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Pulverdampf und Schwefel

Die Sitzungen des Rates der Stadt Aurich sind bis auf wenige Ausnahmen öffentlich. Oberkommissarin Mieke Janßen hat trotzdem noch keine miterlebt, aber nun ist sie in eine hineingeraten. Die Vorzimmerdame des Bürgermeisters, Frau Vossen, hatte ihr am Telefon gesagt, Herr Bachmann sei im Hause und zu sprechen. Also ist sie hinübergegangen, es sind ja nur ein paar Schritte über die Straße. Aber dann war Bachmann doch nicht in seinem Büro, sondern im Ratszimmer. Der Finanzausschuss tagt dort in Routinefragen. Sichtung des Haushalts, mittelfristige Planungen, Projekte der Stadt mit Folgen für den Etat, das Übliche. Der Bürgermeister hat zunächst teilgenommen, sich aber wieder entfernt, als der wichtige Teil der Tagesordnung abgearbeitet war. Doch dann gab es plötzlich Komplikationen, und man hat den Bürgermeister dringend um Anwesenheit gebeten. Nein, dazu aufgefordert. Die Opposition, die »Freien für Aurich« haben es explizit verlangt. Her mit dem Mann, wir wollen ihn hören.

»Wird es lange dauern?«, hat Mieke gefragt, aber Frau Vossen hat nur die Schulter gehoben.

»Das weiß man nie so genau. Der Auricher Rat ist für jede Überraschung gut«, hat die Sekretärin geantwortet. Das klang kühl, fast abschätzig, als wollte sie sagen, Sie fragen nach dem Inhalt einer geschlossenen Wundertüte. So viel kann ich Ihnen sagen, er ist in jedem Fall minderwertig.

Einen Augenblick lang hat die Oberkommissarin überlegt, ob sie das Gespräch verschieben soll. Eigentlich ist es Zeitverschwendung, auf Bachmann zu warten, es gibt genug zu tun. Doch dann geht sie in das Sitzungszimmer. Aus purer Neugier. Und da erlebt sie einen neuen Bürgermeister. Sie kennt Bachmann nicht sehr gut, hat ihn gelegentlich gesehen, auch kurz gesprochen, bei Empfängen und offiziellen Anlässen. Da war er immer freundlich, fast jovial, irgendwie glatt, aber stets vermittelte er diesen elitären Duktus, ein Gefühl der Überlegenheit. Hier lernt sie ihn von einer anderen Seite kennen. Mit einem Mal denkt Mieke, es ist richtig gut, dass ich hier bin. Ich gewinne Einsichten, die mir sonst vielleicht verschlossen geblieben wären. Als sie das Sitzungszimmer betritt, geht es dort hoch her. Sie schlüpft nach hinten zu den mäßig besetzten Stuhlreihen für das Publikum. Dort kennt sie niemanden, bis auf eine Redakteurin der Auricher Rundschau, Meike Ulferts. Sie hockt sich neben sie, raunt: »Die Rundschau schreibt über eine Routinesitzung des Finanzausschusses?«

Meike Ulferts schüttelt den Kopf. Ob darüber geschrieben werde, sei offen. Sie solle ihrem Chef berichten, was gesprochen worden sei.

»Dem Chefredakteur?«

Dem Besitzer der Zeitung selber, Berthold Krang. Und ja, Chefredakteur sei der auch. Meike Ulferts senkt rasch wieder den Kopf, ihre Hand fliegt über den Stenoblock. Tonaufzeichnungen sind natürlich verboten. Und während sich Mieke noch darüber wundert – für derlei gibt es schließlich Protokolle, die man einsehen kann –, folgt sie einem erregten Wortwechsel.

Mieke neigt ihren Kopf der Redakteurin zu. »Worum geht es?«

»Kasernengelände«, flüstert Meike Ulferts ohne aufzusehen zurück, ihre Hand rast über das Papier. Der Fraktionsführer der »Freien für Aurich« steht, sein Kopf ist hochrot. Der Bürgermeister sitzt, sein Kopf ist noch nicht einmal rosa. Aber seine Stimme ist hart, sie erinnert an vereistes Metall. »Immer dieselbe Leier, Reemt!«, schimpft Bachmann. »Immer kommst du mit diesem Mist. Haben wir nicht oft genug darüber gesprochen? Wie viele Male haben wir das Thema diskutiert? Zu oft, wenn du mich fragst. Dieser Punkt ist endgültig erledigt. Es gibt eine alte Indianerweisheit: Wenn dein Pferd tot ist, steige ab!«

Der andere steht und rudert mit den Armen. Reemt Smits weiß, dass er den Spitznamen Cato hat, aber es ist ihm gleich. »Das möchtest du gerne, dass diese Geschichte tot ist. Sie ist es nicht, sondern sie wird euch noch auf die Füße fallen. Euch allen!«

Der Bürgermeister winkt lässig ab. Er redet von alten Schlachten, die man nicht mehr schlagen müsse, von aufwärmen, dass ihn das alles kaltlasse, aber an seiner Stimme hört man, es lässt ihn keineswegs kalt. »Die Filetstücke habt ihr euch doch gesichert, du und deine Freunde!«, faucht der Fraktionsführer, und jetzt steht auch Bachmann auf.

Er weiß um seine Wirkung. Ehe er antwortet, läuft sein Blick flink durch den Raum. Er sieht vor allem nach hinten, zum Publikum, seine Augen ruhen einen Moment auf der Oberkommissarin. Zuerst referiert Bachmann ganz allgemein. Er betont noch einmal; wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man das Gelände an einen solventen Investor verkauft. Die sauberste Lösung. Geld kommt in den Haushalt, es werden Arbeitsplätze geschaffen. Genau das aber habe die Opposition in der Stadt verhindert. Und nun beklage sie einen Zustand, für den sie selbst verantwortlich sei. So gehe es aber nicht. Dann wendet er sich direkt an Reemt Smits, seine Stimme trieft vor Spott: »Vielleicht darf ich im Übrigen dem Herrn Fraktionsführer ins Gedächtnis zurückrufen, dass der Handel mit dem Bauland frei war für jedermann. Warum hat er nicht selbst gekauft?«

»Weil er kein Millionär ist!«, faucht Smits zurück, er spuckt es sogar aus, es klingt, als rede er von Abschaum.

Der Bürgermeister nimmt wieder Platz, seine Stimme ist jetzt ganz ruhig. »Ich bin nicht bereit, auf diesem Niveau zu reden. Willst du ehrbaren Bürgern dieser Stadt zum Vorwurf machen, dass sie Geld haben? Ich erinnere daran, dass sie alle Steuern zahlen. Und nicht nur das. Viele von ihnen sind Mäzene zum Nutzen Aurichs. So führt man übrigens Neiddebatten.« Dann holt Bachmann zu einem Schlag aus. »Wie viel hast du denn im letzten Jahr gespendet?«

Smits ist fast blau geworden. Jetzt fängt er an zu brüllen: »Unverschämtheit! Ich verbitte mir das. Euer reicher Klüngel. Klüngel und Filz. Unerträglich!«

Da wird der Sitzungspräsident aktiv, er ruft irgendetwas dazwischen.

Der Bürgermeister richtet sich auf. »Albert Ukena ist noch nicht unter der Erde, und du redest hier solch unsäglichen Dreck. Du solltest dich schämen.«

In diesem Moment bricht der Tumult los. Rufen, Brüllen. Es rauscht durch den Saal.

»Aufhören!« – »Jetzt ist es aber gut!« – »Ruhe!« – »das Publikum ausschließen!«, dann ist der Bürgermeister auf den Beinen und stürmt nach draußen.

Mieke Janßen hat fasziniert gelauscht, der Stift der Redakteurin ist blind über den Block geflogen; sie hat geschrieben, während ihre Augen dem Geschehen folgten. Anscheinend hält Meike Ulferts genau fest, wer was sagt. Und während die Oberkommissarin sich erhebt, überlegt sie, ob es klug ist, jetzt mit dem Bürgermeister zu sprechen. Dann sagt sie sich: ja, jetzt. Genau jetzt. Der Mann ist vorgewärmt. Das verspricht interessante Ergebnisse.

Sie geht ihm nach. Bachmann ist in sein Büro verschwunden. Frau Vossen meldet Mieke telefonisch an. Bachmann öffnet selbst, er lächelt sonnig. Dann fällt ein Schatten auf sein Gesicht, es wirkt wie gut einstudiert. Ah ja, die Ermittlungen in diesem entsetzlichen Mordfall. Wie schrecklich, wie fürchterlich ist das doch alles. Er bittet Mieke hinein und schließt die Tür. »Bitte setzen Sie sich. Tee oder Kaffee?«

Mieke entscheidet sich für Tee.

»Auch ein Glas Wasser?«

»Ja. Gern.«

Bachmann schenkt selbst ein, den frischen Tee ordert er bei Frau Vossen. Mieke zückt einen Schreibblock. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich mir Notizen mache?«

Der Bürgermeister lächelt kühl, er ist jetzt wieder beherrscht. »Wird das ein Gespräch oder eine Vernehmung?« Bachmanns Juristenhirn beginnt zu arbeiten.

Mieke lächelt nicht, sie bleibt sachlich. »Wir ermitteln die Umstände. Sie kannten den Toten?«

Bachmann nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz. Er selbst trinkt bereits Tee und füllt seine Tasse nach, für die Antwort nimmt er sich Zeit. Mit plötzlicher Schärfe in der Stimme sagt er: »Kommen Sie, Frau Janßen, spielen wir nicht Versteck miteinander. Sie wissen, dass ich mit Albert Ukena befreundet war.«

Die Oberkommissarin nickt knapp, sie lächelt noch immer nicht. Mit der Witwe von Albert Ukena hat sie schon gesprochen. Viel hat dieses Gespräch nicht erbracht. Ulrike Ukena war noch immer traumatisiert, konnte kaum Auskunft geben.

»Wir müssen die Kontakte Ihres Mannes ausleuchten. Mit wem hatte er Umgang?«, hat Mieke sie gefragt.

Ulrike antwortete, ohne nachzudenken. Die Namen der Freunde nannte sie mit der Stimme eines Automaten. Mieke Janßen notierte sie auf ihrem Block.

»Welcher Art war diese Freundschaft?«

Die Witwe hat mit leeren Augen dagesessen. Die Männer hätten sich regelmäßig in diesem Auricher Café in der Innenstadt getroffen. Ansonsten sei man gelegentlich zusammengekommen, manchmal auch mit den Ehefrauen. Grüße und Wünsche zu Familienfeiern, Taufen oder Geburtstage, derlei.

Einem Instinkt folgend, hat die Oberkommissarin gefragt: »Gab es auch geschäftliche Kontakte?«

Das konnte Frau Ukena nur sehr oberflächlich beantworten. Hin und wieder. Vielleicht. Wenn zum Beispiel ein Landwirt wie Harm Bendichs eine neue Scheune gebraucht habe, wird er sich zunächst an Justus Nowack gewendet haben, den Bauunternehmer. Tjarko Joosten mit seiner eigenen Kanzlei als Wirtschaftsprüfer mache für ihren Mann die Steuer. Schließlich seien die beiden befreundet. »Waren«, hat Frau Ukena dann schluchzend hinzugesetzt, ehe sie erneut verstummt ist. Immer wieder hat sie den Kopf geschüttelt. Warum? Wer tut so etwas? Oft saß sie einfach da, tief in Gedanken versunken, man mochte dann fast glauben, dass sie nicht antworten wollte. Aber wenig später hat sie hochgezuckt, sich in einen wahren Rausch geredet. Die Frau war völlig aus der Spur, vielleicht brauchte sie sogar ärztliche Hilfe.

Daran denkt Mieke jetzt, während der Bürgermeister sie verärgert mustert. »Ja, ich weiß, dass Sie befreundet waren. Bitte stören Sie sich nicht an einzelnen Worten oder Formulierungen. Polizeiroutine. Seit wann waren Sie Freunde? Und wie haben Sie sich kennengelernt?«

Bachmann sinkt in seinen ledernen Schreibtischsessel, er hat sich wieder im Griff. Befreundet sei man seit uralten Zeiten. Man sei sich auf dem Großen Meer beim Segeln begegnet, der junge Kommunalpolitiker und der ebenso junge Kaufmann, und habe auf Anhieb Sympathie füreinander empfunden. Auch die Frauen hätten sich gut verstanden.

»Hatte Herr Ukena Feinde?«

»Feinde?« Bachmanns Augenbrauen springen hoch, er zieht das Wort in die Länge. »Albert Ukena war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Als solcher tritt man gelegentlich auch auf fremde Füße, man macht sich nicht zwingend überall Freunde. Man hat bestimmt auch Neider. Vielleicht sogar viele. Aber Feinde? Feinde, die zu Mördern werden können? Nein. Albert Ukena hatte keine Feinde. Zumindest weiß ich von keinen.«

Es klopft. Die Vorzimmerdame bringt den frischen Tee. Sie stellt ihn auf dem Schreibtisch ab. Bachmann dankt, Frau Vossen nickt stumm und verschwindet. Der Bürgermeister erhebt sich federnd. Er bedient Mieke, danach sich selbst. Sie beobachtet ihn. Seine Hände sind ruhig, Bachmann wirkt sehr selbstsicher.

»Haben Sie eine Erklärung für die Tat?«, fragt Mieke.

Die Hände des Bürgermeisters kommen einen kurzen Augenblick zur Ruhe. War da ein Zucken? Eine Erschütterung? Vielleicht doch nicht. Sie blickt auf. Der Mann ist vollkommen gefasst.

Mit gemessenem Schritt geht Bachmann zurück zu seinem Stuhl. »Ich bitte Sie, Frau Janßen. Kann man für einen derart bestialischen Mord eine Erklärung haben?«

Mieke trinkt, dann beugt sie sich vor. »Immerhin muss es ja ein Motiv geben. Niemand sticht ohne Grund einen Menschen nieder und schneidet ihm anschließend die Augen aus dem Kopf.«

»Ja. Eben. Da haben wir’s doch!« Der Bürgermeister wird lebhaft. »Für eine solche Tat gibt es keinen vernünftigen Grund. Ein Irrer ist das, ein Psychopath.«

Mieke geht der Bericht der Gerichtsmedizin durch den Kopf. Der war dürr und emotionslos. Tiefer Stich unter das Brustbein direkt ins Herz. Zielgerichtet angesetzt, unmittelbar tödlich. Stoß führt durch den Herzbeutel, teilt die Pulmonalklappe und tritt an der Aorta wieder aus. Klinge schmal und lang, stilettartig. Mit großer Kraft geführt. Auch das Ausstechen der Augen wird trocken beschrieben. Postmortal geführte Sichelschnitte durch Lederhaut und Aderhaut. Wundränder lassen Nutzung derselben Klinge vermuten. Öffnung der Glaskörper, dadurch Ausspülung der Linsen.

Da spricht Bachmann wieder. Seine Stimme ist jetzt voller Wohlwollen. Glatt, fast gönnerhaft kommen ihm die Worte über die Lippen: »Ich kann Ihnen für Ihre Arbeit nur Glück wünschen, Frau Janßen. Wenn ich mir vorstelle, dass da draußen ein durchgeknallter Mörder frei herumläuft, wird mir ganz flau. Nicht nur als Bürgermeister dieser Stadt. Auch als Vater und Ehemann. Also finden Sie den Täter, decken Sie die Hintergründe auf. Möglichst rasch.« Bachmann erhebt sich, für ihn ist das Gespräch zu Ende.

Mieke bleibt sitzen. »Diese Kontroverse soeben im Rat. Ich fand das sehr interessant.«

Der Bürgermeister erstarrt. Seine Stimme wird frostig. »So? Aha!«, sagt Bachmann schroff, es klingt fast wie ein Fauchen. Er setzt sich wieder. Dann wird ihm bewusst, dass er im Begriff ist, aus der Rolle zu fallen. »Bitte entschuldigen Sie, das ist noch der Ärger über diesen Auftritt eben, Sie haben ihn ja erlebt. Ich arbeite ganz gewiss nur zum Wohle dieser Stadt. Aber Undank ist der Welt Lohn. Und wie man es macht, ist es falsch.«

Darauf geht die Kriminaloberkommissarin nicht ein. »Heißes Eisen, dieses Thema«, stellt sie nüchtern fest.

»Dieses Thema?«

»Der Verkauf des ehemaligen Kasernengeländes«, hilft Mieke Janßen nach. Die städtischen Diskussionen hierzu hat sie nur am Rande verfolgt, sie waren langatmig und ermüdend, auch in ihrer Emotionalität, die Sache interessierte sie nicht besonders.

Bachmann hat die Beherrschung wiedergefunden, aber seine Freundlichkeit ist wie fortgeblasen. »Das alles ist Stadtgeschichte, glauben Sie mir. Vielleicht kein sehr glorreiches Kapitel, aber es ist vorbei. Ich verstehe Ihr Interesse daran als rein privat. Wie denn auch anders? Für interessierte Bürger empfehle ich die Teilnahme an Sitzungen, die in der Regel öffentlich sind. Ob sie auch korrekt informieren, sei dahingestellt. Sie selbst haben ja heute ein Gegenbeispiel erlebt.«

Bachmann erhebt sich wieder und Mieke steckt ihren Notizblock ein. Sie hat keine Zeile darauf geschrieben.

Der Bürgermeister sieht sie unten das Rathaus verlassen. Er sieht auch, dass sie neben seinem neuen Benz ihren Schritt verlangsamt und das Fahrzeug aufmerksam betrachtet. Er wundert sich nicht darüber. Ist ja auch wirklich beeindruckend. Ein Hingucker. Doch plötzlich beschleicht ihn das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Hätte er auf die Frage zur ehemaligen Kaserne anders antworten sollen? Gelassener? Habe ich damit unnötig Argwohn erregt? Er schüttelt den Kopf. Ach was! Eben genau nicht. Forsches Auftreten macht nicht selten Eindruck. Man muss sich auch nicht alles bieten lassen.

In der Polizeiinspektion stürzt sich Mieke auf die Arbeit. Über das Gespräch mit Bachmann fertigt sie ein Gedächtnisprotokoll an. Auch den Tumult im Finanzausschuss hält sie mit ein paar Sätzen fest. Das Stichwort »Verkauf Kasernengelände« versieht sie mit drei Ausrufungszeichen. Dann vertieft sie sich in die bisher vorliegenden Papiere. Noch einmal liest sie die Aussage des Zeugen Schmalfuß und studiert den Bericht der Gerichtsmedizin aus Oldenburg. Und immer wieder geht ihr das Gespräch mit dem Bürgermeister durch den Kopf. Der Mann ist ihr zu glatt. Irgendetwas ist da, etwas stimmt da nicht. Aber dann zwingt sie ihre Gedanken auf den Mordfall Ukena. An den Psychopathen kann sie nicht glauben. Obwohl vieles dafürspricht, dass der Mörder pervers ist, muss das einen nüchternen, kalkulierten Hintergrund nicht ausschließen. Vielleicht sind diese widerliche Augengeschichte und das Tape um den Kopf ja auch nur Ablenkung zur Verschleierung von Spuren. Man soll glauben, der Täter habe nicht alle Tassen im Schrank. Ein Verrückter, der Freude daran hat, an seinem Opfer herumzuschnippeln.

Banafsheh Schariatmadari und Frerich Frerichs kommen untergehakt in Miekes Büro, sie lachen, die beiden Oberkommissare haben gute Laune. Es ist schon spät, aber die Kollegen wirken putzmunter.

»Lasst mich mitlachen«, schmunzelt Mieke. »Ich vermute einen guten Witz?«

Frerich schüttelt grinsend den Kopf. »Fatalismus! Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, deshalb tue ich nichts. Bei Banafsheh ist es ganz anders. Sie tut nichts, weil sie nicht weiß, wo sie anfangen soll.«

Die beiden setzen sich. Frerich hat unter anderem eine Brandstiftung am Hals, Banafsheh ermittelt in einer Sache, die sehr nach Schutzgelderpressung riecht. Das muss jetzt alles warten, aber nicht zu lange. Eigentlich gar nicht, es soll ja auch damit irgendwie weitergehen. »Wie läuft es bei euch?«, fragt Mieke, nicht nur der Form halber.

»Ich lerne gerade viel über die organisierte Kriminalität in Ostfriesland«, sagt Banafsheh trocken.

»Mein mutmaßlicher Brandstifter ist auch organisiert. Aber nicht besonders gut«, ergänzt Frerichs mit schrägem Grinsen. Kriminalistenalltag.

»Mit anderen Worten, euch ist langweilig«, stellt Mieke trocken fest. »So wie mir. Und wer von euch möchte jetzt mit Jonte tauschen?«

Frerichs fährt hoch, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. »Was denn, Urlaub machen? Pfui Spinne! Da müsste ich ja … was denn gleich?«

Auch die Frau Oberkommissarin schüttelt sich. »Igitt­igitt!«

Wie aus dem Erdboden gewachsen steht plötzlich der Chef in der Tür. Oberrat Rüster schnüffelt wie ein suchender Hund, dann geht er an den Wasserkocher, der im Büro eigentlich verboten ist, und macht sich eine Boullion. Wirft zwei Euro in das ebenfalls verbotene Sparschwein. Hockt sich hin, hört zu. Sofort riecht es nach Frittenbude. Frerich glotzt und zieht die Nase kraus, aber er sagt keinen Ton dazu. Zuerst reden die drei Oberkommissare über den Fall Ukena allgemein, Mieke fasst zusammen, was sie jetzt wissen. Oder zu wissen glauben. Die bisherigen Ergebnisse werden beleuchtet. Viel gibt es noch nicht, die Ermittlungen stehen erst am Anfang. Dass der Ermordete in ein gediegenes soziales Umfeld eingebettet war, ist keine Überraschung. Dazu gehören Honoratioren der Stadt, Unternehmer und alter Geldadel, auch der Bürgermeister ist Teil dieses Kreises. Klar ist im Übrigen, dass alle befragt werden müssen. Die drei sind sich einig: Wenn es einen Faden gibt, der zum Mörder und zu Hintergründen führt, dann ist er hier am ehesten zu fassen. Der Chef hebt kurz den Blick, als Mieke über das Gespräch mit Bürgermeister Bachmann berichtet. Den Tumult im Rat streift sie mit zwei Sätzen. »Da sind die Fetzen geflogen. Es hörte sich so an, als sei bei diesem Deal nicht alles korrekt verlaufen.«

Oberrat Rüster schüttelt leicht den Kopf.

»Wie dem auch sei. Hat ja nichts mit unserem Fall zu tun«, befindet Mieke.

Gemeinsam legen sie das Programm für die nächsten Tage fest. Presse und regionales TV sollen in die Suche nach Zeugen eingebunden werden. Auch den von Schmalfuß beobachteten Reiter will man ermitteln. Darum werden sich Banafsheh und Frerich kümmern. Mieke Janßen wird Freunde und Bekannte des Toten durchleuchten. Dazu sollen morgen die ersten Telefonate geführt werden. Die beiden Oberkommissare zockeln schließlich ab, Frerich bedient sich vorher mit der ganzen Hand aus dem Bonbonglas, das Mieke auf ihrem Schreibtisch stehen hat. Der Chef bleibt hocken, er hat seine Boullion erst zur Hälfte getrunken.

»Sie waren bei Bachmann?«, fragt er ruhig.

Mieke nickt. Der Bürgermeister gehört zu Ukenas Freundeskreis, seine Befragung muss sie nicht begründen.

»Und?«, hakt der Chef nach.

Mieke sieht ihn an. »Ich bin noch nicht fertig mit ihm«, sagt sie. »Im weiteren Verlauf der Ermittlungen …«

Da hebt der Oberrat die Hand. »Ist in Ordnung. Bleiben Sie am Ball. Keine Rücksichten. Ich sagte es ja schon: Wir ermitteln genau so, als wäre ein Schrauber vom flachen Land betroffen.«

Als Rüster geht, lässt er seine benutzte Boulliontasse stehen. Das ist gegen die Regel, aber Mieke protestiert nicht. Sie wundert sich. Es ist doch völlig klar, dass ohne Ansehen der beteiligten Personen gearbeitet wird. Auch Bürgermeister oder sogar Landräte werden vernommen, wenn nötig auch scharf vorgeführt. Warum betont der Chef das ständig?

Abends redet Mieke sich die Last des Tages von der Seele, aber ihr Mann hört nur mit einem Ohr zu. Jörg Janßen leitet eine Abteilung in der Ostfriesischen Creditbank Aurichs. Irgendwann kommt sie auch auf das neue Auto des Bürgermeisters zu sprechen. »So ein Schlitten«, sagt sie. »Daimler. S-Klasse, glaube ich. Muss ein Schweinegeld gekostet haben.«

Aber Jörg ist träge, maulfaul murmelt er irgendwelche Antworten.

Plötzlich fragt sie ihn: »Sag mal, was verdient eigentlich so ein Bürgermeister?«

Jörg gähnt herzhaft, ehe er sich äußert. »Keine Ahnung. Landesbesoldungsgruppe. Das hängt ja wohl auch von der Größe der Kommune ab. Ich denke mal, so um die 5.000 im Monat.«

Mieke staunt. »Nanu! Und davon kann er sich einen solchen Wagen leisten?«

Jetzt sieht Jörg auf. »Ach, du redest von Bachmann. Der hat doch eine reiche Frau geheiratet.«

Sie beugt sich lächelnd zu ihm hinüber und küsst ihn auf die Nase. »So wie du!«

Jörg grinst knapp, sagt aber darauf nichts, er vertieft sich wieder in seine Zeitung. Mieke ist auch müde. In dieser Nacht träumt sie wirres Zeug. Bachmann verfolgt sie mit seinem Mercedes. Er hat ein langes, blutiges Messer in der Hand. Während er sie jagt, singt er ein seltsames Lied, das Mieke noch nie gehört hat.

Ostfriesisches Komplott

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