kein Guten Abend, und zwar nicht nur in der U-Bahn, sondern auch im Bus oder in den Geschäften. Wenn du Hallo oder Guten Tag sagst, sehen sie dich an, als seist du krank. Aber man lernt eben schnell. Jetzt, nach zwei Jahren, erinnere ich mich gar nicht mehr daran, dass ich die Leute an öffentlichen Orten gegrüßt habe.«

»Aber das kommt mir so unfreundlich vor. Sind die Amerikaner ein unfreundliches Volk?«

»Nein, aber das gehört eben zu ihrer Kultur. Du wirst dich schon daran gewöhnen.«

Mutter sieht sich die Kleider der Frauen an. Was trägt man hier, was ist die neueste Mode?

»Die Röcke sind hier viel länger«, stellt sie fest. »Und die Farben sind insgesamt eher dunkel. Ich sehe viel Braun, Grau und auch Schwarz. Verrückt, oder? Ich dachte, es wäre genau andersherum. Europa soll doch so konservativ sein, und nicht Amerika!«

Eine halbe Stunde brauchen wir bis zu unserem Ziel. Von der U-Bahn-Station zur HIAS sind es dann noch einmal fünf Minuten zu Fuß. Obwohl wir etwas zu früh dran sind, führt uns die Rezeptionistin sofort in einen der Büroräume. Tante Celia muss im Gang warten.

»Laura und Elvira Friedman sind da.«

Eine untersetzte Frau mittleren Alters sitzt hinter einem massiven Mahagonischreibtisch.

»Ich bin Mrs. Ryder, Ihre Betreuerin«, sagt sie mit tiefer, ausdrucksloser Stimme, während sie vor sich auf dem Tisch einen Aktenstapel durchsucht.

Ganz offenbar haben Mutter und ich schon einen eigenen Ordner. Als Mrs. Ryder ihn schließlich gefunden und kurz überflogen hat, erklärt sie uns ihre Funktion als Betreuerin: Sie stellt unsere Verbindung zur HIAS dar, organisiert die hier angebotenen Hilfsleistungen und wird uns bei der Suche nach Wohnung, Arbeit und medizinischer Versorgung unterstützen.

»Haben Sie Fragen?«

»Ja. Darf ich für meine Mutter übersetzen und sehen, ob sie etwas wissen möchte?«

Mrs. Ryder nickt, und nachdem sich Mami meine Zusammenfassung auf Ungarisch angehört hat, ruft sie: »Medizinische Versorgung? Das ist sehr gut. Wir brauchen einen Arzt, der sich um deine ständigen Magenschmerzen und deine Appetitlosigkeit kümmert.«

»Wir haben hier eine Liste mit Ärzten, die schon für die HIAS gearbeitet haben«, meint Mrs. Ryder. »Schauen wir mal, ob es einen in Ihrer Nähe gibt. Hier habe ich einen. Dr. Alexander Hirschfield, ein Praktischer Arzt mit dem Schwerpunkt innere Medizin. Seine Praxis ist in der Thirteenth Avenue in Brooklyn, das ist nicht allzu weit von Ihnen entfernt. Soll ich für Sie einen Termin vereinbaren?« Sie nimmt den Hörer ab.

»Ja, gern. Danke. Das wäre sehr freundlich.«

»Dr. Hirschfield hätte am Nachmittag Zeit für Sie.« Mrs. Ryder legt ihre Hand auf die Sprechmuschel des Telefons. »Um 14 Uhr – soll ich Sie anmelden?«

Ich nicke eifrig, und sie notiert den Termin auf einem Blatt Papier.

Mutter und ich sind unendlich dankbar. Aber so gern ich diesem Gefühl auch Ausdruck verleihen möchte, ist mein Englisch ist doch viel zu beschränkt. Ich kann nur noch ein weiteres Mal »Danke« sagen.

»Danke«, sagt auch Mutter, als wir zur Tür hinausgehen.

Wieder daheim angekommen, können wir schnell etwas zu Mittag essen. Da sich Tante Celia freigenommen hat, begleitet sie mich zum Arzt. Der Weg ist recht kompliziert und man muss zwei Busse nehmen, um zur Thirteenth Avenue und Fifth Street im Bereich Borough Park zu gelangen.

Leider verspäten wir uns um eine halbe Stunde. Und es ist mir furchtbar peinlich, für eine angemessene Entschuldigung nicht genug Englisch zu können, also nicht erklären zu können, dass ich erst vor zwei Tagen in Amerika angekommen bin und Tante Celia die Fahrtdauer wohl falsch eingeschätzt hat … ebenso wie die Warte- und Umsteigezeit. Dabei entgeht mir, dass sich Dr. Alex Hirschfield für diese Entschuldigung gar nicht interessiert.

Was mir außerdem entgeht, sind – wie Tante Celia es später formuliert – »ein merkwürdig verträumter Blick des Doktors bei Aufnahme der Krankengeschichte, als sei um ihn herum Nebel« sowie »das selige Lächeln, das ihm nach der Untersuchung im Gesicht stand«.

»Nach einer Untersuchung, die ewig gedauert hat! Er ist mondsüchtig, der arme Tropf!« Tante Celia blinzelt mir zu. Ungeachtet meiner Proteste zieht sie mich den ganzen Heimweg über damit auf, dass ich ohne jede Rücksicht »einen netten, harmlosen Arzt verhext« hätte. Als wir dann ankommen, stürmt sie geradewegs in die Wohnung und berichtet Mutter und Onkel Martin, bei mir sei vom Medizinischen her alles unter Kontrolle, wobei man »dasselbe nicht von diesem armen Arzt sagen kann, der hoffnungslos krank ist – liebeskrank«.

»Unsinn!«, rufe ich betreten. »Dr. Hirschfield ist einfach ein Arzt, der sich um seine Patienten kümmert. Mein Magengeschwür macht sich bemerkbar, und es wird ein paar Tests geben. Was soll er denn machen? Ein blutendes Magengeschwür ignorieren? In München war ich damit zwei Monate im Krankenhaus!«

Aber nichts von dem, was ich sage, scheint diese drei irgendwie zu beeindrucken. Sie hören einfach nicht auf, mich zu hänseln.

Am Abend klingelt das Telefon, und fast schon ausgelassen verkündet Tante Celia: »Elli. Für dich. Es ist Dr. Hirschfield!«

»Hab ich’s nicht gesagt? Ist er jetzt mondsüchtig oder nicht?«, meint Celia hämisch, als ich später auflege.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, frage ich. »Er wollte wissen, wie es mir geht, und hat gesagt, ich soll morgen in die Praxis kommen. Die Tests müssen so schnell wie möglich durchgeführt werden.«

Am Dienstag muss mich Tante Celia nicht zu Dr. Hirschfields Praxis begleiten. Es ist im Gegenteil so, dass ich einen kürzeren Weg ausfindig mache und diesmal bereits vor dem vereinbarten Termin da bin.

Ein breites Grinsen überzieht das Gesicht des Arztes, als er mich unter den Patienten im Wartezimmer entdeckt.

»Ah, Miss Friedman, Sie sind pünktlich!«, ruft er freudig, und auf seiner linken Wange erkenne ich ein Grübchen. »Bitte, kommen Sie ins Sprechzimmer.«

Dr. Hirschfield freut sich wie ein Kind, mich zu sehen. Sein Glück scheint keine Grenzen zu kennen. Als würde ich über ein Radarsystem verfügen, nehme ich unmittelbar nach Betreten des Sprechzimmers seine Ausstrahlung wahr und lasse mich von seiner Begeisterung anstecken.

Die medizinische Untersuchung verwandelt sich in eine emotionale Begegnung. Dr. Hirschfield möchte »alles« über mich wissen, über mein Leben, und speziell über meine Erlebnisse während des Holocausts.

»In welchem Konzentrationslager waren sie?«, fragt er, und seine tiefblauen Augen leuchten ausdrucksvoll. Ich erkenne darin Mitgefühl und Schmerz. Außerdem noch etwas, das ich nicht recht benennen kann.

»Zuerst in Auschwitz und dann …«

»Auschwitz!«, unterbricht er laut. »Verzeihen Sie … aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der in Auschwitz war!« Er nimmt meine Hand, und die Tränen schießen ihm in die Augen. »Mein armes Kind. Ich möchte Ihnen etwas sagen, das ich noch niemandem erzählt habe. Ich bin in Deutschland geboren und … sowohl mein Vater als auch meine Mutter sind in Auschwitz ums Leben gekommen. Und Sie … Sie waren dort und sind der Hölle entkommen, die meine Eltern verschlungen hat – mein Engel. Ich werde der HIAS auf ewig danken, dass sie Sie zu mir gebracht hat.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bis ins Mark erschüttert mich dieser Ansturm der Gefühle – seiner ebenso wie meiner.

»Ich verspreche, dass ich Sie wieder gesund machen werde. Wie ein Bruder kümmere ich mich um Sie. Ich möchte Sie für alles entschädigen, was Sie durchmachen mussten – wenn Sie mich lassen.« Sein Blick ist eine einzige Bitte. »Wenn Sie mich nur lassen.«

»Dr. Hirschfield …«

Ich habe einen Frosch im Hals und drohe zu ersticken. Ich kann nicht atmen. keinen einzigen Ton kann ich von mir geben.

»Sagen Sie doch bitte Alex zu mir. Okay, Elli?«

Ich hole tief Luft.

»Ja«, krächze ich, und erneut droht ein Schwall Tränen meine Worte zu ertränken. »Ich sage gern ›Alex‹. Und ich bin sehr, sehr dankbar. Wissen Sie, ich fürchte mich ein bisschen … habe ein bisschen Angst. Angst vor Amerika. Es gibt so vieles, das ich nicht verstehe. Ich brauche einen Freund. Danke für das Angebot – ist Angebot das richtige Wort? Danke für das Angebot, mein Freund zu sein.«

»Mein armes Kind. Ihr Freund zu sein, würde mich glücklich machen, Elli – wenn Sie mich lassen. Etwas Schöneres gibt es nicht! Mein Engel, ich muss jetzt weitermachen. Die anderen Patienten warten. Hier ist eine Liste mit den Tests, die Sie machen müssen. Ich vereinbare die Termine und richte mir die Arbeit hier so ein, dass ich Sie begleiten und überall mit dabei sein kann.«

»Wann werden die Tests sein? Wissen Sie, Herr Doktor … ich meine, Alex. In den nächsten zehn oder elf Tagen feiern wir das jüdische Pessachfest …«

»Selbstverständlich. Wir machen sie dann eben nach Pessach. Das muss sowieso erst alles organisiert werden. Auf Wiedersehen und bis bald – mein Engel!«

Alex umarmt mich fest, aber doch zärtlich und wohlwollend – und liebevoll. Die Umarmung eines Freundes. Oder eines Vaters?

Ich fühle mich wie Aschenputtel in den Armen des Prinzen. Ist Dr. Hirschfield vielleicht mein Prinz? Kann das sein? Passiert mir das hier tatsächlich?

Sind Märchen in Amerika die Wirklichkeit?

Hallo Amerika!

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